Der Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten geht auf die Frühzeit des Islam im 7. Jahrhundert zurück. Im Zentrum steht der Streit um die legitime Nachfolge des Propheten Muhammad (gestorben 632). Nach seinem Tod übernahmen loyale Weggefährten das Amt des Kalifen (arabisch für Nachfolger). Dagegen protestierten die Anhänger der Blutsverwandten des Propheten. Sie beharrten darauf, dass dessen nächster männlicher Verwandte Ali Ibn Talib – Cousin und Schwiegersohn Muhammads – sein rechtmäßiger Nachfolger sei. Zwar wurde Ali im Jahr 656 der vierte Kalif, doch begann mit seiner Amtsübernahme ein Bürgerkrieg, der 661 mit dem Tod Alis und der Machtübernahme seiner Widersacher endete. Den Anhängern Alis, die auch Shi'at Ali (= Partei Alis, daher die Bezeichnung Schiiten) genannt wurden, galten aber weiterhin nur die Imame genannten direkten Nachfahren Muhammads und Alis als legitime Herrscher der Muslime.
Alis Sohn und dritter Imam Husain scheiterte im Jahr 680 mit dem Versuch, die Macht im arabischen Weltreich zu erobern. Nach seinem Tod im irakischen Kerbela fügten sich die folgenden Imame in ihr Schicksal, wurden aber dennoch verfolgt. Ihre Linie endete mit dem zwölften Imam Muhammad al-Mahdi (al-Mahdi = der Rechtgeleitete), der im Jahr 874 (endgültig 941) verschwand und nach schiitischer Lehre am Ende der Zeiten als Erlöser wieder auf die Erde zurückkehren wird.
In den folgenden Jahrhunderten blieben Schiiten eine häufig unterdrückte sowie verfolgte Minderheit und entwickelten eine stark von Ohnmacht und Verfolgung geprägte politische Theorie. Der unter den Schiiten vorherrschenden Meinung zufolge war politische Macht in der Abwesenheit des Imam Mahdi illegitim und die Gelehrten und Gläubigen hätten sich von den politischen Herrschern ihrer Zeit fernzuhalten. Die islamischen Großreiche der nächsten Jahrhunderte wurden meist von sunnitischen Dynastien – wie den Abbasiden, Mamluken, Moguln und Osmanen – beherrscht, in denen wiederkehrende Konflikte zwischen den Konfessionen sich mit langen Friedensphasen abwechselten. Zu größeren Auseinandersetzungen kam es meist, wenn Schiiten politische Macht übernahmen, so etwa als mit den Fatimiden zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert eine schiitische Dynastie Teile Nordafrikas und Ägypten beherrschte, und eine sunnitische Gegenreaktion folgte, die zur Zerstörung des Fatimidenreichs führte.
Ein uralter Gegensatz wird zum Konflikt der Gegenwart
Bis in die Gegenwart blieben Schiiten und Sunniten meist voneinander getrennt und hegten tiefsitzende Ressentiments gegeneinander. Mit dem Aufstieg des schiitischen und sunnitischen Islamismus seit den 1960er Jahren wurde aus dem alten religiösen Gegensatz jedoch ein politisch-religiöser Konflikt der Gegenwart. Von den rund 1,6 Milliarden Muslimen weltweit sind schätzungsweise 85 bis 90 Prozent Sunniten. Allein im Irak, in Iran, Aserbaidschan und Bahrain sind Schiiten in der Mehrheit.
Der gegenwärtige schiitische Islamismus wurde in erster Linie durch den "Chomeinismus" geprägt. Ajatollah Ruhollah Chomeini (1902-1989) revolutionierte die schiitische politische Theorie, indem er der traditionellen Politikferne und dem Quietismus, also der Passivität seiner gelehrten Kollegen in öffentlichen Angelegenheiten, eine Absage erteilte. Er argumentierte vielmehr, dass der führende Rechtsgelehrte seiner Zeit die Gläubigen bis zur ersehnten Wiederkehr des Imam Mahdi nicht nur religiös, sondern auch politisch anführen müsse. Chomeini forderte einen islamischen Staat, in dem die Kleriker alle Lebensbereiche beaufsichtigten. Die erfolgreiche Revolution in Iran 1979 gab ihm nicht nur die Gelegenheit, die Theorie der „Herrschaft des Rechtsgelehrten“ (persisch velayat-e faqih) in die Praxis umzusetzen, sondern selbst als dieser Gelehrte zu fungieren.
Die Ereignisse von 1979 waren ein Auslöser des heutigen Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten. Um ihre Ideen zu verbreiten, suchten die iranischen Revolutionäre in der arabischen Welt nach Verbündeten und fanden diese vor allem unter schiitischen Gruppierungen wie der libanesischen Hisbollah, die 1982 gegründet wurde. Vor allem Staaten, in denen wie in Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrain starke schiitische Minderheiten lebten, sahen in der Politik des Revolutionsexports zu Recht eine direkte Bedrohung. Die Regierungen dort betrachteten die arabischen Schiiten nun immer häufiger als potentielle „fünfte Kolonne“ Irans. Die Diskriminierung von Schiiten nahm daraufhin zu, ihr Widerstand ebenso.
Islamisten auf beiden Seiten befeuern den Konflikt
Auf sunnitischer Seite wurden die Islamisten zum wichtigsten Träger antischiitischen Gedankenguts. Doch war es vor allem die islamistische Teilströmung der Salafisten, die den Konflikt befeuerte. Salafisten versuchen, ihre Gesellschaften durch eine Rückkehr zur Lebensweise der Zeit des Propheten und seiner Gefährten zu verändern. Die Rückbesinnung auf die Zeit der „frommen Altvorderen“ (arabisch as-salaf as-salih) bewirkte aber häufig, dass die alten Debatten über die Frage, ob die Kalifen der Sunniten oder die Imame der Schiiten die legitimen Nachfolger des Propheten Muhammad seien, neu entfacht wurden. Für die Salafisten herrscht kein Zweifel, dass die Ansprüche der Schiiten illegitim sind und dass es sich bei ihnen mitnichten um Muslime, sondern um Ungläubige handelt.
Die Salafisten und ihr Schiitenhass wurden seit den 1960er Jahren sichtbarer, weil die Bewegung mit Hilfe des saudi-arabischen Staates immer größer wurde. In Saudi-Arabien ist mit dem Wahhabismus eine Spielart des Salafismus offizielle Islaminterpretation, und das Königreich, das sich seit den 1960er Jahren zur Führungsmacht des sunnitischen Lagers entwickelte, hat seither weltweit salafistische Gelehrte und Gruppen unterstützt. Ab 1979 diente diese Politik in erster Linie der Eindämmung Irans, doch führte sie auch zur Verbreitung des Schiitenhasses der Salafisten. Ein durchaus ungewolltes Ergebnis war, dass sich militante salafistische und dschihadistische Gruppen bildeten, die sich zwar weltanschaulich mehr oder weniger stark am saudi-arabischen Wahhabismus orientierten, den saudi-arabischen Staat aber ablehnten. Die schiitenfeindlichste unter ihnen war die 2004 gegründete al-Qaida in Mesopotamien, die sich später in Islamischer Staat (IS) umbenannte. Das "Zweistromland" (Mesopotamien) der Flüsse Euphrat und Tigris umfasst vor allem den Irak, aber auch Teile Syriens, der Türkei und Irans.
Eskalation seit 2003 und 2011
Der Konflikt nahm nach der US-amerikanischen Intervention im Irak 2003 an Fahrt auf. Nach dem Sturz Saddam Husseins übernahmen schiitische Islamisten die Macht in Bagdad und dachten gar nicht daran, die alten, mehrheitlich sunnitischen Eliten daran zu beteiligen. Gegen die neuen Herrscher kämpften wiederum sunnitische Aufständische, unter denen die irakische al-Qaida die schiitenfeindlichste war. Ihre Anschläge trafen nicht nur schiitische Politiker und religiöse Würdenträger, sondern auch tausende Zivilistinnen und Zivilisten. Ergebnis war ein Bürgerkrieg im Irak zwischen 2005 und 2007, der in erster Linie einer zwischen Schiiten und Sunniten war, und mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit ausgetragen wurde. Zwar gewannen die US-Truppen gemeinsam mit der irakischen Regierung wieder die Kontrolle, doch der religiöse Konflikt erfasste bald darauf weitere Staaten.