Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Iran ist anders (2011) | Iran | bpb.de

Iran Politik und Geschichte Peseschkian wird Präsident Irans politisches System Machtverteilung in Iran Interview: Nach der Wahl – Reformer am Tiefpunkt Hintergrund: Präsidentschaftswahl 2021 Interview: Parlamentswahl 2020 Irans Geschichte: 1941 bis 1979 Irans Geschichte: 1979 bis 2019 Gesellschaft Interview: Unsicherheit vor den Wahlen Irans Zivilgesellschaft Frauenbewegung in Iran Interview: Irans Jugend Interview: Irans Wasserkrise Vielvölkerstaat Iran Interview: Zensur und Internetsperre Zeitgenössische Kunst in Iran Iran ist anders (2011) Video: Feminin - Masculin (2007) Proteste in Iran 2022/23 Interview: Den Protest nicht vergessen Interview: Abkehr vom Gottesstaat Interview: Irans Sicherheitsapparate Interview: Kultureller Widerstand Der revolutionäre Prozess in Iran Iran und die Welt Interview: Iran und der Nahostkrieg Russlands Einmarsch in der Ukraine und die iranisch-russischen Beziehungen Interview: Irans Außenpolitik und die Präsidentschaftswahlen Regionalmacht Iran Schiiten und Sunniten Das internationale Atomabkommen Interview: "Soleimani war kein allmächtiger Strippenzieher" Wirtschaft Sozioökonomische Entwicklung Irans Außenhandel Interview: Coronakrise und Sanktionen Interview: Gefangen in Arbeitslosigkeit und Inflation Das Land in Daten Chronik 1941 bis 2020 Redaktion

Iran ist anders (2011)

Rudolph Chimelli

/ 6 Minuten zu lesen

Als im Frühjahr 2011 die Menschen in Tunesien und Ägypten ihre Regierungen stürzten, blickte die Welt erneut auch auf Iran: Im Sommer 2009 hatte es dort Massendemonstrationen gegen das Regime gegeben, die sogenannte Grüne Bewegung forderte Reformen. Doch der Protest wurde blutig unterdrückt. Ein Essay des Nahost-Experten Rudolph Chimelli aus dem Jahr 2011.

Eine Unterstützerin des Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussawi bei einer Wahlkampfveranstaltung in Teheran im Juni 2009. (© AP)

Iran war immer anders. Als Ajatollah Chomeini vor 32 Jahren – gestützt auf eine gewaltige Volksbewegung – die Islamische Republik Iran gründete, machten sich viele seiner Jünger zumindest am Anfang Hoffnungen, ihre Revolution werde sich auf die benachbarten arabischen Länder ausbreiten. Die Revolution in Iran sollte für die weitere islamische Welt zum Vorbild werden. Diese Erwartungen schienen nicht unbegründet: Die arabischen Despoten waren bei ihren Völkern genauso verhasst wie der Schah in Iran. Die soziale Ungerechtigkeit war hier und dort gleich drückend. Und der politische Islam als Idee hatte seinen Ursprung bei den Muslim-Brüdern im arabischen Ägypten.

Doch aus all dem wurde nichts. Kein arabisches Volk folgte damals oder später dem Vorbild der Iraner. Für die sunnitische Mehrheit der Araber konnte die schiitische Staatsdoktrin Irans von der Herrschaft des führenden Gottesgelehrten grundsätzlich nicht attraktiv werden. Bei den Sunniten gibt es nicht jene Hierarchie der Berufs-Kleriker, die sich in Iran zur Herrschaftsschicht aufschwangen.

Der Arabische Frühling schwappte nicht über

Umgekehrt waren Anfang des Jahres 2011 viele – vor allem im Westen – davon überrascht, dass der Arabische Frühling nicht auf das iranische Hochland übergriff. Die erwartete Neubelebung der grünen Protestwelle, die sich im Sommer des Jahres 2009 gegen die umstrittene Wiederwahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad erhoben hatte, blieb weitgehend aus.

Dabei hat Iran mehr noch als Tunesien, Ägypten oder eine Reihe anderer arabischer Länder eine gut ausgebildete junge Generation, der die beruflichen Perspektiven fehlen. Irans Präsident Ahmadinedschad verspricht für das laufende Jahr 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze, aber seine Kritiker innerhalb des Apparats rechnen ihm vor, dass es höchstens 600.000 werden können. Die Preise laufen den Einkommen davon, und Millionen leben immer noch in Armut. Zugleich genießt auch hier eine reiche Oberschicht einen Wohlstand, der sie von den Problemen der Mehrheit immer weiter entfremdet. Daneben erkauft sich ein breiter Mittelstand durch Abstinenz von der Politik gewisse Freiräume, so wie das auch die Bourgeoisie unter Hosni Mubarak in Ägypten oder Zine el Abidine Ben Ali in Tunesien konnte.

An potentiellen Gründen für ein iranisches Frühlingserwachen fehlte es somit nicht. Ungezählte Iraner, wahrscheinlich die Mehrheit, haben genug von ideologischer Gängelung, von kleinlichen Schikanen durch Kleidervorschriften, von Korruption, von der selbstherrlichen Unfähigkeit der Bürokratie und der eigenen politisch-kulturellen Isolation vom Ausland. Die Anhänger der Protestbewegung gegen Ahmadinedschad wollten auf sehr verschiedene Weise eine Wende. Über den Protest gegen die umstrittene Wiederwahl hinaus forderten sie politische Partizipation und Bürgerrechte; sie wollten andere Leute an der Spitze des Staates, und sie wollten ein Ende von Brutalität und Unterdrückung. Sie wünschen sich all dies immer noch. Aber kaum jemand träumt von einer neuen Revolution, und nur wenige sind derzeit bereit, dafür ihr Leben zu riskieren.

Die Iraner haben schon eine Revolution erlebt

Denn die Iraner haben den arabischen Rebellen eine Erfahrung voraus. Sie haben durch die Revolution von 1979, die mit so großen Hoffnungen begonnen hatte, die Illusion verloren, dass sich durch einen Umsturz etwas bessern lässt. Außerdem wählten die Iraner in den Jahren 1997 und 2001 den Reformer Mohammed Chatami zum Präsidenten. Doch die Reformansätze verebbten, Chatami brachte nicht den erhofften Wandel und viele seiner Anhänger wandten sich enttäuscht ab. Dass die Grüne Welle des Jahres 2009 an der skrupellosen Unterdrückung durch das Regime scheiterte, besiegelte diese historischen Erfahrungen. Bei ihren späteren Protesten brachte die Grüne Bewegung gegen die Übermacht der Staatsgewalt nicht mehr Millionen auf die Beine, sondern nur noch Zehntausende, zuletzt bloß noch einige Tausend. Ihre Führer Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi leben seit Monaten in erzwungener Isolierung von ihrer Gefolgschaft.

Im Sommer 2009 konnte das iranische Revolutionsregime die Grüne Bewegung unterdrücken. Einer der Gründe dafür ist, dass es sich auf breite Schichten von Begünstigten stützen kann. Durch die Vergabe von Posten, Arbeitsstellen, Wohnungen, Schulplätzen, Stipendien, Sozialhilfen und anderer kleiner Privilegien haben die Regierung und die Geistlichkeit Abhängigkeiten geschaffen. Schätzungsweise ein Viertel der Iraner kann aus solchen materiellen Gründen kein Interesse am Sturz des Systems haben. Einst hatte Revolutionsführer Chomeini gegenüber Unzufriedenen gegrollt, er habe die Revolution nicht gemacht, damit die Wassermelonen billiger würden. Aber da auf die Dauer das Fußvolk jeder Revolution ein besseres und reicheres Leben erwartet, dachte sich Ahmadinedschad etwas anderes aus.

Bevor er im Jahr 2005 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, versprach er, unter seiner Herrschaft werde das Erdölgeld statt in die Taschen korrupter Ausbeuter auf die Speiseteller der Armen geleitet werden. Lange Zeit verwirklichte der Staatschef diese Verheißung mittels immer höherer staatlicher Hilfen für Grundnahrungsmittel, Benzin und wichtige Versorgungsgüter, die deren Preise absurd billig hielten. Subventionen prägen schon lange Irans Wirtschaft, und auch unter Ahmadinedschad fehlt eine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Auf seinen ungezählten Reisen in die Provinz verteilt Präsident Ahmadinedschad Geld mit vollen Händen. Den Staatsschatz plündert er mit ungesetzlichen Mitteln: Soeben erst warfen ihm Gegner im Parlament vor, dass er an neun Millionen Stimmbürger zusätzlich einen Bonus in bar zahlte, um seine Wiederwahl im vorletzten Jahr zu sichern. Das Parlament wird die Vorwürfe untersuchen.

Für viele ist der Erhalt des Status quo das Beste

Doch selbst seine erbittertsten Feinde werfen Ahmadinedschad nicht vor, er hätte ähnlich wie Mubarak oder Ben Ali 40 Milliarden Dollar im Ausland angehäuft. Auch dem Geistlichen Führer Ali Chamenei wird sein blühender Personenkult, aber nie persönliche Bereicherung angelastet. Die geistlichen Honoratioren und inzwischen auch die Führer der Revolutionsgarden sind sowieso für den Status quo, denn sie kontrollieren die profitablen Sektoren der Wirtschaft.

Als sich die Straßen Teherans und anderer iranischer Städte im Sommer des Jahres 2009 mit Millionen füllten, die im Zeichen der Farbe Grün gegen Ahmadinedschad protestierten, fühlten sich ältere Iraner und ausländische Beobachter an die Kundgebungen erinnert, die drei Jahrzehnte vorher dem Sturz des Schahs vorausgingen. Wie damals riefen die Menschen Parolen gegen die Diktatur, wurden verprügelt und vertrieben. Und wie damals ließ die Staatsmacht schießen und es floss Blut – wenn auch weit weniger. Aber hier endeten die Ähnlichkeiten. Denn Revolutionsführer Chomeini verfügte 1979 über eine dichte Organisation, die über die Moscheen bis ins letzte Dorf reichte. Sein Stab dirigierte die Bewegung, bestimmte wo demonstriert wurde, wo die Basare schlossen, denn auch der Mittelstand und das Bürgertum waren für die islamische Bewegung und unterstützten sie finanziell. Die Erdölarbeiter streikten monatelang und zwangen das Regime des Monarchen durch Ausfall der Einnahmen finanziell in die Knie. Teile der Streitkräfte, vor allem der Luftwaffe, liefen zu Chomeini über.

Den Demonstranten blieb allein ihre ohnmächtige Wut

Im Gegensatz zu jenen Tagen hatte die Grüne Bewegung im Sommer 2009 fast gar nichts, vor allem keine Organisation. Stets durften die Iraner unter der Islamischen Republik ungestraft schimpfen, so viel sie wollten, denn es blieb ohne Folgen. Der geringste Versuch jedoch, oppositionelle Strukturen zu schaffen, wurde gnadenlos zerschlagen. Als Folge konnte sich die Grüne Bewegung nur auf spontane Ausbrüche der Unzufriedenheit und des allgemeinen Überdrusses an den Verhältnissen stützen. Die andere Seite, das Regime, hatte für die Konfrontation alles: die Polizei, die Geheimdienste, die regulären Streitkräfte sowie die Parallel-Armee der Pasdaran, der Revolutionsgarden; das Regime hatte die Verwaltung, Fernsehen und Rundfunk, die meisten Zeitungen. Auf der einen Seite waren die Gewehre, auf der anderen nur ohnmächtige Wut.

Die Parallelen zwischen der Grünen Bewegung Irans im Sommer 2009 und dem Arabischen Frühling in Ägypten und Tunesien wurden übereilt gezogen. Zwar waren hier wie dort die Protestbewegungen in hohem Maß eine Sache der Jugend. Da die Jugend die modernen Kommunikationsmittel beherrscht, fühlt sie sich überall als Anwärter auf die politische Zukunft. Der offensichtliche Mangel an Organisation, an Programmen und an charismatischen Führern konnte durch diesen Elan in Kairo und Tunis bis zum raschen Durchbruch überbrückt werden.

Doch der iranische Repressionsapparat war effizienter. Seine Internet-Polizei ist eine der stärksten der Welt. Schon am Vormittag nach Ahmadinedschads Wiederwahl, am 13. Juni 2009, wurden die Mobilfunk-Netze abgeschaltet und staatliche Kontrolleure übernahmen die zehn größten Internet-Provider. Die Übertragungsgeschwindigkeit im Internet wurde auf ein Dreißigstel der bisherigen Datenmenge herabgesetzt. Die staatlichen Überwacher sammelten eine ungeheure Menge persönlicher Daten und Kontakte von Regimegegnern im Netz und griffen erst danach ein. Nichts mehr entging der Zensur im Internet.

Weitere Inhalte

Der namhafte Nahost-Experte Rudolph Chimelli (1928-2006) war Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Frankreich (1979-1998), davor in Moskau (1972 bis 1979) und Beirut (1964 bis 1972). Von Chimelli erschienen zahlreiche Bücher, unter anderem "Die Revolution mehrt ihre Kinder. Iranische Notizen" (2000).