Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur sieht in Iran eine Abkehr vom Gottesstaat. Die Menschen fordern ihr Recht auf Selbstbestimmung – auch durch Proteste. Das sei ein langer Prozess.
Hinweis
Mit der interdisziplinären Ringvorlesung "Frauen, Leben, Freiheit – emanzipatorische Potentiale" bot die Universität zu Köln von April bis Juli 2023 verschiedene Veranstaltungen an. Anlass waren die Proteste nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini im September 2022 im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei. Bei den Vorlesungen und Diskussionsrunden ging es um die aktuelle Situation der Menschen in Iran sowie den Blick zurück in der Geschichte. Die Ringvorlesung wurde konzipiert von Katajun Amirpur, Professorin am Institut für Sprachen und Kulturen der islamisch geprägten Welt. Das Interview entstand begleitend zur Ringvorlesung.
bpb.de: „Iran ohne Islam“: So heißt Ihr aktuelles Buch. Darin beschreiben Sie, wie Irans Bevölkerung nach über 40 Jahren Islamischer Republik genug hat von der Religion. Woran machen Sie das fest?
Katajun Amirpur: Man kann seit vielen, vielen Jahren sehen, dass das Regime dieser Islamischen Republik nicht nur der Treiber für Säkularisierung war, sondern der Treiber für eine Abkehr insgesamt vom Islam.
Umfragen der letzten Jahre – vom Staat selbst in Auftrag gegeben – zeigen, dass sich die Menschen in Iran immer stärker von der Religion an sich abwenden. Außerdem gab es vor drei Jahren eine Umfrage von einem niederländischen Institut, die für mich der Anlass war, dieses Buch zu schreiben. Gemäß dieser Umfrage sagen nur noch 30 Prozent der Iraner und Iranerinnen, dass sie sich überhaupt für gläubige Muslime halten. Um die acht Prozent sagten, sie seien Zoroastrier.
bpb.de: Was sind Zoroastrier?
Katajun Amirpur: Zoroastrismus ist die Religion, die in Iran vor der Islamisierung praktiziert wurde, die ja ab dem siebten Jahrhundert stattfand und erst viele Jahrzehnte später dann vollzogen war. Das neue Bekenntnis der Iraner und Iranerinnen zum Zoroastrismus ist dabei meiner Ansicht nach weniger eine religiöse, sondern eher eine politische Aussage. Es ist sicher nicht so, dass die Menschen in Scharen zum Zoroastrismus übertreten würden, aber sie sagen: Das ist doch das ureigene Iranische; das gehört wirklich zu uns, der Islam wurde uns von den Invasoren übergestülpt. Und tatsächlich hat der Zoroastrismus in all den Jahrhunderten immer einen großen Sitz im Leben gehabt – wie Religionswissenschaftler das formulieren würden: Das wichtigste iranische Fest, das Neujahrsfest, das am 20./21. März begangen wird, zur Tag-und-Nacht-Gleiche, ist ein zoroastrisches Fest. Es ist heidnisch, hat nichts mit dem Islam zu tun. Aber jeder Iraner, egal welcher Herkunft, welchen Glaubens, feiert es; für Iraner ist es deutlich wichtiger als das Fest des Fastenbrechens.
Der Islam wird auch zunehmend abgelehnt, weil man heute in Iran die Religion mit allem Unrecht assoziiert, das man erleiden muss – und das ist auch naheliegend. Wenn mir als Frau gesagt wird, du wirst ausgepeitscht, weil eine Haarlocke aus dem Kopftuch gerutscht ist; du kannst dich nicht scheiden lassen, du darfst das und das alles nicht, weil der Islam das so sagt, dann ist doch die Reaktion naheliegend, sich vom Islam abzuwenden.
Und diese Entwicklung konnte man in den letzten Jahrzehnten in der breiten Bevölkerung sukzessive beobachten. Die Menschen assoziieren mit dem Islam das Regime, die Unterdrückung, die Unfreiheit sowie Korruption und sagen: Wenn das Islam ist, dann lieber kein Islam.
bpb.de: Dieses Übel und der Protest dagegen, wurde erneut sehr deutlich im Herbst/Winter 2022. Am 16. September starb Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Zuvor hatte die Sittenpolizei sie verhaftet, weil ihr Kopftuch locker saß. Danach gab es eine Welle des Protests. Dabei kam es immer wieder auch zu Szenen, in denen Frauen ihre Kopftücher verbrannten. Warum ist das Kopftuch so zentral?
Katajun Amirpur: Das Kopftuch ist das Symbol für die Verweigerung des Rechts auf Selbstbestimmung – darum geht es letztlich. Es geht nicht „nur“ darum, dass die Frauen sagen: Wir wollen kein Kopftuch mehr. Es ist kein Kopftuch-Protest. Das war in den letzten Monaten häufig in den deutschen Medien zu lesen. Aber das wird der Sache wirklich nicht gerecht. Das Kopftuch steht dafür, dass allen Teilen dieser Bevölkerung auf unterschiedlichste Art und Weise ihr Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird.
In Iran herrscht Gender-Apartheid. Frauen sind Staatsbürger zweiter Klasse. Bei den Protesten geht es um ihre rechtliche Diskriminierung insgesamt. Fehlende Selbstbestimmung gibt es aber auch beim Thema Muttersprache: Interner Link: 50 Prozent der iranischen Bevölkerung hat nicht Persisch als Muttersprache, sondern Azeri, Turkmenisch, Kurdisch, Arabisch und weitere Sprachen. Ihnen wird nicht erlaubt, ihre Muttersprache in der Schule zu lernen. Sie alle sind leidenschaftliche Sprecher und Sprecherinnen des Persischen, wollen aber dennoch das Recht, die eigene Muttersprache in der Schule zu lernen.
Das Recht auf Selbstbestimmung wird auch den konfessionellen und religiösen Minderheiten verweigert. Allen voran den Sunniten, die eine sehr große islamische Konfession darstellen in Iran. Das wird schlichtweg geleugnet. Offiziellen Angaben zufolge sind es zwei Prozent, deutlich realistischer sind 20. Fast besser als ihnen geht es den Christen, den Juden oder den Zoroastrier. Die haben überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung Vertreter im Parlament. Hinzu kommen die Bahai, die größte religiöse Minderheit im Iran, die nicht einmal als solche anerkannt wird. Und den allergrößten Benachteiligungen ausgesetzt ist. Selbstbestimmt zu leben wird den Menschen auch in sexueller Hinsicht verweigert, sie dürfen ihre sexuelle Orientierung nicht ausleben.
Und so können sie das eigentlich durchbuchstabieren, sodass wahrscheinlich außer einem heterosexuellen, schiitischen Mann, der aus der Mittelschicht stammt und Persisch als Muttersprache spricht, niemand volle Rechte hat in Iran. Und auch der nur, wenn er sich nicht politisch-oppositionell äußert.
bpb.de: Sie haben es angesprochen: Iran ist ein vielfältiges Land mit unterschiedlichen Sprachen, Ethnien, Religionen und Konfessionen innerhalb des Islams. Protestiert wurde zuletzt überall im Land. Vor allem in Kurdistan sowie Sistan und Belutschistan, sunnitisch geprägten Provinzen. Wie sehr geht es zum Beispiel in Sistan-Belutschistan um das Recht auf Selbstbestimmung?
Katajun Amirpur: Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“ spielt dort keine so große Rolle. Es geht vor allem um die Unterdrückung als sunnitische Minderheit, die die Menschen erleben. Hinzu kommt: Es ist eine wahnsinnig arme Region. Es geht auch um eine enorme wirtschaftliche Benachteiligung, die Sistan-Belutschistan in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt hat.
Dennoch: Es haben sich viele Menschen in unterschiedlichen Landesteilen solidarisiert. Einer der wichtigsten Slogans, der bei Protesten immer wieder gerufen wurde, war: Von Zahedan bis Kurdistan – mein Herz gehört Iran. Dieser Slogan betont die Einheit der Menschen und die Einheit dieser Protestbewegung.
Es gibt also durchaus eine Art Gesamtprotest. Zugleich gibt es verschiedenste Gründe und unterschiedlichste Motive wegen denen die Menschen auf die Straße gehen. Das gilt für Sistan-Belutschistan nochmal ganz besonders.
bpb.de: Wenn die Motive teils doch sehr unterschiedlich sind, ist es dann möglich, anhaltend den Protest gegen das Regime aufrecht zu erhalten?
Katajun Amirpur: Der Protest begann nicht erst im September 2022, sondern ist seit vielen Jahren und Jahrzehnten da. Ich würde das als einen Interner Link: revolutionären Prozess beschreiben. Manche sagen, der Anfang war 1999, als zum ersten Mal die Studierenden massiv protestierten. Andere finden, dass es 2009 los ging, weil da zum ersten Mal Millionen von Menschen demonstrierten. Wiederum andere sehen den Anfang 2017/18, als zum ersten Mal die soziale Klientel der Islamischen Revolution, nämlich die Arbeiter, auf die Straße gingen.
An diesen verschiedenen Eruptionen sieht man vor allem, dass es ein langanhaltender Prozess war und ist – und dieser Prozess hält an. Es gibt heißere Phasen und dann wieder abklingende Phasen, was natürlich vor allem daran liegt, dass das Regime so massiv gegen die Proteste vorgeht. Letztes Jahr wurde mit Gummigeschossen auf die Augen von Demonstrierenden geschossen; es wurden Scharfschützen eingesetzt; in Sistan-Belutschistan sowie in Kurdistan rollten Panzer gegen die Protestierenden; Mädchen wurden an Mädchenschulen systematisch vergast; Demonstranten hingerichtet. Das sind alles unglaublich schockierende Maßnahmen, die das Regime ergriffen hat. Es ist also kein Wunder, dass solche Proteste auch wieder abnehmen.
Zugleich gilt der Tod von Jina Mahsa Amini in der Bevölkerung nicht als singulärer Fall. Alle wissen, das hätte meiner Mutter, meiner Tante, meiner Schwester, meiner Kusine genauso passieren können. Das heißt, die Proteste können sich jederzeit wieder entzünden. Es ist so viel Unzufriedenheit und Frust gegenüber diesem Regime da; das lässt sich nicht unterm Deckel halten. Das Regime hat komplett ausgedient.
Außerdem haben die Menschen eine konkrete Vorstellung davon, was ein Rechtsstaat ist und was ein demokratischer Staat ist und was es dafür braucht. Auf keinen Fall wollen sie nochmal vom Regen in die Traufe kommen. Das macht mich längerfristig doch optimistisch. Kurzfristig nicht unbedingt, weil dazu die Interner Link: Revolutionsgarden zu stark sind: Sie sind militärisch bestens gerüstet und sie sind eine wirtschaftliche Macht. Als solche alimentieren sie viele Menschen in Iran, die an ihrer Seite stehen.
bpb.de: In Iran gibt es verschiedene Machtzentren. Sie haben die Revolutionsgarden erwähnt. Wer hinter den Vergiftungen an den Mädchenschulen steckt, scheint unklar. Kann es passieren, dass einzelne fanatische Gruppen außer Kontrolle geraten – und mit noch viel mehr Gewalt zu rechnen ist?
Katajun Amirpur: Die Vergasungen an den Mädchenschulen sind vermutlich nicht auf direkte Anordnung durch Präsident Ebrahim Raisi erfolgt. Andererseits kann mir niemand erzählen, dass in einem Überwachungsstaat wie Iran, wo ich als Frau, die ohne Kopftuch im Auto sitzt, sofort eine SMS bekomme und aufgefordert werde, ein Kopftuch anzuziehen, dass in so einem Staat in tausenden von Mädchenschulen systematisch Gas eingeleitet wird und keiner weiß, wer das war. Das muss mit Deckung von oben erfolgt sein.
Trotzdem: Dass sich jetzt radikalere Kräfte freisetzen, kann passieren. Zugleich hören wir aber auch von ersten Stimmen aus den Revolutionsgarden, die sagen: Wir können so nicht weitermachen. Und auch im „Fußvolk“ – die, die gegen die Demonstranten eingesetzt werden –, weigern sich immer mehr Leute mitzumachen.
Aber es ist wirklich sehr, sehr schwer zu sagen, wie dieser revolutionäre Prozess weitergehen kann.
bpb.de: Lässt sich abschätzen, was Mitte September in Iran zu erwarten ist?
Katajun Amirpur: Das Problem mit solchen Interner Link: Jahrestagen ist ja, dass auch das Regime sie kennt – und entsprechend extrem gut präpariert ist. Bislang hat es an solchen Tagen vorab das Internet abgeschaltet, Kommunikationswege blockiert und war mit massiver Präsenz auf den Straßen unterwegs. Es kann also durchaus sein, dass wir so gut wie gar nichts hören werden aus Iran.
bpb.de: Das heißt aber auch, selbst wenn es keine Proteste gibt, darf man die Protestbewegung nicht abschreiben.
Katajun Amirpur: Nein, das sollten wir nicht tun. Wie gesagt, das ist ein langer Prozess.
Katajun Amirpur ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln, am Institut für Sprachen und Kulturen der islamisch geprägten Welt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen der schiitische Islam, iranische Intellektuellengeschichte, Islam und Gender sowie Reformdiskurse im Islam. Zuletzt erschien ihr Buch "Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat" (2023) im Verlag C.H. Beck.
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