bpb.de: Iran trifft der Ausbruch des neuartigen Coronavirus besonders hart. Bislang gibt es über 2000 Tote und die Ausbreitung des Virus scheint rasch voranzuschreiten. Wie ist die Stimmung zurzeit im Land?
Bijan Khajehpour: Die Stimmung ist schlecht. Wir haben gerade persisches Neujahr gefeiert. Alle waren froh, dass das alte Jahr endete, denn es war ein schlechtes Jahr. Die Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise, die US-Sanktionen nehmen zu, der Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine im Januar und so weiter. Februar und März sind in Iran eigentlich Monate der Erneuerung, aber nun ist die Stimmung sehr schlecht.
Vermutlich gab es in Iran den ersten Fall eines Corona-Infizierten am 19. Februar in der heiligen Stadt Ghom. Dort soll die Zahl von Erkrankten und Toten erheblich angestiegen sein. Internationale Medien veröffentlichten Satellitenfotos, die Massengräber zeigen sollen. Wie beurteilen Sie die Aufnahmen?
Das Foto, das Massengräber zeigen soll, halte ich für eine Übertreibung. Wenn man das Foto genau analysiert, dann sieht man einzelne Gräber – keine Massengräber. Man hat in Ghom diejenigen, die an Corona verstorben sind, separat begraben. Dafür wurden neue Bereiche innerhalb des Friedhofs geschaffen: Das zeigen die Satellitenfotos. Aber bislang gibt es keine Massengräber.
Warum werden Covid-19-Opfer getrennt begraben?
Man will damit die verschiedenen Angehörigen auf dem Friedhof voneinander fernhalten. Es geht um die Trennung der verschiedenen Trauernden und Angehörigen.
Es ist also eine Schutzmaßnahme. Und wie bewerten Sie das Krisenmanagement der iranischen Regierung insgesamt?
Der erste Corona-Infektionsfall ereignete sich vermutlich am 19. Februar. Am 21. Februar waren
Am Anfang gab es also Verschwörungstheorien und Vertuschungsversuche. Dass man nicht sofort reagiert hat, hat die Situation sicherlich verschlechtert. Aber woran Irans Regierung zurzeit generell scheitert, ist die Tatsache, dass die Menschen kein Vertrauen in sie haben. Das Misstrauen geht zurück auf Ereignisse wie den Abschuss der ukrainischen Maschine durch Irans Streitkräfte im Januar dieses Jahres mit 176 Toten, der anfangs vertuscht wurde. Oder auf die Proteste im November 2019, die brutal beendet wurden. Die Gesellschaft vertraut der Regierung nicht, deswegen werden viele Maßnahmen nicht beachtet. Das heißt, in Iran gibt es ein generelles Missmanagement und hinzu kommt das fehlende Vertrauen der Gesellschaft: Beides macht die Krise noch viel schlimmer.
Zu Missmanagement und Misstrauen kommt ein politischer Machtkampf hinzu. Das religiöse Oberhaupt Irans, Ajatollah Ali Chamenei, hat General Mohammad Bagheri, Kommandant der Streitkräfte, quasi zum Krisenchef ernannt. Damit umging er Hassan Rouhani, den Präsidenten und Regierungschef. Rouhani und Bagheri haben zuletzt sehr unterschiedliche Signale gesandt: Bagheri sprach sich zum Beispiel für Ausgangssperren aus – im Gegensatz zu Rouhani. Wie findet Iran aus diesem Machtstreit heraus?
Wir hatten schon vor der Krise einen Machtkampf. Innerhalb der politischen Elite gibt es generell eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob man außen- wie innenpolitisch einen Konfrontationskurs fahren oder sich versöhnlich zeigen soll. In der Außenpolitik zum Beispiel gibt es die Gemäßigten, die durch Verhandlungen und Abkommen Herausforderungen managen wollen. Und es gibt jene, die allein auf militärische Macht setzen. Innenpolitisch ist es das Gleiche. Bei den Unruhen im November setzten die Hardliner auf Konfrontation und Gewalt. Sie wollten den Menschen zeigen: Wir sind bereit zu töten, um das Regime zu erhalten. Die Gemäßigten konnten sich nicht durchsetzen.
Diese Meinungsunterschiede gab es immer – und es ist nicht so, dass die eine oder andere Seite dominiert. Sie koexistieren, auch wenn das zu Konfrontationen führt. Das ist ein Problem, aber auch Zeichen für ein pluralistisches System.
Aber die Situation jetzt bedarf schneller Reaktionen. Im Moment scheint es, dass die Regierung versucht die Krise herunterzuspielen. Das scheint jedoch nicht zu funktionieren. Kippt im Moment die Stimmung in Richtung der Hardliner?
Die Gesellschaft ist genauso divers wie die politische Elite: Manche wären froh, wenn das Militär übernehmen und es eine Ausgangssperre geben würde – aber eben nicht alle.
Zum persischen Neujahrsfest hat Außenminister Mohammed Dschawad Sarif ein Video veröffentlicht. Darin sagt er ganz klar, dass sich nach der Coronakrise die Denkweise der Regierung ändern muss. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Außenpolitik Irans, aber indirekt spricht er auch über die Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Die Hardliner wollen der Zivilgesellschaft keinen Raum lassen; sie wollen alles selbst kontrollieren. Doch die Gemäßigten wissen um das Potenzial der Zivilgesellschaft. Und das ist da: Es gibt im Moment viel und wichtiges zivilgesellschaftliches Engagement in der Krise. Das heißt, die Krise kann eine Öffnung für die Zivilgesellschaft bringen, das würde die politische Gleichung in Iran ändern. Aber die Stimmung kann auch in Richtung der Hardliner kippen. Wir müssen abwarten, was passiert.
Entscheidend wird auch sein, wie lange die Krise anhält. Je länger sie dauert, desto mehr wirtschaftliche Konsequenzen wird sie haben. Mehr Arbeitslosigkeit, mehr gesellschaftlichen Frust.
Nach dem versehentlichen Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine sprachen Sie von dem "Tschernobyl-Moment" der Regierung. Trifft das auch auf die aktuelle Krise zu?
Die Inkompetenz und Verunsicherung des iranischen Staates ist mittlerweile deutlich und klar – auch innerhalb der politischen Elite. Das zeigt eben auch das Video des Außenministers, in dem er sagt, dass Iran tiefe Veränderungen braucht. Ich kann mir gut vorstellen, dass jetzt viele Menschen innerhalb der politischen Elite Ähnliches denken. Nach dem Atomunfall von Tschernobyl und den Vertuschungsversuchen der sowjetischen Führung war es ähnlich: Man hat innerhalb der Elite angefangen nachzudenken, ob es richtig sein kann, was geschieht. Das war der Anfang vom Ende der Sowjetunion.
Das Gesundheitssystem des Iran war schon vor Ausbruch des neuartigen Coronavirus sehr schlecht aufgestellt, was auch mit den internationalen Sanktionen gegen Iran zusammenhängt. Am 17. März haben die USA klargemacht, dass sie an der Strategie des "maximalen Drucks" festhalten wollen und neue Sanktionen gegen Iran verhängt, wenn auch keine drakonischen. Warum reagieren die USA so?
In Washington gibt es eine relativ naive Denkweise bezüglich Iran. Viele wollen weiterhin einen Regimewechsel, doch Irans System und Gesellschaft sind dafür zu komplex und sein Regime zu resilient. Washington muss umdenken. Aber es fehlt die Bereitschaft für eine andere Politik.
Aber vielleicht gibt es jetzt erste Zeichen einer möglichen Veränderung und neuer diplomatischer Versuche. Iran hat am 19. März den US-amerikanischen Gefangenen Michael White freigelassen. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass Iran und die USA wieder erste Kontakte knüpfen. Und auch innerhalb der USA wächst der Druck. Etwa 25 Nichtregierungsorganisationen haben in einem Brief an Präsident Donald Trump gefordert, die Sanktionen gegen Iran für 120 Tage auszusetzen. [Anm. d. Red.: Zum Beispiel hat die NGO National Iranian American Council Externer Link: den Brief veröffentlicht.]
In der aktuellen Coronakrise sind die Sanktionen und ihre Auswirkung natürlich eine Katastrophe für Iran. Die US-Regierung sagt immer wieder, dass die Pharma-Industrie nicht sanktioniert wird – und das stimmt. Aber Tatsache ist, dass es durch die Sanktionen von Banken und Transportfirmen unmöglich ist, Produkte in den Iran zu exportieren – und das ist jetzt natürlich ein großes Problem.
Andererseits hat Ajatollah Chamenei bei einer Rede ein Hilfsangebot der US-Amerikaner abgelehnt. Schon Ende Februar hatte US-Außenminister Mike Pompeo Hilfe für Iran angeboten, jüngst bestätigte das auch Trump, sagte aber, Teheran müsse "darum bitten". Es ist klar, dass die politische Elite Irans kein Vertrauen in die USA hat – vor allem in die Trump-Regierung. Alles wird als Verschwörung angesehen, sogar die potenzielle Versendung westlicher Ärzte in den Iran. Das Problem besteht allerdings auf beiden Seiten: Irans politische Elite ist misstrauisch und die US-Regierung unehrlich, wenn es darum geht, Iran-Politik umzusetzen. Diese Unehrlichkeit wird auch klar in den Lügen und Übertreibungen, die über die Wirkung der US-Sanktionen auf die medizinische Versorgung im Iran verbreitet werden.