Es war 6:30 Uhr am Morgen. Die Sirenen gingen plötzlich los.
Wir sprangen aus dem Bett und liefen in den Luftschutzkeller unseres Hauses. „Das muss ein Fehler sein, eine technische Störung“, redeten wir uns wider jede Vernunft ein. Zehn Minuten später verließen wir den Schutzraum. Während die Sirenen weiter heulten, sahen wir die schrecklichen Nachrichten im Fernsehen.
Unsere Körper, unsere Herzen waren wie gefroren – wir waren erstarrt vor Angst.
Wenige Stunden später begannen die Zahlen der Ermordeten, der Gefallenen und der Entführten zu steigen. Da erkannten wir, dass wir uns im Krieg befanden.
Zwei Wochen lang tat ich nichts Anderes, als Nachrichten im Fernsehen zu schauen.
In der dritten Woche des Krieges wurde ich Mitglied einer Gruppe, die Nachrufe schreibt – und zwar auf die unbekannten Heldinnen und Helden, die ihr Leben opferten um andere zu retten.
Somit wurde ich, ohne jegliche Vorbereitung, zur Autorin von Nachrufen.
Die Aufgabe besteht aus der Suche nach einem Namen, einem Bild oder anderen Informationen. Damit schreibe ich eine kurze und lückenhafte Geschichte über Menschen, die brutal aus dem Leben gerissen wurden.
So bin ich zum Schreiben zurückgekehrt - wenn auch auf eine sehr andere Art und Weise als zuvor.
Hier ein exemplarischer Nachruf:
Nachruf Nummer Zwei: Mor Shkori Offizier Sgt. Mor Skori (29) aus Sderot, Tochter von Roni und Ayala, wurde während des Kampfs an der Polizeistelle von Sderot ermordet.
Ich kannte Mor nicht persönlich.
Auf dem einzigen Foto, das ich von Mor finden konnte, sitzt sie neben ihrer Schwester Sapir. Der Anlass war Sapirs Brautparty. Mor war ein großes, strahlendes Mädchen.
Ich durchsuchte Internet und Zeitungen nach Details zu ihrem Leben, doch fand so gut wie gar nichts. Dann erfuhr ich, dass Mors Tante die Medien kritisierte, weil sie nicht adäquat über Mors Tod berichteten. Sie bat Sapir darum, über ihre Schwester zu schreiben,
damit diese nicht in Vergessenheit geraten würde.
Der Wunsch dieser Frau und die Angst, dass ihre Nichte vergessen werden könnte, ließen mich nicht los.
So richtete sich mein Text an diese Frau:
„Liebe Tante,
Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich, die Ihre Nichte nie kannte,
über sie schreiben werde. So werde ich sie
Kennenlernen. Ich bin Tochter von Holocaust-Überlebenden, die nie über ihre von den Nazis ermordeten Verwandten sprachen. Als ich älter wurde begriff ich, wie sehr mir ihre Namen und persönlichen Geschichten fehlten. Die Jahre vergingen und ich verstand, dass über unseren Toten geschrieben werden muss, um die Erinnerung an sie wach zu halten. Ich habe tiefes Verständnis für Ihre Angst, dass Ihre geliebte Nichte in Vergessenheit geraten könnte.
Mor Shkori ist in Sderot geboren und aufgewachsen. Sie studierte an der Shaar HaNegev High School und diente als Nachwuchskommandeurin in Camp 80. Vor sechs Jahren trat sie bei der Polizei bei. Ihre Entscheidung überraschte niemanden, da die Arbeit als Polizistin perfekt zu ihr passte. Mor war eine Kämpferin.
Das letzte Telefongespräch ihres Lebens führte Mor am 7. Oktober 2023 von einem Dach in Sderot. Sie berichtete ihrer Schwester von dem „Chaos“, das vor sich ging. Terroristen seien in die Stadt eingedrungen. Lange konnte sie nicht sprechen. Sie war mit einigen Polizisten aufs Dach gelaufen. Von dort aus kämpften sie gegen die Terroristen. Niemand kam ihnen zur Hilfe. Niemand rettete sie. Sie wurden alle ermordet.
Während des Kampfes wählte Mor die Nummer ihrer Mutter. Sie sagte mit ruhiger, gefasster Stimme: „Für den Fall, dass mir etwas passiert, sollst du wissen, dass ich dich und Papa liebe. Kümmert euch um Sapir für mich.“ Sie schaffte es noch, das Schema Jisrael Gebet zu sagen. Dann erschoss sie vom gegenüberliegenden Dach ein Scharfschütze.
Mor war sofort tot.
Mit Tränen in den Augen las ich, dass sich Mor letztes Jahr im Mai im Kreis ihrer Familie und Freunde verlobt hatte.
Liebe Tante, auch wenn ich nur wenige Details über Mor herausfinden konnte, musste ich sie aufschreiben – für Sie, für Mor, für ihre Familie und ihre Liebsten. Mit Ihrem Einverständnis nehme ich Mor in meine Liste von Heldinnen und Helden auf an deren Namen wir uns für immer erinnern sollen.”
Abends gehe ich meinem zweiten neuen Job nach.
Ich fahre ins Stadtzentrum von Tel Aviv. Dort gibt es eine Zentrale, welche die Familien der von der Hamas entführten Geiseln unterstützt.
Ich setze mich für die Freilassung der Geiseln ein.
Und nachts läuft der Fernseher, der unaufhörlich Bilder des Krieges zeigt.
Der Roman, den ich angefangen habe zu schreiben – eine Liebesgeschichte – scheint nun aus einer anderen Ära zu sein. Spät in der Nacht, wenn ich versuche, einzuschlafen, träume ich davon, eines Tages in mein altes Leben zurückzukehren, und eine einfache Liebesgeschichte zu Ende zu schreiben.