Sauerkrautfässer.
Das war die erste Erscheinung, die sich in meiner Vorstellung bildete. Das Bild schoss aus den Windungen meines Gehirns an die Oberfläche empor, als sich die Berichte über bewaffnete Mördertrupps mehrten, die die überrumpelten – eher: besetzten – israelischen Ortschaften auf der Suche nach versteckten Juden durchstreiften. Familien und Einzelne, die auf dem Dachboden oder im Keller in einer Hölle aus Angst warteten, was der nächste Augenblick bringen würde. Würden die Mörder weiterziehen oder doch die Tür aufstoßen?
Meine Mutter hatte so gut wie nie von ihren Erlebnissen – ich weiß, „Erlebnisse“ ist ein beschönigendes Wort, aber auch „Grauen“ oder „Leid“ wären nur blasse Approximationen – während der Schoa erzählt. Zu den wenigen Ausnahmen, und auch diese ist ihr durch eine Kette von Zufällen herausgerutscht – gehörte die Geschichte von den Sauerkrautfässern im Keller des jüdischen Krankenhauses im Wilnaer Ghetto. Dort versteckte sie sich, so gut es ging, während der „Aktionen“ der deutschen Besatzungsmacht – Razzien, bei denen unzählige Menschen ermordet wurden.
Einzelheiten, durch die diese Geschichte in einer literarischen Schilderung bildhaft angereichert werden könnte, kenne ich nicht. Wie schaffte es meine Mutter, in ein mit Sauerkraut gefülltes Fass zu steigen? War es nicht ganz voll? Wie lange blieb sie in dem Fass? Wie war es, dort zu atmen? Wie roch sie danach? Diese Details kenne ich nicht. Ich brauche sie auch nicht, um im Schrecken zu erstarren.
Im Herbst 2019 reiste ich mit meinen Kindern nach Wilna, der Stadt, aus der meine beiden Eltern stammten. Wie der Zufall es wollte, gab es im Komplex des ehemaligen jüdischen Krankenhauses Fremdenzimmer. Als wollte ich einen Kreis schließen, buchte ich dort eine Airbnb-Wohnung. Alles war sauber, gepflegt. Der Teil des alten Gebäudes, in dem die Fässer gestanden haben mussten, war nicht zugänglich. So blieben die Sauerkrautfässer, die es ja ohnehin längst nicht mehr gab, unsichtbar.
Bis zum 7. Oktober 2023, als ich sie auf einmal deutlich sah.
Sie standen mitten in meinem Wohnzimmer und in dem alten jüdischen Krankenhaus zugleich. Hätte ich meinen Arm ausgestreckt, hätte ich sie berühren können. In diesem Augenblick hatte ich aber nicht daran gedacht.