Die Frau mit dem Zopf, eine meiner ehemaligen Studentinnen aus dem Kibbuz Be'eri, fiel mir als Erste ein, als uns die ersten Gerüchte über das Massaker erreichten. Es war Simchat Thora, das jüdische Fest der Thorafreude. Als religiöse Juden, die an Feiertagen weder das Telefon noch das Internet benutzen, hatten wir keine Ahnung, was vor sich ging. Das Heulen der Sirenen in Jerusalem überraschte uns. Die Gerüchte in der Synagoge reichten von „terroristische Infiltration an der Grenze zu Gaza“ bis „Hamas hat Tel Aviv erreicht“. Um drei Uhr nachmittags, als die Armee meinen Schwiegersohn zum Reservedienst einberief, wurde uns klar, dass etwas sehr Schlimmes passiert war.
Der Reservist, mit dem der Mann meiner Tochter ins Kampfgebiet fuhr, hörte Radio. Als ich meinen Schwiegersohn fragte, was denn geschehen sei, wich er mir aus. Er erzählte nur von heftigen Kämpfen in der Gegend von Beeri. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass einer der Gefallenen in diesem Kampf gegen die Terroristen am 7. Oktober mein jüngerer Cousin David Meir sein würde. Mich beschäftigte am meisten die Sorge um die Frau mit dem Zopf aus dem Kibbuz Be'eri.
Die Frau mit dem Zopf war in meinem Unterricht eine freie Zuhörerin, daher war ihr Name nicht auf meiner Anwesenheitsliste aufgeführt. Ich wusste nur, dass sie brillante Fragen stellte und über ein umfangreiches Wissen verfügte. Wenn sie sprach, hörten alle zu. Und ich hatte die Gewissheit, dass sie im Kibbuz Beeri lebt. Ich betete und betete, dass sie am Leben geblieben war, dass es ihr gut ging.
Als sich am Ende des Feiertags das Ausmaß des Grauens abzeichnete, schickte ich Nachrichten an meine Kollegen, an Menschen im Süden, die ich kannte. Immer mehr Informationen über ermordete Studierende und Dozierende trafen ein. Sie überschwemmten uns mit Strömen von Blut und Tränen. In der Annahme, dass alle sie kannten, erkundigte ich mich nach der „Frau mit dem Zopf“. Doch natürlich reichte diese Beschreibung nicht aus, um sie ausfindig zu machen. Mehrere Wochen lang konnte ich keine Informationen über sie herausfinden. Bei jeder Erwähnung des Kibbuz Be'eri erschauderte ich. Ich dachte, dass sie verschollen sei.
Am Donnerstag, dem 16. November, besuchte ich das Zelt, das Angehörige der Ermordeten und Entführten in der Nähe der Knesset errichtet hatten. Am Eingang hing ein großes Schild mit der Bitte, die Privatsphäre der Familien zu respektieren. Also setzte ich mich vor dem Zelt hin und hörte den Gesprächen der Anwesenden zu. Plötzlich glaubte ich, die „Frau mit dem Zopf“ in einem der Fenster zu sehen. Ich sagte mir, dass dies nicht möglich sein könne. Dennoch konnte ich nicht ruhig sitzen bleiben. Es zog mich mit einer unerklärlichen Kraft zum Zelt. Ich näherte mich immer mehr dem Eingang. Die Frau hob den Kopf, unsere Blicke trafen sich. „Neria?“ fragte sie, „Rivka“, antwortete ich. Und Tränen schossen mir aus den Augen. „Weißt du, wie sehr ich nach dir gesucht habe?“
Die Frau, die sich inzwischen die Haare geschnitten hatte, antwortete mir lächelnd: „Hier bin ich, ich bin nicht gestorben!“
Ich konnte es kaum glauben, dass die Frau mit dem Zopf aus dem Kibbuz Be'eri lebend vor mir stand. Sofort bat ich sie um ihre Telefonnummer, endlich schrieb ich ihren Namen auf: Avivit John. Ich bat sie um Erlaubnis, sie umarmen zu dürfen. Während ich sie an mich drückte, flossen meine Tränen. Gleichzeitig erwachte die Hoffnung auf bessere Tage in mir.
In diesem Moment habe ich mir geschworen, dass ich immer – egal wie viele Studierende an meinen Kursen teilnehmen – ihre Namen lernen werde.
In diesem Land wird es keine Pogrome mehr geben. Doch diese Lektion, die ich von Avivit aus dem Kibbuz Be'eri gelernt habe, wird mich auch in guten Zeiten stets begleiten.