bpb.de: Viele Iranerinnen und Iraner sind von der politischen und wirtschaftlichen Situation im Land frustriert und desillusioniert. Am 18. Juni findet die Präsidentschaftswahl statt. Wie wichtig ist diese Wahl?
Nader Talebi: Dafür muss man einen Blick auf die Geschichte der Wahlen in Iran werfen. Nach den 1980er Jahren und dem Tod von Ajatollah Ruhollah Chomeini, dem Anführer der Revolution von 1979, wurden Wahlen zu einem wichtigen Gradmesser für die Unterstützung des Regimes. Diese Entwicklung wurde nochmal verstärkt durch die Reformer, die ab den 1990er Jahren zu einer zentralen politischen Kraft wurden. Sie verteidigten Wahlen als den einzigen sinnvollen Weg für Veränderung.
Die Wahlen waren keinesfalls frei oder demokratisch. Aber sie waren umkämpft und wichtig, um zu entscheiden, welches politische Lager die Verantwortung für die Exekutive oder Teile der Legislative übernimmt – unabhängig davon, wie limitiert die politische Macht tatsächlich war. Aber jetzt, würde ich sagen, erleben wir eine Zäsur bezogen auf das Regime und die Menschen in Iran. Die Bevölkerung hat das Gefühl, dass es keine echte Veränderung gibt, egal wen sie wählt. Und egal, wer regiert, ob ein Reformer oder ein Hardliner, der Sparkurs wird schlimmer.
Die Wahl scheint durch einen weiteren Punkt an Bedeutung verloren zu haben. In Iran entscheidet der Wächterrat über die Zulassung der Kandidaten. Fast alle Kandidaten aus dem Lager der Reformer wurden ausgeschlossen: Insgesamt wurden sieben von rund 590 Kandidaten und Kandidatinnen zur Wahl zugelassen. Wie schätzen Sie die Entscheidung ein?
Der Wächterrat hat nicht allein die wichtigen Personen der Reformer und Zentristen ausgeschlossen, sondern fast alle Kandidaten. Ein gutes Beispiel ist Ex-Präsident Mahmoud Ahmadinedschad. Er gilt als Hardliner und wurde ebenfalls nicht zugelassen. Alle weiblichen Kandidatinnen wurden ausgeschlossen, ebenso alle Kandidaten der Minderheiten wie zum Beispiel der Sunniten.
Aber der Ausschluss von Kandidaten ist nicht neu. Dieses Vorgehen gibt es seit den Anfängen der Islamischen Republik. In den vergangenen 20 Jahren haben Reformer Wahlen als "gut" bezeichnet, wenn Moderate und Reformer zugelassen wurden. Wurden ihre Kandidaten ausgeschlossen, bezeichneten sie die Wahlen als "falsch" und forderten politische Freiheit. Aber die Reformer stehen nicht für all die anderen Stimmen ein, die ebenso ausgeschlossen werden. So halten sie an ihrem Monopol fest, die einzige tolerierte Opposition zu sein.
Wächterrat und die Auswahl der Kandidaten
Am 25. Mai 2021 veröffentlichte der Wächterrat die Auswahl der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl am 18. Juni in Iran. Es gab reichlich Kritik an der Entscheidung. Informationen rund um die Wahl liefert der Hintergrundtext Interner Link: „Das Regime in Iran will keine Überraschungen“.
Der Frust und die Perspektivlosigkeit in Iran zeigten sich zum Jahreswechsel 2017/2018. Es begannen Protestwellen, die bis November 2019 andauerten. Um was ging es bei den Demonstrationen?
Die Menschen spüren eine anhaltende Krise. Dieses Gefühl bezieht sich nicht nur auf die politischen Hardliner und Konservativen. Generell fehlt vielen die Perspektive, dass ein Wandel möglich ist. Sie haben die Hoffnung verloren, dass die Dinge künftig besser werden, ohne dass es einen tiefgreifenden Bruch mit der gegenwärtigen Situation gibt. Dieses Gefühl hatte dazu beigetragen, dass sich Menschen an den Protesten beteiligten.
Die wirtschaftliche Situation in Iran ist sehr schlecht; die Inflation ist einfach verrückt. Die Lebensmittelpreise stiegen 2020 um rund 50 Prozent an. Auch fühlen die Menschen ein hohes Maß an sozialer Ungerechtigkeit. Sie sehen, dass sie keine Perspektive haben, um ihr Leben zu verbessern oder überhaupt ihr Leben zu gestalten. Familien können aufgrund ihrer finanziellen Lage ihre Kinder und Enkelkinder nicht länger unterstützen. Aber diese familiären Netzwerke sind das soziale Netz in Iran. Auch daran haben sich die Proteste entfacht.
Seit 1997 und dem Aufstieg Mohammed Chatamis als Präsident haben die Reformer gefolgt von den Zentristen die allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung bei den Wahlen für sich genutzt. Und als sie an die Macht kamen, haben sie das Narrativ genutzt, nicht genug Einfluss zu haben, um einen Wandel zu ermöglichen. Die Menschen nehmen ihnen ihre Versprechen nicht mehr ab. Vielleicht hat auch diese Desillusionierung die Proteste mit angestoßen.
Die Proteste spitzten sich im November 2019 zu, nachdem die Regierung den Benzinpreis erhöht hatte. Es folgten Massenproteste in den Großstädten, ebenso in kleineren Städten. War diese Preiserhöhung der letzte Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen?
In gewisser Weise war es diese letzte Sache, um Massenproteste zu entfachen. Und natürlich ist der Benzinpreis für alle spürbar: Er hat einen verbindenden Effekt. Aber es war nicht der einzige Grund. Diese Proteste müssen Sie als Teil der allgemeinen Verzweiflung sehen.
Die Preisänderung wurde am 15. November 2019 publik. An den nächsten drei, vier Tagen kam es zu Protesten und zu einem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte. Was passierte? Wie viele Menschen starben?
Das ist schwierig zu sagen, denn es gibt keine gesicherten Zahlen. Manche Quellen sprechen von 1.500 Menschen, die getötet wurden. Die offiziellen Zahlen seitens Teherans sind viel geringer: Die Rede ist von weniger als 250 Toten. Das Regime ließ auch viele Menschen verhaften.
In Iran müssen Demonstrierende immer mit einem gewissen Grad an Gewalt rechnen. Aber es gab einen Unterschied im Vergleich zu den Massenprotesten von 2009 – der "Grünen Welle", die nach der Präsidentschaftswahl entstand. Damals leiteten die Reformer den Protest in einer gewissen Weise an und forderten die Menschen auf, ruhig zu bleiben und den Sicherheitskräften keine "Entschuldigung" zu geben, Waffengewalt anzuwenden. Trotzdem waren die Protestierenden noch Gewalt ausgesetzt.
In den Jahren 2017 bis 2019 war es anders – besonders im November 2019. Bei vielen Protestierenden gab es nun nicht mehr diese Bemühung, der Bereitschaftspolizei oder anderen Sicherheitskräften entgegenzukommen. Die Menschen waren einfach wütend. Manche griffen Banken an, Tankstellen und Polizeistationen. Sie zeigten ihren Ärger über das Regime. Und das Regime wiederum zeigte viel Brutalität und Unterdrückung.
Diese "Grüne Welle" begann 2009 nach der Wiederwahl von Mahmoud Ahmadinedschad als Präsidenten. Die Leute gingen auf die Straße: Sie fühlten sich um ihre Wählerstimme betrogen. Bleiben wir bei den Unterschieden zwischen der Grünen Bewegung und den Protesten 2017 bis 2019. Es gibt noch einen Unterschied, der oft genannt wird: nämlich die verschiedenen sozialen Schichten, die teilnahmen.
Das sehe ich anders. Die "Grüne Bewegung" wird oft als ein Protest der Mittelschicht dargestellt. Die späteren Proteste – vor allem im November 2019 – werden dagegen skizziert als von der Arbeiterklasse getragen und auch als gewalttätiger. Aber das ist zu simpel. Auch Anhänger der Arbeiterklasse und andere marginalisierte Personen hatten an der "Grünen Bewegung" teilgenommen.
Dennoch gibt es einen Unterschied. In Iran haben gibt es das Konzept von "taroof" – eine Art ritualisierte Höflichkeit. Es bedeutet zum Beispiel: Wenn dir jemand Wasser anbietet, nimmst du es nicht direkt an. Du lehnst zunächst ab, und die Person wird dir das Wasser nochmal anbieten. Und so weiter. Irgendwann nimmst du das Wasser an. Man könnte sagen, dass für die Demonstrierenden 2009 die Idee von "taroof" noch Bestand hatte. Sie fragten: Wo ist meine Stimme? Aber 2019 galt das Konzept nicht mehr. Die Menschen forderten das Ende des Regimes. Es ging nicht mehr um eine Krise im System, die sich mit Reformen lösen lässt. Es zeichnete sich eine Krise des Systems insgesamt ab, die einen umfangreichen Wandel erfordert.
Welchen Protest fürchtet das Regime mehr? Die Proteste von 2009, als die Reformer Teil der Bewegung waren? Oder diese spontaneren Versammlungen ohne politische Führung?
Ich bin mir nicht sicher, ob das Regime überhaupt Demonstrationen fürchtet. Man könnte sagen, dass generell Massenproteste für demokratische Regierungen "gefährlicher" sind und wenn es eine gewisse Grenze der Gewaltausübung des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern gibt. Denn die politische Klasse muss dann "fürchten", nicht wiedergewählt zu werden.
Aber lassen Sie uns darüber sprechen, wie viel Veränderung eine Protestbewegung bewirken kann. Da gibt es einen Unterschied. Schauen wir uns zum Beispiel den Arabischen Frühling an: Für einen echten Wandel braucht es eine generelle Unzufriedenheit in der Bevölkerung sowie Proteste und auch Gesichter: Es braucht Führungspersonen. Die Proteste 2009 waren vielleicht die letzten großen Demonstrationen in Iran mit politischer Führung – in diesem Fall waren es die Reformer. Die Versammlungen 2018 und 2019 ähnelten eher dem Arabischen Frühling – sie waren ohne politische Führung. Diese Proteste lassen sich einfacher in Gang bringen, aber dass sie einen wirklichen Wandel bringen, ist weniger wahrscheinlich.
Der Arabische Frühling begann 2010 mit einer Reihe pro-demokratischer Proteste in Nordafrika und im Nahen Osten. Das passierte nach der "Grünen Bewegung" in Iran; der Arabische Frühling blieb ohne Auswirkung auf das Land. 2018 begann eine neue Welle der Proteste – der sogenannte Arabische Frühling 2.0. Im Irak und Libanon zum Beispiel gingen die Menschen auf die Straße, um die schlechte wirtschaftliche Situation und die Korruption im Land zu kritisieren. Inwieweit beeinflussten diese Proteste in der Region die Demonstrationen 2018 und 2019 in Iran?
Als der Arabische Frühling 2010 begann, war das Narrativ in Iran, dass die Nachbarländer versuchen, die iranische Revolution von 1979 zu wiederholen. Vielleicht schwang dabei der iranische Nationalismus mit, der Iran als der arabischen Welt überlegen darstellt.
2018 und 2019 war das anders: Man sah Ähnlichkeiten. Die Menschen im Libanon oder Irak protestierenden für Grundlegendes, wie genug Geld für die eigene Familie zu haben. Es ging nicht um eine klassische Revolution oder eine utopische Idee. Ihre Forderungen ähnelten denen der Iranerinnen und Iraner. Vielleicht war das eine Inspiration. Aber es gab keine systematischen Verbindungen oder eine Koordination zwischen den Protestierenden im Libanon und Irak mit den Menschen in Iran.
2020 traf die Corona-Pandemie auch Iran. Zurzeit geht das Land durch eine vierte tödliche Welle. Wie viel Ärger in der Bevölkerung wird von der Pandemie unterdrückt?
Die Pandemie ist nicht der Hauptgrund, warum die Menschen zurzeit nicht auf die Straße gehen. Die großen Demonstrationen endeten, bevor sich das Virus ausbreitete. Nach November 2019 hatten viele das Gefühl, dass es keinen Wandel geben wird, selbst wenn sie bei Protesten sterben.
Korruption und Missmanagement kommen im Moment zur Corona-Krise noch dazu. Die Menschen sorgen sich um ihr Leben. Das Vertrauen in die politischen Institutionen ist gering. Das Gesundheitssystem steht unter großem Druck, und die Menschen bekommen keine finanzielle Unterstützung in der Krise.
Sie sagen, das Ende des sozialen Konzeptes von "taroof" ist da. Die Resignation in der Bevölkerung ist groß. Was bringt die Zukunft?
Es gibt so viele Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen. Zum Beispiel, welche Personen an die Macht kommen, wer der politischen Führungskräfte altersbedingt sterben wird. Oder was zum Beispiel mit der korrupten Bürokratie geschieht, die nicht die einfachsten Bedürfnisse der Menschen erfüllt?
Ich weiß, dass meine Generation – die Babyboomer der 1980er Jahre – die Idee teilten, dass ein schrittweiser Wandel möglich ist. Es scheint, dass die jüngere Generation dieses Narrativ nicht mehr teilt. Sie wollen nicht so enden wie wir. Für viele ist klar, dass es so nicht bleiben kann. Aber niemand weiß, was morgen passiert. Vielleicht ist diese Unsicherheit ein großer Teil des Leids.
Das Interview führte Sonja Ernst.