Die Wahl des umstrittenen Ultrakonservativen Ebrahim Raisi zum Präsidenten wurde von vielen Menschen in Iran ernüchtert zur Kenntnis genommen, so der Politikwissenschaftler und Iran-Experte Adnan Tabatabai. Iran wählte aber auch Gemeinderäte, und die Lokalpolitik könnte zukünftig an Bedeutung gewinnen.
bpb.de: Die Iranerinnen und Iraner haben am 18. Juni einen neuen Präsidenten gewählt. Die Wahlbeteiligung war mit 49 Prozent so gering wie noch nie seit Gründung der Islamischen Republik 1979. Wahlen in Iran waren nie frei und fair. Aber hatten die Menschen diesmal das Gefühl, dass sie gar keine Wahl mehr haben?
Adnan Tabatabai: Im Vergleich zu den vielen Präsidentschafts- und auch Parlamentswahlen der vergangenen vier Jahrzehnte hatten diesmal viele das Gefühl, dass es keine ernste Auswahl, keinen politischen Wettbewerb gibt. Deshalb machten viele deutlich, dass sie keinen Wert darin sehen an der Abstimmung teilzunehmen. Hinzu kommen jene, die zwar teilgenommen haben, aber einen ungültigen Wahlzettel eingeworfen haben. Das war ein beträchtlicher Anteil von über zwölf Prozent. Und das waren deutlich mehr als die sonst drei bis vier Prozent ungültiger Wahlzettel, die bei Abstimmungen üblich sind. Diese Art Protestvotum muss man zur Wahlenthaltung quasi dazuzählen.
In Iran entscheidet der Wächterrat über die Zulassung der Kandidaten. Sieben Kandidaten durften antreten, darunter war kein populärer Vertreter der Reformer. Gewählt wurde der ultrakonservative Ebrahim Raisi. Wie waren die Reaktionen der Iranerinnen und Iraner auf den Wahlausgang?
Es war mehr Desinteresse als Wut zu verzeichnen. So wie die Wahl vorbereitet wurde, war relativ klar, dass Ebrahim Raisi Präsident werden würde. Ich war selbst in Teheran zur Wahl. Der Wahlausgang hat niemanden überrascht. Insofern gab es keine großen Reaktionen.
Man hat den Wahlausgang also einfach nur zur Kenntnis genommen?
Die Präsidentschaftswahl ist letztlich der Höhepunkt einer mehrjährigen Entwicklung, in deren Verlauf sich Irans Politik immer stärker in das eher konservative Spektrum bewegt hat. Vor allem unter den politisch Interessierten und Aktiven in der Bevölkerung ist die Stimmung gewissermaßen gekippt: Es gab viel Begeisterung, sich mit dem Nukleardeal vor allem dem Westen gegenüber zu öffnen. Diese Hoffnung hat mehr und mehr an Bedeutung verloren, sodass Wut und Verärgerung über diesen Rechtsruck in Irans Politik nicht erst mit der Wahl gekommen sind. Dass es diesen Rechtsruck geben würde, das hat sich bereits in den vergangenen zwei, drei Jahren abgezeichnet.
Internationales Abkommen zum iranischen Atomprogramm
Nach jahrelangen Verhandlungen wurde am 14. Juli 2015 das internationale Abkommen zum iranischen Atomprogramm beschlossen (der Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA). Iran sollte seine nuklearen Aktivitäten herunterfahren und kontrollieren lassen. Dafür hoben die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die USA schrittweise ihre Wirtschaftssanktionen auf. Im Mai 2018 stiegen die USA unter Präsident Donald Trump einseitig aus dem Abkommen aus und führten die Sanktionen wieder ein. In der Folge hielt sich auch Iran nicht mehr an die Beschränkungen des Abkommens. Unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden laufen seit April 2021 wieder Verhandlungen. Mehr Hintergründe bietet Interner Link: "Das internationale Atomabkommen: ein Erfolg mit Verfallsdatum" von 2020.
Würden Sie sagen, dass jetzt in der Bevölkerung die Hoffnungen auf Reformen komplett erloschen sind?
Zumindest ist jetzt vorübergehend eine Ernüchterung darüber eingetreten, dass es Reformen wie sie von den Reformparteien in Iran propagiert wurden, nicht geben wird – nicht mit diesen Parteien. Ob es Reformprozesse durch die Regierung unter Ebrahim Raisi geben wird, ist eine andere Frage. Aber für den Moment ist klar, dass das politische Lager der Reformer in Iran an einem Tiefpunkt ist und sich erst wieder rehabilitieren muss. Aber das wird sicherlich ein paar Jahre dauern.
Schauen wir auf den neuen Präsidenten Ebrahim Raisi. Er wurde 2019 von den USA wegen Menschenrechtsverletzungen mit Sanktionen belegt. Laut Dokumenten und Zeugenaussagen gehörte er 1988 als Vizestaatsanwalt in Teheran dem sogenannten Komitee des Todes an. Dieses ließ Tausende politische Häftlinge in Gefängnissen hinrichten. Wie geht Irans Öffentlichkeit mit diesen Vorwürfen um? Oder ist es ein Tabuthema?
Bereits vor der Präsidentschaftswahl 2017 wurde eine Audiodatei aus dem Umfeld des inzwischen verstorbenen Großajatollah Hossein Ali Montazeri veröffentlicht, der 1988 zur Führung in Iran gehörte und sich gegen die Hinrichtungen aussprach. Die Aufnahme belastete Ebrahim Raisi. In diesem Zuge wurde der ganze Themenkomplex rund um dessen Rolle im Jahr 1988 diskutiert. Bei der Wahl 2017 trat Raisi gegen Hassan Rouhani an, der als Präsident wiedergewählt wurde. In den vergangenen drei, vier Jahren sind die Fragen zu Raisi und 1988 etwas in den Hintergrund geraten. Trotzdem ist es mit ein Grund dafür, warum er in Iran kein populärer Politiker ist.
Für die meisten Iranerinnerinnen und Iraner ist etwas anderes aber eine noch wichtigere Frage: Man kennt Raisi zwar als Teil des Justizapparats. Man weiß allerdings überhaupt nicht, wie er sein wird, wenn er jetzt als Politiker auftritt. Das ist sozusagen das große Fragezeichen, vor dem man steht. Und es ist noch unklar, welche Linie er einschlagen wird.
Sie haben gesagt, das politische Lager der Reformer sei an einem Tiefpunkt. Die Politik in Iran werde immer konservativer. Dafür spricht auch, dass Raisi bei der Wahl der Wunschkandidat des Obersten Führers Ajatollah Ali Chamenei war. Könnte es langfristig Proteste seitens der Bevölkerung geben? Oder könnte sich auf längere Sicht ein politisches Lager links von den Reformern etablieren?
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hälfte der Bevölkerung weiterhin zur Wahlurne gegangen ist. Sie hat mit einem deutlichen Sieg Raisi ins Amt gehievt. Das heißt, wir haben in Iran viele Menschen, die mit vollem Eifer diesen Wahlprozess unterstützt haben und finden, dass Raisi Präsident sein soll. Und dann haben wir die andere Hälfte der Bevölkerung, die tief politikverdrossen ist und sich von den politischen Entwicklungen des Landes fürs Erste – und ich betone fürs Erste – verabschiedet hat.
Ich glaube, dass ein politisches Ereignis wie eben diese Wahl keine größere Wut oder kein Protestpotenzial mehr auslöst. Das könnte vielmehr entstehen, wenn sich die sozialen Lebensverhältnisse erneut zuspitzen. Zum Beispiel durch die Zunahme weiterer Stromausfälle, falls die Lebensmittelpreise weiter steigen und/oder die Kaufkraft weiter sinkt. Es sind eher solche sozioökonomischen Faktoren, die die Wut der Bevölkerung noch einmal so auf die Spitze treiben könnten, dass es Proteste gibt. Genau das sehen wir zurzeit in der Chuzestan-Provinz im Südwesten des Landes.
Für alle anderen politischen Aktivitäten muss sich das Land, glaube ich, erst einmal wirtschaftlich erholen, bevor die Menschen in einer kritischen Masse überhaupt wieder Zeit und den "Luxus" haben, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. Und das ist auch der Kern der Politikverdrossenheit: Dass man ganz andere Sorgen hat als die Themen, die zum Beispiel den Reformern wichtig sind. Die Reformbewegung hat es nie verstanden, dass die Mehrheit der Bevölkerung zwar an eine aktive Zivilgesellschaft, an Medienfreiheit, politische Partizipation und so weiter glaubt, aber dass momentan viele Menschen viel dringendere Sorgen haben als diese Themen. Die Reformbewegung hat es versäumt, diese Sorgen zu adressieren.
Ob und wie die neue Regierung unter Raisi die Lebensverhältnisse verbessert, muss sich zeigen. Aber wenn es keine Verbesserung gibt, wird es wieder Proteste geben.
Am 18. Juni fanden in Iran die Präsidentschaftswahl statt, aber auch die Gemeinderatswahlen. War die Wahlbeteiligung auf lokaler Ebene höher?
Auch dort wurde zwar weniger gewählt als sonst, aber die Beteiligung war im Vergleich höher.
Generell lässt sich in Iran eine Tendenz beobachten, dass man alltägliche, lebensnahe Angelegenheiten gar nicht mehr über die große zentrale Regierung in Teheran zu steuern versucht, sondern über lokale Strukturen. Zum Beispiel bei Themen wie Schulen, Gesundheitsversorgung, Apotheken, Straßeninfrastruktur. Solche sehr, sehr lebensnahen Dinge werden mitunter auf lokaler Ebene verwaltet, sodass die Bedeutung lokaler Gremien und Gemeinderäten in Zukunft zunehmen könnte. Das ist bislang nur ein Trend, den wir beobachten müssen. Es ist noch kein Ist-Zustand. Aber es könnte passieren, dass Lokalpolitik in Iran für die Bevölkerung wichtiger wird als die Zentralpolitik.
In Iran gibt es keine Parteien wie wir das in Deutschland kennen. Es gibt politische Lager wie die Reformer oder eben die Konservativen und Ultrakonservativen. Wie wichtig sind diese Zugehörigkeiten für die lokale Politik?
In einer Großstadt wie Teheran aber auch in Städten wie Maschhad oder Isfahan zählt immer noch ein Stück weit die politische Affiliation. Je kleiner und je lokaler die Wahlkreise sind, desto eher ist jemand, der kandidiert, den potenziellen Wählern und Wählerinnen bekannt – zum Teil auch persönlich. Das heißt, es wird jemand gewählt, weil sie vielleicht eine gute Schuldirektorin ist und eben auch eine gute Lokalpolitikerin sein kann. In einigen Provinzen und in eher ländlichen Gebieten kann auch die Familienzugehörigkeit oder ethnische Zugehörigkeit bei der Wahlentscheidung noch eine Rolle spielen.
Aber insgesamt ist auf lokaler Ebene eher von Belang, ob diese Politikerin oder dieser Politiker in den vergangenen Jahren dieses oder jenes für die Gemeinde gemacht hat. Deswegen wird er oder sie gewählt. Und in den Gemeinden sehen wir auch einige Frauen, auch jüngere Frauen, die dort durchaus eine Rolle spielen.
Bei der Präsidentschaftswahl hat der Wächterrat keine einzige Frau als Kandidatin zugelassen. Auf lokaler Ebene läuft das scheinbar anders.
Der Wächterrat hat auf die Stadt- und Gemeinderatswahlen keinen Zugriff bei der Zulassung der Kandidaten. Es gibt Gremien in den Provinzen, die so ein bisschen dafür sorgen, dass nichts "Unsittliches" passiert.
Insgesamt sind Frauen auch auf lokaler Ebene noch stark unterrepräsentiert. Dennoch: Auf lokaler Ebene gibt es tatsächlich Bürgermeisterinnen. Es gibt weibliche Vorsitzende von Stadtgremien. Auf dieser Ebene gibt es mehr Repräsentanz von Minderheiten und von Frauen. Diese Repräsentanz auf lokaler Ebene könnte die fehlende Repräsentanz auf nationaler Ebene durchaus kompensieren. Deshalb ist es wichtig, nicht nur auf das Verhältnis der Bevölkerung zu den in Teheran sitzenden nationalen Gremien zu schauen. Denn da besteht tatsächlich häufig eine Kluft im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft.
Adnan Tabatabai ist Geschäftsführer des Forschungszentrums CARPO mit Schwerpunkt Nah- und Mitteloststudien. Als Iran-Experte berät er europäische Politik und Wirtschaft zu Fragen rund um Irans Innen- und Außenpolitik. Tabatabai ist regelmäßig mit Kommentaren und Analysen zu Entwicklungen in und um Iran in den internationalen Medien vertreten. Er ist Autor des Buches "Morgen in Iran: Die Islamische Republik im Aufbruch" (2016, Edition Körber).
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