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Debatte Das gesamte Bild - Israel

Was bleibt, ist die Angst

Sylvia Tessler-Lozowick

/ 3 Minuten zu lesen

„Doch als wir ihnen zuriefen ‚Schnell in den Schutzraum‘, haben sie sofort alles stehen und liegen gelassen.“ (© Sylvia Tessler-Lozowick)

Ich bin in Österreich geboren und lebe seit über 40 Jahren in Israel. Das Wien, in dem ich in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufwuchs, war auch nach dem Holocaust noch immer antisemitisch geprägt. Nie werde ich vergessen, wie Mitschüler am 20. April mit braunen Hemden in die Schule kamen, um Hitlers Geburtstag zu feiern. Sie haben sich auch nicht geschämt mit den „Heldentaten“ ihrer Väter während des zweiten Weltkriegs zu prahlen.

1981 bin ich nach Israel ausgewandert, um hier mein neues Zuhause aufzubauen und meine Familie zu gründen. Ein halbes Jahr später – weniger als vier Wochen nach meiner Heirat – wurde mein Mann in den ersten Libanonkrieg einbezogen. Ich begriff vor Angst und Sorge kaum, was um mich herum passierte.

Als 1991 die Sirenen des Golfkrieges heulten, war ich eine junge Mutter drei kleiner Kinder. Dies war der erste in einer Reihe von Kriegen, mit denen meine Kinder aufwuchsen.

Mein jüngster Sohn wurde 2008 in der Operation „Gegossenes Blei“ als Panzerkommandant eingezogen. Darauf folgten 15 Tage panischer Angst, die ich nie vergessen werde.

Das ist die Realität, mit der Israelis konfrontiert sind. So wachsen israelische Kinder auf. In den ersten Jahren nach der Gründung des Staates haben die Menschen noch in der Illusion gelebt, dass die nächste Generation nicht mehr drei Jahre in der Armee dienen müsse. Vor allem hofften sie, dass ihre Kinder nicht mehr in den Krieg ziehen würden. Manchmal ist es gut, Illusionen zu haben. Wahrscheinlich könnte man sonst kein „normales“ Leben führen, Kinder in die Welt setzen und gleichzeitig zum kontinuierlichen Aufbau Israels als das Heimatland der Juden beitragen.

Inzwischen habe ich zwei Enkelkinder. Am Samstag, den 7. Oktober, waren Sofi und Itamar bei uns in Jerusalem, als uns morgens die ersten Sirenen überraschten. Die beiden lebhaften Geschwister sind nicht immer geneigt zu tun, was die Erwachsenen ihnen sagen. Doch als wir ihnen zuriefen „Schnell in den Schutzraum“, haben sie sofort alles stehen und liegen gelassen. Wir sind zusammen in den Schutzraum gelaufen. Seitdem frage ich mich, ob es zur DNA israelischer Kinder gehört, instinktiv zu verstehen, wie man sich bei einem Raketenalarm zu verhalten hat – auch wenn sie noch nie zuvor einen gehört haben.

Jetzt sind Sofi und Itamar wieder zu Hause, in einem Vorort von Tel Aviv. Seither bekommen wir per WhatsApp mehrmals in der Woche Fotos vom Schutzraum ihres Kindergartens, in dem sich alle Kinder zusammenpferchen. Die Kindergärtnerin schickt diese Bilder, um die besorgten Eltern zu beruhigen, wenn es wieder einmal Raketenalarm gegeben hat. Gesegnet sei WhatsApp.

Itamar, erst gestern geboren, ist schon fast sechs Jahre alt. Nur noch zwölf Jahre, die im Flug vergehen werden, und auch er wird seinen Militärdienst antreten. Die Illusion, dass die nächste Generation nicht mehr in den Kampf ziehen muss, haben wir verloren. Was bleibt ist die Angst. Die Angst, welche ich zuerst als Ehefrau und dann als Mutter erlebt habe, begleitet mich nun auch als Großmutter. Nur, dass sie von Generation zu Generation schlimmer wird.

Fussnoten

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Sylvia Tessler-Lozowick ist Leiterin einer amerikanischen Familienstiftung, die innovative Programme für psychosozial-beeinträchtigte Menschen fördert. Sie ist ehrenamtliche Vorsitzende in einer nichtstaatlichen Organisation zur Selbstmordverhütung und Unterstützung psychosozial Beeinträchtigter.