Ab jetzt wird es ein Davor und ein Danach geben. Vielleicht noch mehr als die schiere Zahl der Ermordeten am 7. Oktober und die Geiselnahmen samt Kleinkindern, hat die unglaubliche Grausamkeit in der Vorgehensweise der Hamas zu einem kollektiven Trauma geführt. Auch sechs Wochen nach dem Massaker herrscht noch immer ein Schockzustand. Jeden Tag kommen immer noch neue Zeugenberichte ans Licht. Sie erzählen auch von heldenhaften Beschützern, die ihre Lieben oder fremde Menschen gerettet haben und deshalb nicht mehr sind, vom Überleben und vom Weitermachen. Verglichen mit der Zäsur, die einst der Yom-Kippur-Krieg darstellte, sagt einer der Veteranen, der seither mit Posttrauma zu kämpfen hat, seien die jüngsten Ereignisse noch viel schlimmer. Denn diesmal ging es gegen die Zivilbevölkerung.
Wenn man einmal im Danach angekommen sein wird, wird es darum gehen, die psychischen Wunden irgendwie zu heilen. Experten glauben, dass vieles verändert werden müsse in der Traumabehandlung. Sicher ist, dass Narben der Verletzlichkeit, gegen die der Staat Israel schützen sollte, bleiben werden. Aber noch ist man nicht im Danach.
Und im Hier und Jetzt tritt ein Durchhaltevermögen zutage, das dieses Land so besonders macht. Es ermöglicht, soweit möglich, einen Alltag in nicht normalen Zeiten. Schüler müssen weiter lernen, Erwachsene gehen zur Arbeit, sofern sie nicht als Reservesoldaten gegen die Hamas kämpfen. Evakuierte aus den zum Teil völlig verwüsteten Ortschaften in der Nähe zum Gazastreifen gründen Kindergärten in den provisorischen Unterkünften am Toten Meer. Resilienz wird definiert als psychische Widerstandsfähigkeit: Es geht um die „Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen“ zu nutzen.
In der Eisdiele bei mir um die Ecke wird eine neue Sorte verkauft. „Am Israel Chai“ – das Volk Israel lebt – heißt die Blau-Weiß-Mischung. Zu normalen Zeiten hätten die Tel Aviver sich darüber wahrscheinlich mokiert, aber jetzt gerade verweist es auf ein allumfassendes Großes Wir, denn alle waren Teil der Zielscheibe des unglaublichen und undifferenzierten Hasses. Und wären die 3.000 Terroristen nicht gestoppt worden, hätten sie auch hier im Zentrum der Stadt gewütet, so war ihr Plan.
Bis man im Danach angelangt sein wird, braucht es noch viel Durchhaltevermögen. Tief durchatmen helfe, auch Musik und das sich Abschotten von den Nachrichten, raten die Therapeuten in den Fernsehstudios. Auf dem Bildschirm läuft auf allen Kanälen seit 42 Tagen nichts mehr außer aktueller Berichterstattung. Den Journalisten ist es anzusehen, wie mitgenommen sie sind. Sie unterdrücken Tränen, wenn Geiselfamilien zu Gast im Studio sind; manche erzählen auch von ihrem ganz eigenen Trauma, als sie am 7. Oktober per WhatsApp mit Hilferufen kontaktiert wurden von Israelis in Schutzräumen, als die Armee nicht da war, und kurz bevor die Hamas dann die Zugänge aufsprengte. Aber sie machen alle weiter auf diesem unsicheren Weg ins Danach.
Gerade ertönt wieder Raketenalarm in Tel Aviv. Danach werde ich Schokoladeneis holen gehen.