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Der revolutionäre Prozess in Iran | Iran | bpb.de

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Der revolutionäre Prozess in Iran

Ali Fathollah-Nejad

/ 20 Minuten zu lesen

Die landesweiten Proteste gegen die Islamische Republik sind revolutionär und stellen eine nie dagewesene Gefahr für das Überleben des Regimes in Teheran dar, meint der Politologe Ali Fathollah-Nejad.

Iranische Frauen protestieren am 7. November 2022 in Marivan (Provinz Kurdistan) gegen das Regime der Islamischen Republik. (© picture-alliance, SalamPix/ABACA)

Die politische, sozio-ökonomische und ökologische Dreifach-Krise der Islamischen Republik – gepaart mit ihrer Unreformierbarkeit – hat einen revolutionären Prozess ins Rollen gebracht. Angestoßen wurde dieser durch die Proteste zum Jahreswechsel 2017/18 (die sog. Interner Link: Dey-Proteste) und ihre faktische Fortsetzung im November 2019 (die sog. Âbân-Proteste). Denn schon die Dey-Proteste können als Beginn eines langfristigen revolutionären Prozesses gesehen werden. Zum ersten Mal gingen bei beiden landesweiten Aufständen die Unterschichten, die gemeinhin als soziale Basis des Regimes oder zumindest ihm gegenüber als loyal eingestuft wurden, massenhaft auf die Straße und skandierten revolutionäre Slogans.

"Frau, Leben, Freiheit": Der Tod von Mahsa Amini und der revolutionäre Aufstand von 2022


Der Interner Link: Tod der 22-jährigen kurdischen Iranerin Mahsa "Jina" Amini am 16. September 2022 in Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei (Gasht-e Ershâd) Teherans hat den aktuellen Aufstand gegen das Regime ausgelöst. Die Proteste, die es in dieser Form seit Gründung der islamischen Republik vor über vier Jahrzehnten nicht gegeben hat, haben schnell alle Teile des Landes erreicht und eine politische Dimension angenommen, die weit über die "Kopftuch-Frage" und die Überlappung von geschlechtsspezifischer und ethnischer Diskriminierung hinausgeht. Ihr progressiver Kernslogan lautet "Zan, Zendegi, Âzâdi" ("Frau, Leben, Freiheit") und ist gepaart mit der Forderung nach einem Regimewechsel. Diesen Regimewechsel fordern auch prominente Stimmen wie die inhaftierte iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, Trägerin des Sacharow-Preises für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments.

Zu den Formen und Merkmalen dieses Aufstands gehören (a) dezentrale Proteste, also das gleichzeitige Stattfinden mehrerer Demonstrationen in verschiedenen Teilen derselben Stadt, und (b) ziviler Ungehorsam (vor allem durch Frauen, die ihr Kopftuch ablegen, in vielen Fällen unter Beifall der Männer) und Flashmobs in Gebieten mit geringer Präsenz von Sicherheitskräften. Was (c) die Frage der Organisation und Führung anbetrifft, so wird in europäischen Debatten oft bemängelt, dass diese den Protesten fehlten und sie deshalb früher oder später zum Scheitern verurteilt seien.

Angesichts der iranischen Erfahrungen und der Situation vor Ort bedarf dies jedoch einiger Klarstellungen: Es gibt innerhalb der Protestbewegung in der Tat keine einzelne nationale Figur, die eine charismatische Führungsrolle oder Autorität à la Ayatollah Khomeini bei der Revolution von 1979 übernimmt. Doch gerade angesichts der historischen Erfahrung der Islamischen Revolution, die sich für die iranische Gesellschaft zu einem Trauma entwickelte, da Khomeini – trotz gegenteiliger Versprechungen – die Macht an sich riss und eine noch forciertere Diktatur errichtete, gibt es eine weitverbreitete Skepsis unter IranerInnen, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber Führungsfiguren. Stattdessen zieht man es vor, dass sich AnführerInnen im Laufe des Widerstands gegen das Regime herauskristallisieren.

Außerdem gibt es keine Organisation mit bekannten Gesichtern, zumal das Regime diese leicht ausschalten und damit das Fortbestehen der Protestbewegung akut gefährden könnte – wie es beispielsweise bei den FührerInnen der Grünen Bewegung von 2009 geschah, die unter Hausarrest gestellt wurden. Die Langlebigkeit der aktuellen Protestwelle deutet zudem darauf hin, dass es an der Basis eine gewisse Koordination und Organisation gibt. Dazu gehören vor allem im Untergrund agierende, nachbarschaftlich organisierte Jugendallianzen, die zuerst in Teheran entstanden sind, und zu Protesten und Streiks aufriefen.

Anfang Dezember 2022 schlossen sich 30 von ihnen zu einer Dachorganisation zusammen, die sich Neighbourhood Youth Alliance of Iran (Ettehâd-e Javânân-e Mahallât-e Irân) oder United Youth of Iran (UYI) nennt. In ihrer ersten gemeinsamen Erklärung riefen sie zu einer dreitägigen Aktion auf, bei der es vom 5. bis 7. Dezember 2022 zu erheblichen Streiks in den wichtigen Basaren und Industrien des Landes kam – ein qualitativer Schritt nach vorn im Rahmen des revolutionären Prozesses. Darüber hinaus darf angenommen werden, dass auch andere Netzwerke solche koordinierenden und organisierenden Aufgaben übernehmen – wahrscheinlich Räte und Komitees von verschiedenen Berufsgruppen, die bereits in den vergangenen Jahren für ihre Belange auf die Straßen gegangen waren. Allein in den Jahren 2021 und 2022 gab es jeweils circa 4.000 Proteste im Land.

Insgesamt haben diese Aktionen zu einer beträchtlichen Erschöpfung der Sicherheitskräfte geführt, die dadurch nicht mehr in der Lage waren, "alle Feuer zu ersticken, die im Land wüten." Die vorläufige Bilanz viereinhalb Monate nach Beginn des revolutionären Aufstandes umfasst Proteste in 164 Städten (deutlich mehr als während der Dey- und Âbân-Proteste) und an 144 Universitäten, während die Zahl der Todesopfer auf 525 (darunter 71 Kinder) geschätzt wird, gegenwärtig fast 20.000 DemonstrantInnen inhaftiert sind und 68 Regimekräfte getötet wurden. Das Regime geht brutal gegen inhaftierte DemonstrantInnen vor. Es wird über physische wie psychische Folter und Vergewaltigung durch die Sicherheitskräfte in iranischen Gefängnissen berichtet.

Das politische System Irans

Iran hat gut 84 Millionen Einwohner und wird seit 1979 als Islamische Republik regiert. Etwa 90 Prozent der Einwohner Irans sind schiitische Muslime, ungefähr 10 Prozent sind sunnitsche. Das politische System des Landes beinhaltet formal sowohl republikanisch-demokratische als auch theokratisch-autoritäre Elemente.

Die Macht des Parlaments und der Regierung sind eng begrenzt. An der Spitze des iranischen Staats steht gemäß der Verfassung der oberste Religionsführer, auch "Revolutionsführer", Rahbar genannt – auf ihn konzentriert sich eine erhebliche Machtfülle. Seit 1989 ist Ajatollah Ali Chamenei „Rahbar“ und damit auch oberster Rechtsgelehrter. Der "Rahbar" kontrolliert die Streitkräfte sowie das Justizsystem, auch ist er die entscheidende Instanz beim Festsetzen der Leitlinien der Innen- und Außenpolitik.

Der Klerus kontrolliert auch die in Iran als eine Art Staat im Staate besonders mächtigen paramilitärischen Milizen. Einflussreich sind etwa die Revolutionsgarden, die Pasdaran, eine der geistlichen Führung verpflichtete Elitegarde. Manche Milizen wie die Bassidsch fielen in der Vergangenheit durch ihr äußerst brutales Vorgehen gegen Oppositionelle oder Protestierende auf. Ein Expertenrat hat die Aufgabe, die Arbeit des obersten Religionsführers zu kontrollieren. Dessen Mitglieder werden zwar formell vom Volk gewählt. Ein Wächterrat bestimmt jedoch, wer kandidieren darf.

Der Wächterrat untersteht wiederum direkt dem Rahbar – die sechs geistlichen Mitglieder bestimmt er selbst. Bei der anderen – aus Juristen bestehenden – vom Parlament gewählten Hälfte hat das von ihm kontrollierte Oberhaupt des Justizsystems das Vorschlagsrecht. Eine wirksame rechtsstaatliche Kontrolle des obersten Geistlichen besteht deshalb nicht.

Proteste mit breiter sozialer Basis


Die aktuellen Proteste weisen eine breite soziale Basis auf, vor allem in Bezug auf die Schicht, aber auch die ethnische Zugehörigkeit der Protestierenden. Es sind nicht nur die Unter- und Mittelschicht, sondern sogar Mitglieder der Oberschicht beteiligt (z.B. Prominente aus dem Sport- und Filmbereich). Was die ethnische Zugehörigkeit anbelangt, gibt es eine Beteiligung von und Solidarität zwischen verschiedenen iranischen Ethnien – persischen wie nicht-persischen. Beispielsweise schlossen sich nach dem Ausbruch der Proteste in Kurdistan Menschen aus dem benachbarten aserbaidschanischsprachigen Tabriz diesen unter dem Motto "Tabriz ist wach und hält Kurdistan den Rücken frei!" (auf Aseri) oder im belutschischen Zahedan ("Iran! Belutschistan und Kurdistan werden Euch nicht den Rücken kehren!") an – eine Solidarität wie sie auch in anderen Regionen zu beobachten war.

An der Spitze der Proteste sind vier Gruppen zu nennen:

  • Frauen,

  • die Jugend (15- bis 24-Jährige, die iranische "Generation Z"),

  • Studierende und

  • marginalisierte Ethnien.

Alle genannten Gruppen leiden überproportional an Arbeitslosigkeit und sind daneben verschiedenen anderen Formen staatlicher Diskriminierung ausgesetzt. Auch SchülerInnen, LehrerInnen und UniversitätsprofessorInnen nehmen an den Protesten teil, wobei die beiden letzteren Gruppen streiken, um die Freilassung ihrer während der Proteste inhaftierten SchülerInnen bzw. Studierenden zu fordern.

Frauen sind in der Islamischen Republik einer strukturellen Diskriminierung ausgesetzt, die sich unter anderem darin zeigt, dass sie im Vergleich zu Männern doppelt so hoch von Arbeitslosigkeit betroffen sind (sowohl im Allgemeinen als auch bei der Jugend), während ihre Beteiligungsquote am Arbeitsmarkt bei lediglich einem Fünftel liegt – und all dies bei einem gleichwertigen Bildungsstand. Hinzu kommt die geschlechtsspezifische rechtliche Benachteiligung und politische Diskriminierung (Ausschluss von Frauen bei zentralen Ämtern).

Auch die Jugend leidet überproportional unter der Arbeitslosigkeit und den soziokulturellen Einschränkungen, die ihr von einer greisen islamistischen Elite auferlegt werden. Anfang Oktober 2022, also einen halben Monat nach Beginn des Aufstands, lag das Durchschnittsalter der meisten inhaftierten DemonstrantInnen nach Angaben des stellvertretenden Kommandeurs der Islamischen Revolutionsgarden Ali Fadavi bei 15 Jahren.

Studierende haben ihrerseits beim Aufstand trotz des harten Durchgreifens gegen die Studentenbewegung an den Universitäten in über 150 Hochschulen protestiert. Auch sie leiden an einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit (zwei Fünftel der Arbeitslosen sind Graduierte) und verschiedenen Formen politischer Diskriminierung.

Und auch die marginalisierten ethnischen Gruppen Irans, vor allem die sunnitischen Kurden und Belutschen, sind unverhältnismäßig stark sozioökonomisch, konfessionell und politisch benachteiligt.

Im Jahr 2009 war die Grüne Bewegung noch vor allem von der städtischen Mittelschicht getragen worden, die mit der Parole "Wo ist meine Stimme?" gegen Wahlbetrug protestierte und damit Reformen innerhalb des Systems der Islamischen Republik forderte. Auf ihrem Höhepunkt vereinte sie drei Millionen Menschen auf den Straßen Teherans. Die Dey- und die Âbân-Proteste waren zwar beide durch die soziale Frage ausgelöst worden (im ersten Fall durch höhere Lebensmittelpreise und im zweiten durch eine Verdreifachung der Treibstoffpreise über Nacht), wurden dann aber schlagartig politisch und richteten sich gegen sämtliche Führungsgruppen der Islamischen Republik: also gegen die klerikale (sprich, die herrschende schiitische Geistlichkeit), gegen die militärische (die Revolutionsgarden) und gegen beide Fraktionen des politischen Establishments (gegen die Hardliner und auch zum ersten Mal gegen die Reformer).

Dass die beiden letzten Aufstände nicht erfolgreich waren, lag neben der brutalen Reaktion des Regimes nicht zuletzt daran, dass sich die Mittelschicht nicht wie 2009 an den Straßenprotesten beteiligt hatte – es fehlte also eine Dimension, die wir nun bei den gegenwärtigen Protesten beobachten können.

Proteste in Iran 2022

(© picture-alliance/AP, Middle East Images) (© picture-alliance, SalamPix/ABACA) (© picture-alliance/AP, Middle East Images) (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Stringer) (© picture-alliance, Social Networks via ZUMA Press Wire) (© picture-alliance, PIC ONE)

Entwicklung eines intersektionalen Bündnisses?


Die Frage ist, ob sich innerhalb der aktuellen Proteste ein klassenübergreifendes und intersektionales Bündnis – also eines, wo sich Gruppen mit verschiedenen, teils überschneidenden Diskriminierungsmerkmalen zusammenschließen – entwickeln kann. Dabei ist die Arbeiterbewegung, die mit Streiks das wirtschaftliche Rückgrat des Regimes brechen könnte, ein entscheidender Faktor. Schließlich waren die Arbeitsniederlegungen der Ölarbeiter bei der Revolution 1979 entscheidend für den Sturz der Monarchie. Auch heute hängen die Staatseinnahmen trotz einer gewissen Diversifizierung der Wirtschaft immer noch stark von den Interner Link: Einnahmen aus der Öl-, Gas- und petrochemischen Industrie ab. Die Arbeiterschaft ist mit ihrer langjährigen Widerstandserfahrung immanenter Bestandteil der Protestbewegung. Es gibt bereits Anzeichen für eine zunehmende Solidarität mit der revolutionären Bewegung seitens der Arbeiterbewegung und ihrer AktivistInnen. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass (a) der Aufstand ein revolutionärer ist und (b) die von Frauen und anderen Teilen der Gesellschaft vorangetriebenen Proteste auch die Interessen der Arbeiterschaft abdecken – zumal auch sie in den bestehenden Verhältnissen kaum Verbesserungen ihrer Situation erwarten können.

Kurzum, das Bewusstsein für einen gemeinsamen Kampf existiert. So gab es im Laufe der Proteste auch Streiks in Schlüsselsektoren der Wirtschaft, darunter in wichtigen petrochemischen Unternehmen, Öl-, Stahl- und Agrobusiness-Betrieben in den südlichen iranischen Provinzen Buschehr und der Erdölprovinz Khuzestan. Seit Oktober 2022 haben sich schätzungsweise 30.000 ArbeiterInnen an Streiks beteiligt. Als Vergleichswert: Es gibt dieselbe Zahl von Projekt-ArbeiterInnen – also nicht Festangestellten – in der Erdölindustrie.

Der Arbeiterschaft fehlen aufgrund ihrer sozioökonomischen Misere letztlich die wirtschaftlichen Ressourcen, um längere Streikperioden buchstäblich zu überleben. Ein weiteres Hindernis ist die Militarisierung der Energiewirtschaft, da diese weitgehend von den Revolutionsgarden kontrolliert wird. Dadurch sind unabhängige ArbeiteraktivistInnen starken Repressalien ausgesetzt.

Wahrnehmung und Reaktion des Regimes auf die Proteste


Ende November 2022 wurde von der Hackergruppe Black Reward ein aufschlussreicher Geheimbericht der mit den Revolutionsgarden verbundenen Presseagentur Fars News Agency veröffentlicht. Der Leak umfasste 200 Gigabyte an Daten, darunter auch geheimes Videomaterial und Audiodateien, welche ernsthafte Bedenken hochrangiger Vertreter des Regimes hinsichtlich der Proteste offenlegen und zeigen, welche Strategien die Staatsführung verfolgt, um ihnen zu begegnen. Die Enthüllungen machten deutlich, dass das Potenzial jener, die gegen die Islamische Republik auf die Straße gehen könnten, von Regimevertretern auf zehn Prozent der Bevölkerung (d.h. über 8 Millionen Menschen) geschätzt wird.

Anfang November, auf dem bisherigen Höhepunkt der Proteste, nahmen nach der einzigen offiziellen Schätzung des Innenministers 45.000 Menschen an den Straßenprotesten teil und 18.000 an jenen an den Universitäten. Unabhängige Schätzungen, die offizielle Verhaftungsraten bei Protesten in einzelnen Städten hochrechnen, gehen jedoch von 600.000 bis 700.000 DemonstrantInnen aus. Im Vergleich dazu hatten laut Innenministerium 50.000 Personen an den Dey- und 200.000 an den Âbân-Protesten teilgenommen.

Aus einer Audioaufnahme eines Gesprächs zwischen hochrangigen Revolutionsgardisten geht auch hervor, dass sie über das Ausmaß der Proteste besorgt sind – insbesondere angesichts der führenden Rolle der Frauen und des mächtigen Symbols des Ablegens des staatlich verordneten Hidschabs. Sie befürchten einen Dominoeffekt: Immerhin fußt das System der Islamischen Republik auf drei ideologischen Pfeilern: der Unterdrückung von Frauen samt der Kleidervorschriften als Mittel der staatlichen Kontrolle über sie, der USA- und der Israel-Feindschaft. Außerdem betonen die Revolutionswächter die Gefahr, die von der Unterstützung der revolutionären Proteste durch iranische Prominente ausgeht, aber auch vom völligen Versagen des Regimes im "medialen Krieg".

Ein weiterer wichtiger Abschnitt des Fars-Berichts ist den Protesten in der Provinz Sistan und Belutschistan gewidmet, die im geostrategisch sensiblen Südosten des Landes liegt und in der eine sunnitische Mehrheit lebt. Nach einem Massaker des Regimes, bei dem am 30. September 2022 rund 100 Gläubige nach dem Freitagsgebet getötet wurden, hatte der einflussreiche sunnitische Geistliche und Freitagsprediger Molavi Abdolhamid Ismaeelzah seine Stimme gegen die iranischen Behörden und sogar den Obersten Führer Ali Khamenei erhoben. Er schlug vor, ein Referendum über die politische Zukunft des Landes abzuhalten.

Während die Straßenproteste insgesamt seit Ende November landesweit abnehmen, ist die Provinzhauptstadt Zahedan zu einem Dauerbrenner der Protestlandschaft geworden. Seit vier Monaten demonstriert dort unentwegt eine größere Menschenmenge im Anschluss an das Freitagsgebet mit Slogans wie "Tod für Khamenei" und "Wir kämpfen für Iran, nicht gegen Iran". Auch haben andere Regime-Insider ihre Besorgnis kundgetan. So erklärte Hassan Rahimpour-Azghadi, Mitglied des Obersten Rates der Kulturrevolution, dass die anhaltenden Proteste als "Warnung vor dem Tod" des Systems verstanden werden sollten.

Die Reaktion des Regimes auf die Proteste umfasste bislang:

  • massive Repression, einschließlich knapp 20.000 Verhaftungen, der Ermordung von über 500 Protestierenden durch die Sicherheitskräfte und Schergen des Regimes, Exekutionen von bislang vier davon im Zuge von Scheinprozessen und Zwangsgeständnissen (die der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk als „staatlich sanktionierte Tötung“ bezeichnete und darauf hinwies, dass bis zu 100 weitere Personen die Todesstrafe drohe), der Forderung nach der Todesstrafe für DemonstrantInnen seitens der überwältigenden Mehrheit des Parlaments (227 von 290 Abgeordnete), sowie Massakern in den kurdischen und belutschischen Gebieten;

  • die umfassendste Internetsperre seit den Interner Link: Âbân-Protesten;

  • die Diffamierung der Proteste als von kurdischem Separatismus getrieben, als von ausländischen Mächten (Israel, den USA und Saudi-Arabien) angezettelt, gepaart mit Vorwürfen der Islamophobie, des Vandalismus und des Terrorismus;

  • Interventionen reformistischer Persönlichkeiten, mit dem Versuch die Stimmung in der Bevölkerung gegen das Regime zu besänftigen.

So wurde zwei Monate nach Beginn der Proteste berichtet, dass die iranischen Behörden die Reformisten um Unterstützung gebeten hatten, die Proteste unter Kontrolle zu bringen. Offenbar wurden hierfür auch Mitglieder des Khomeini- und Rafsanjani-Clans ausgewählt. Fatemeh Hashemi, die Tochter des verstorbenen Präsidenten Ali-Akbar Hashemi-Rafsanjani, bestätigte ihr Treffen mit Mojtaba Khamenei, dem einflussreichen Sohn des Obersten Führers. Die den Revolutionsgarden nahestehende Wochenzeitung Sobh-e Sadegh regte an, dass der ehemalige reformistische Präsident Mohammad Khatami zugunsten des Regimes intervenieren könnte. Dieser warnte die IranerInnen dann in bekannter Regimemanier nebst eines Lippenbekenntnisses zugunsten der "Frau-Leben-Freiheit"-Bewegung davor, Sicherheit nicht gegen Freiheit auszuspielen. Angesichts des Legitimitätsverlusts der reformistischen oder des sogenannten gemäßigten Flügels der ausschließlich islamistischen iranischen Elite sind die Erfolgsaussichten solcher Beschwichtigungsversuche jedoch als gering einzustufen.

Risse in der Elite?


Eine der Voraussetzungen für den Erfolg eines revolutionären Prozesses sind Risse innerhalb der Machtelite. Obwohl vier Monate nach den Protesten keine offensichtlichen Brüche zu erkennen sind, gibt es erste Anzeichen für Differenzen: Dass es dem Regime auch nach Monaten nicht gelungen ist, die Proteste zu beenden, kann möglicherweise auf ein Zögern der Sicherheitskräfte zurückgeführt werden, die angewiesen wurden, mit tödlicher Gewalt gegen die Demonstrationen vorzugehen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Islamische Republik seit der Grünen Bewegung von 2009 stark in ihren Sicherheitsapparat investiert und ihn auch speziell auf die Niederschlagung von Straßenprotesten fokussiert hat. Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Führer Khamenei im Januar 2023 den Polizeichef ersetzt und forderte den neu ernannten Brigadegeneral Ahmad-Reza Radan, der bei der Niederschlagung der Grünen Bewegung eine wichtige Rolle gespielt hatte, dazu auf, die "Zustimmung des lieben Volkes durch die Wahrung der Sicherheit und den Schutz der öffentlichen Ruhe" zu gewinnen sowie "die Würde der Polizeikräfte zu achten und spezialisierte Polizeikräfte für verschiedene Bereiche auszubilden." Bereits im November 2022 wurde Alireza Fakhari, ein Kommandeur der Revolutionsgarden, zum neuen Gouverneur der Provinz Teheran ernannt. Somit militarisiert die Staatsführung zunehmend die Repression gegen die Proteste.

Auch die Hinrichtung des ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsministers Alireza Akbari am 14. Januar 2023, der dem derzeitigen Generalsekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrates Ali Shamkhani nahestehen und angeblich für Großbritannien spioniert haben soll, ist ein weiteres Anzeichen, dass sogar unter Regime-Insidern ernsthaftes Misstrauen herrscht.

"Revolutionäre Episode"


Sowohl viele politische BeobachterInnen als auch WissenschaftlerInnen haben diesen Protesten eine revolutionäre Dimension zugeschrieben. Die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi hat sie als "Beginn einer Revolution" bezeichnet. In akademischen Kreisen bezeichnete Asef Bayat, ein weltweit führender Experte zu sozialen Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten, die Proteste als eine "revolutionäre Episode" (so auch der in Deutschland bekannte Teheraner Autor Interner Link: Amir Hassan Cheheltan) mit einer auffallend fortschrittlichen, lebensbejahenden Einstellung. Die Frauen, ihre Würde und ganz allgemein die Menschenwürde stünden im Mittelpunkt, was diese revolutionäre Bewegung – auch im Vergleich zum "Arabischen Frühling" – außergewöhnlich mache. So gäbe es Bayat zufolge einen starken Wunsch der Jugend, ihr Leben zurückzuerobern und ein normales Leben zu führen – innerhalb einer Islamischen Republik, die mit ihren rigiden soziokulturellen Vorgaben eher den afghanischen Taliban gleiche.

Bayat sieht im Zentrum dieser Proteste "einen Paradigmenwechsel, etwas, das in revolutionären Bewegungen vielleicht selten ist, und den Fokus auf Frauen und ihre Würde, und im Grunde die Menschenwürde" setzt.

Auch Roham Alvandi, ein prominenter Historiker des modernen Iran an der London School of Economics and Political Science (LSE), vertritt die Ansicht, dass die Proteste der Beginn einer Revolution seien. Am 23. Oktober 2022 twitterte er: "Am Wichtigsten ist, dass wir im letzten Monat zum ersten Mal seit 1979 einen klaren Beweis für einen nationalen Konsens in Iran gesehen haben, dass die Islamische Republik verschwinden muss. Dies ist ein großer Schritt für die iranische Gesellschaft, angesichts der tiefen Skepsis und Angst vieler Iraner vor einer Revolution."

Die bekannte Soziologin Interner Link: Azadeh Kian, eine Spezialistin für Gender und Politik in Iran, interpretierte die Proteste ähnlich und warnte, dass sich der Konflikt zwischen einer modernisierten Gesellschaft und einer diskreditierten Theokratie nur noch verschärfen werde. Anoush Ehteshami ist der Auffassung, dass in Iran ein demokratisierender Aufstand im Gange sei – ein "perfekter Sturm", der sich aus "drei miteinander verbundenen Wirbelstürmen" nähre: einer sozioökonomischen Krise, einer politischen Sackgasse und internationaler Isolation. Auch der bekannte Historiker Ali Ansari sieht die Proteste als revolutionär an.

Fazit: Warum der revolutionäre Prozess weitergehen wird


In einigen politischen wie akademischen Kreisen im Westen bestand lange Zeit die Tendenz, von einem iranischen Exzeptionalismus im Nahen und Mittleren Osten zu sprechen, der auch vier Jahrzehnte nach den turbulenten und traumatischen Erfahrungen der Revolution von 1979 von einer grundsätzlichen Abneigung der iranischen Bevölkerung gegen revolutionäre Veränderungen im Land ausgeht. Wie die Dey- und Âbân-Proteste und noch deutlicher der Aufstand von 2022 gezeigt haben, haben die IranerInnen jedoch dieselben revolutionären Forderungen erhoben wie sie beim "Arabischen Frühling" zu hören waren und der auch als "langfristiger revolutionärer Prozess" zu betrachten ist.

Angesichts der abflauenden Straßenproteste seit der zweiten November-Hälfte 2022 hat sich eine Pattsituation eingestellt: Weder das Regimelager noch die DemonstrantInnen sind in der Lage, den jeweils anderen zu bezwingen. Gleichzeitig erscheint viereinhalb Monate nach Protestbeginn die Arbeiterbewegung mit ihren Streiks noch aktiv. Insgesamt kann man festhalten, dass revolutionäre Prozesse in der Regel sowohl Phasen relativer Ruhe als auch Phasen des Aufruhrs beinhalten. Dies war auch im Jahr vor der Revolution von 1979 der Fall. Nun, da die iranische Währung seit dem Jahreswechsel an einem historischen Wertverlust leidet, sind wirtschaftlich motivierte Proteste zu erwarten, die – wie die Vergangenheit zeigt – schnell ins Politische umschlagen können.

Bei der Analyse der Lage in Iran sollte man sich vor routinebedingten Fehlschlüssen oder analytischer Voreingenommenheit hüten. Wie der renommierte Historiker Ansari warnte, "können lange Perioden der Stagnation – die ein Gefühl des 'unveränderlichen Ostens' verstärken – sowohl zu politischer als auch zu analytischer Selbstgefälligkeit führen, da die Regime zu selbstsicher werden und Analysten sich langweilen. Gerade in solchen Situationen sollten wir wachsam sein." So hätten auch ausländische Nachrichtendienste die Revolution von 1979 nur wenige Monate vor ihrem Ausbruch nicht vorausgesehen. Ansari zitiert den damaligen britischen Botschafter in Teheran, der in der Rückschau schrieb: "Unser Versagen lag nicht so sehr in der Information als vielmehr in der Vorstellungskraft."

Der gegenwärtige Aufstand hat auch der internationalen Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass sich in Iran eine wohl Interner Link: irreversible Kluft zwischen Staat und Gesellschaft eingestellt hat. Das Regime ist nicht in der Lage, Antworten auf die virulente Dreifachkrise (politische Stagnation und Unreformierbarkeit, sozio-ökonomische Misere und ökologische Katastrophen) zu liefern, während eine gut ausgebildete, kosmopolitische junge Gesellschaft in ihren Entwicklungsmöglichkeiten massiv von der greisen, hochkorrupten, inkompetenten islamisch-fundamentalistischen Elite gebremst wird. Es ist wahrscheinlich, dass sich der revolutionäre Prozess in Iran fortsetzen wird. Die strukturellen Missstände, die ihn antreiben, werden sich aufgrund der Gleichgültigkeit der politischen Elite und der Priorisierung ihres eigenen Überlebens eher noch verstärken. Falls ein fundamentaler Wandel ausbleibt, darf man davon ausgehen, dass die Lage in Iran auf weitere Sicht von Instabilität und Unruhe geprägt sein wird.

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Proteste in Iran 2022/23

Am 16. September 2022 stirbt Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. In Iran beginnt eine Welle des Protests, unterschiedliche Gruppen gehen auf die Straßen. Das Regime reagiert mit brutaler Gewalt.

Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Fellow und Autor des Reports "Iran in Focus" am Issam Fares Institute for Public Policy and International Affairs (IFI) der American University of Beirut (AUB). Er promovierte an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London und war Postdoktorand an der Harvard Kennedy School. Später war er Iran-Experte der DGAP und am Brookings Doha Center in Katar. Zuletzt erschien sein Buch "Iran in an Emerging New World Order: From Ahmadinejad to Rouhani" (2021). Externer Link: fathollah-nejad.eu