Vielvölkerstaat Iran: Das Misstrauen der Regierung
Persien ist nicht Iran – über die ethnische Vielfalt der Islamischen Republik
Charlotte Wiedemann
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Iran ist ethnisch und kulturell reich – im Westen ist das kaum bekannt. Die Situation der ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich. Doch viele eint, dass sie Vorurteile und Misstrauen erfahren. Die Journalistin Charlotte Wiedemann erklärt die Diversität Irans.
Nur etwa jeder zweite Iraner hat Persisch zur Muttersprache. Allein dies deutet bereits darauf hin, dass die Bezeichnungen Iraner und Perser keineswegs identisch sind. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Alle Perser sind Iraner, aber nicht alle Iraner sind Perser. Denn letztere sind im Wortsinn ausschließlich aus einer einzigen Provinz gebürtig: aus Fars, früher Pars geheißen.
Tatsächlich ist Iran seit drei Jahrtausenden ein Vielvölkerstaat; dies gilt auch für die heutige Islamische Republik, deren ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt im Westen oft übersehen wird.
Schätzungsweise 30 bis 35 von insgesamt rund 80 Millionen Iranern und Iranerinnen gehören einer ethnischen Minderheit an. Der Staat veröffentlicht dazu keine Zahlen – aus Furcht vor Missbrauch durch außenpolitische Gegner, aber auch um bei den Minoritäten selbst keine Forderungen zu ermutigen. Seriösen Berechnungen zufolge stellen Aserbeidschaner etwa 20 Prozent der Bevölkerung, Kurden zehn Prozent, Loren sechs Prozent, Araber und Balutschen je zwei Prozent, Turkmenen ein Prozent. Ferner wohnen mehrere Millionen Afghanen dauerhaft in Iran, viele bereits in der zweiten Generation.
Die Minderheiten leben keineswegs nur in jenen Regionen, die ihren jeweiligen Namen tragen, wie etwa Kurdistan oder Aserbeidschan. Irans Ethnien- und Sprachenkarte ähnelt einem bunt gemusterten Teppich. Dazu hat die nomadische Vergangenheit des Landes beigetragen: Mit den Herden reisten auch die Sprachen ihrer Besitzerinnen und Besitzer in neue Räume. So verläuft zum Beispiel vom Nordwesten bis zum Persischen Golf eine Siedlungslinie turksprachiger Völker.
Neben der Amtssprache Persisch werden in Iran etwa zehn weitere Sprachen gesprochen; zum Beispiel Türkisch/Aserbeidschanisch, Arabisch, Kurdisch, Lorisch, Balutschi, Turkmenisch oder Armenisch. Masanderanisch und Gilaki, am Kaspischen Meer zu Hause, werden von manchen als Mundarten, von anderen als Sprachen bezeichnet. Ähnliches gilt für die Sprache der Bakhtiari, eines heute noch saisonal wandernden Nomadenvolks.
Die Verfassung der Islamischen Republik schreibt Persisch als "gemeinsame Sprache und Schrift des iranischen Volkes" fest, in der alle offiziellen Schriftstücke wie auch Lehrbücher abgefasst sein müssen. Der Gebrauch anderer einheimischer Sprachen in den Medien und an den Schulen soll jedoch frei sein; Artikel 19 der Verfassung sichert allen ethnischen Gruppen sogar gleiche Rechte zu. Doch die Realität ist davon weit entfernt. Bis heute wird den Minderheiten schulischer Unterricht in der Muttersprache vorenthalten, aus Angst vor Separatismus.
Ethnie, Sprache und Konfession spielen eine Rolle
Sanandadsch liegt im Nordwesten Irans an der Grenze zu Irak. In der Hauptstadt der Provinz Kurdistan sind an manchen Häusern noch Einschusslöcher aus der Zeit der Kämpfe nach der Revolution von 1979 zu sehen. Viele Kurden und Kurdinnen hofften damals auf einen Autonomie-Status; ihre kritische Haltung zur neuen islamischen Regierung wurde mit Waffengewalt und Hinrichtungen beantwortet. Bis heute kämpfen einzelne Gruppen bewaffnet für einen separaten Staat, allerdings ohne Rückhalt in der Bevölkerung. Bedeutender ist die auffallend große kurdische Beteiligung an allen landesweiten Protesten, wie gegen eine Benzinpreiserhöhung im November 2019. Kurdische Quellen sprachen danach von Dutzenden Toten. Ein allgemeines Gefühl von Unterdrückung hatte sich erneut verstärkt. Auch an ruhigen Tagen zeigen die Sicherheitskräfte hier Präsenz in den Straßen.
Kulturell ist Sanandadsch eine moderne Stadt, nur ältere Männer tragen noch die volle kurdische Kluft mit Pluderhose und Bauchbinde. Die Jungen bevorzugen Jeans; die meisten Frauen kleiden sich kaum anders als modebewusste Teheranerinnen. Kurdische Tracht war in Iran anders als in der Türkei nie verboten und ist deshalb kein Symbol kulturellen Widerstands. Auf den Straßen ist überall Sorani zu hören, die örtliche Variante des Kurdischen; parallel beherrschen alle Persisch, die einzige Schulsprache. Immerhin darf an der Universität von Sanandadsch neuerdings kurdische Sprache und Literatur als Studienfach gelehrt werden. Der Kontrast zwischen Muttersprache und Amtssprache ist für die iranischen Kurdinnen und Kurden nicht so groß wie für die türkischen, denn Persisch und Kurdisch haben gemeinsame Wurzeln; das Wort Kurdistan, "Land der Kurden", ist selbst persisch.
Unter Kurden gibt es Sunniten wie Schiiten; von der Konfession wird wenig Aufhebens gemacht, die Identität als Kurde und Kurdin ist wichtiger. Bei den kurdischen Sunniten dominieren sufistische Strömungen, die auch Frauen ekstatische Praktiken erlauben. Trotz der traditionellen Toleranz konnte in jüngster Zeit der Islamische Staat vom Irak aus einzelne iranisch-kurdische Sunniten für Terroranschläge rekrutieren – für Teheran ein Alarmzeichen.
Situation der ethnischen Minderheiten unterscheidet sich stark
Ganz anders als in Kurdistan ist die Atmosphäre ein paar Fahrtstunden weiter nördlich in Aserbeidschan – obwohl man auch hier, etwa auf den Straßen von Tabriz, kaum Persisch hört. Der Alltag vollzieht sich komplett in einer Turksprache, dem Aserbeidschanischen, auch Azeri genannt. Hier herrscht kein Gefühl von Unterdrückung, das mit den Zuständen in Kurdistan vergleichbar wäre. Der Grund dafür ist nicht allein die größere Zahl der Aserbeidschaner und Aserbeidschanerinnen. Sie haben vielmehr einen besonderen Status, weil sie die Geschichte, die Kultur und Gesellschaftspolitik Irans stets wesentlich mitbestimmt haben. Zwei Dynastien aserbeidschanischer Herkunft, Safawiden und Qajaren, haben Iran mit kurzer Unterbrechung 400 Jahre lang regiert, vom frühen 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Diese turkstämmigen Herrscher hielten an Persisch als Amtssprache nicht nur fest, sondern förderten es – erneut ein Hinweis, dass man beim Thema Iran Ethnisches und Sprachliches nicht gleichsetzen darf. Das schöne Isfahan gilt vielen Deutschen als Inkarnation "persischer" Kultur, doch brachten es die turkstämmigen Safawiden-Könige zur Blüte.
Doch auch dies gibt es: Ein Student in Tabriz vertraute mir an, er würde einen Liebesbrief eher auf Persisch schreiben, weil es gefühlvoller sei als Azeri, immerhin seine Muttersprache… Azeri und Türkisch teilen sich achtzig Prozent des Vokabulars, und da es kaum iranische Medien in Azeri gibt, schauen viele Aserbeidschaner und Aserbaidschanerinnen das Satelliten-Fernsehen aus der Türkei; Kinder lernen so modernes Vokabular. An den Universitäten von Tabriz fragen manche Dozenten zu Beginn einer Vorlesung, ob alle Azeri verstünden. Ist das der Fall, wird die Vorlesung in Azeri gehalten. Das ist zwar von Seiten der Behörden nicht erlaubt, aber – wie so vieles in Iran – ein geduldeter Regelbruch. Und quasi eine informelle Umsetzung der Verfassung.
Aserbeidschaner sind Schiiten, und sie leben heute in vielen Teilen Irans. Während Kurden und Araber in führenden Funktionen immer noch etwas Besonderes sind, zumal wenn sie den Sunniten zugehören, gehören hochrangige aserbeidschanische Politiker zur Normalität. Zu ihnen zählt sogar Ali Chamenei, der Revolutionsführer.
Turksprachig sind gleichfalls die Turkmenen, ganz im Nordosten des Landes, doch ist ihre Situation erneut eine ganz andere: Weil sie wenige sind, nur gut eine Million; weil sie als Sunniten zugleich konfessionelle Minderheit sind; und weil ihre Heimat an der Grenze zum autoritär regierten Nachbarstaat Turkmenistan eine Art verlorener Winkel ist. Die Turkmenen und Turkmeninnen pflegen ihre Kultur deshalb in einer vorsichtigen, abgeschotteten Manier; selbst Dichterlesungen haftet etwas Geheimes an. Turkmenisch darf mit Lehrbüchern aus Turkmenistan, die in lateinischer Schrift geschrieben sind, als sogenannte Fremdsprache unterrichtet werden. Doch zeugt die Vielzahl privater Institute, wo junge Turkmenen und Turkmeninnen englisch, sogar deutsch lernen, von einer größeren Sehnsucht: wegzukommen.
Das Regime misstraut den ethnischen Minderheiten
Am anderen Ende Irans, im südlichen Khuzestan, hat die arabische Minderheit im Krieg gegen Irak (1980 - 88) an vorderster Front für Iran gekämpft. Iraks Herrscher, Saddam Hussein, der Khuzestan damals annektieren wollte, hatte keinen Erfolg mit seiner Propaganda, er werde die iranischen Araber "befreien". Heutzutage gibt es hier einige versprengte Separatisten, aber sie rechtfertigten nicht das Misstrauen, das der Staat gegenüber der Gesamtheit der Araber hegt. Die Chefs der Behörden kommen stets von anderswo.
Teherans chronischer Argwohn, grenznahe Minderheiten könnten vom Feind instrumentalisiert werden, ist übertrieben, jedoch nicht völlig unbegründet. Die USA wie auch Saudi-Arabien versuchten mehrfach, Iran auf diesem Weg zu destabilisieren. Sie zielten auf die Region Balutschistan, an der Grenze zu Pakistan: Irans Armenhaus; hier herrscht noch ein Analphabetismus, wie ihn das Land sonst nicht mehr kennt, und viele finden nur im grenzüberschreitenden Drogenhandel ein Auskommen. Die Balutschen sprechen eine eigene Sprache, sie sind ethnische und als Sunniten zugleich konfessionelle Minderheit, und doch empfinden sie Iran als Heimstatt. Die Balutschen jenseits der Grenze kämpfen hingegen seit langem gegen die pakistanische Regierung. So hat der iranische Vielvölkerstaat anscheinend doch Bindewirkung, auch wenn Teheran kaum darauf vertraut. In jüngster Zeit zeigen die Balutschen noch in anderer Hinsicht etwas Überraschendes: Ausgerechnet in dieser patriarchalen Stammeskultur wurden viele junge Frauen in lokale Räte gewählt, sogar zu Bürgermeisterinnen. In manchen Gegenden traten keine Männer mehr an – weil sie nicht gegen eine Frau verlieren wollten.
Mehrheitsgesellschaft pflegt ihre Vorurteile
Vielvölkerstaat bedeutet auch: Die wenigsten Iraner und Iranerinnen kennen alle Kulturen ihres Landes, und es blühen Vorurteile. Balutschistan, Loristan, Kurdistan gelten in bürgerlichen Kreisen Teherans und Isfahans als gefährliche, wilde Gegenden. Die Bezeichnung turki, auf die turkstämmigen Landsleute gemünzt, hat bei Älteren oft einen abfälligen Klang. Dünkel gegenüber Arabern ist unter vielen Jüngeren verbreitet, auch etwa bei Kurden, wo er sich mit dem Hass auf das islamisch-politische System vermischt. Die Vorstellung von Iran als einem weiten kosmopolitischen Raum, zu dessen heutigem Gesicht viele Völker und Kulturen beigetragen haben, wird an Schulen und Universitäten selten vermittelt. Stattdessen hält sich im intellektuellen Diskurs und in Geschichtsbüchern oftmals ein Nationalismus, der auf das frühe 20. Jahrhundert zurückgeht und sich mit dem Begriff "Arier" verbindet.
Ariya war ursprünglich die Selbstzeichnung von Völkern, die vor mehr als vier Jahrtausenden von Norden her nach Indien und auf die iranische Hochebene zogen. Weil Griechisch, Latein, Sanskrit und Persisch gemeinsame Wurzeln haben, sprach die Wissenschaft später von einer indoeuropäischen Sprachen-Familie – bis unter dem Einfluss völkischer Ideologien daraus eine arische Rasse wurde, die durch Iran nach Europa gewandert sei. Westlich orientierte iranische Intellektuelle begrüßten ihr vermeintliches Ariertum wie ein Adelsprädikat: Sie waren also keine verachteten Orientalen.
Ab 1925 wurde daraus Staats- und Bildungspolitik. Der damalige Schah Reza verband den Ariermythos nun mit persischem Ethnozentrismus: Alle Iraner wurden als arische Perser definiert; nicht-persische Sprachen wurden aus den Schulen verbannt, auf dem Schulhof verboten. Kulturelle Vielfalt zu eliminieren galt als Vorbedingung eines modernen Staates: homogen und zentralistisch. Die Nationalsozialisten taten den Iranern später den Gefallen, sie als "reinblütige" Arier anzuerkennen. So seltsam es ist: Viele Iraner und Iranerinnen glauben an etwas Derartiges noch heute.
Und so trifft sich die Furcht der Regierung vor einer zentrifugalen Wirkung von mehr Bürgerrechten für Minderheiten aufs Erstaunlichste mit einem Nationalismus, wie ihn zumindest ein Teil der Regierungsgegner pflegt. Aus einem Gefühl der Demütigung angesichts des Zustands der Islamischen Republik erinnern sie nostalgisch an das stolze Persische Großreich vergangener Zeiten, als liege in der Vergangenheit die Zukunft.
Charlotte Wiedemann, Jahrgang 1954, ist Journalistin und Buchautorin. Sie hält sich seit Jahren immer wieder in Iran auf, schrieb Reportagen und Analysen u.a. für Die Zeit, Geo, NZZ, Le Monde Diplomatique und Qantara.de. "Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten" (auch in der bpb-Schriftenreihe erhältlich) erschien 2017 und in aktualisierter Neuausgabe 2019.
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