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Wir wurden überrascht, aber nicht überwältigt

Ilan Mor

/ 5 Minuten zu lesen

Ilan Mor: „Wir wurden überrascht, aber nicht überwältigt. Das ist das Motto dieser Tage in Israel.“ (© privat)

„Das pure Böse“, nannte US-Präsident Biden voller Entsetzen die Gräueltaten, die am 7. Oktober durch Hamas-Mörder in Städten und kleinen Gemeinden im Süden Israels verübt wurden.

Wir alle haben die erschreckenden Bilder gesehen und die detaillierten Beschreibungen der Grausamkeiten der Terroristen gelesen. Was auf den Fotos festgehalten wurde ist unbestreitbar und nicht zu leugnen. Mit jedem Bericht wird immer klarer, dass die Hamas Juden bloß aufgrund ihrer jüdischen Identität ausrotten will.

Wir befinden uns in einem Prozess der Ernüchterung, in dem uns klar wird, dass unsere eigene Naivität uns daran gehindert hat, die Hamas als das zu erkennen, was sie wirklich ist. Ein entscheidender Schritt besteht darin, sich die zentralen Fragen zu stellen: Warum in Gottes Namen hegen die Terroristen so einen starken Hass auf uns? Was treibt die sie an? Sowohl individuell als auch als Gesellschaft stellen sich die Israelis diese Fragen, da das Leid und die Angst nahezu unerträglich ist.

Wenn ich versuche, diese Fragen zu beantworten, kann ich nicht aufhören, an meine beiden Enkel zu denken, die sich nicht weit von unserem Zuhause in Tel Aviv befinden. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie am Samstagmorgen, dem 7. Oktober, von den Sirenen in Panik versetzt werden und zusammen mit ihren Eltern in den Schutzraum fliehen, ohne zu verstehen, was geschieht. Seitdem geht es weiter, Alarm für Alarm – und im Gegensatz zu den Menschen in den meisten Ländern der Welt gehen meine Enkel jeden Abend mit Angst im Herzen schlafen. Sie fürchten sich vor den heulenden Sirenen, die vor Raketenangriffen aus Gaza warnen.

Es ist schwierig, die Massaker vom 7. Oktober mit Begriffen zu erklären, die auf die Vergangenheit zurückgehen. Wie etwa Entbehrungen, wirtschaftliche Ungleichheiten oder sogar Besatzung. Die Hauptelemente der Antworten auf diese Fragen liegen im Bereich des Geistes. Sie wurzeln in einem Hass aus religiösen und weltanschaulichen Gründen, der Leugnung der Existenz des „Anderen“ und einer Sehnsucht nach seiner Auslöschung.

Etwa 1400 Israelis wurden in einem grausamen Massenmord ermordet, Minute für Minute, über viele Stunden hinweg. Es ist entsetzlich zu sehen, dass die Täter keinerlei Reue empfinden. Im Gegenteil, sie dokumentieren und veröffentlichen ihre Gräueltaten mit Freude, Begeisterung und Hochgefühl.

Was treibt Euch barbarische Islamisten an? Es gab eine Zeit, in der der Islam, in dessen Namen die Hamas tötet, eine aufgeklärte und tolerante Kultur war. Wie kam es dazu, dass er sich in einen blutrünstigen und primitiven Islam verwandelte, der den Westen und Israel so hasst? Was feiern diese Barbaren? Sie feiern den Tod unschuldiger Zivilisten, indem sie, als Zeichen der Freude über ihren Tod, Süßigkeiten und Bonbons verteilen. Sie feiern genauso wie das dunkle, den Terrorismus unterstützende iranische Regime. Wofür kämpft Ihr? Anscheinend nicht für die das Leben, sondern für die Aufrechterhaltung eines Kults des Todes. Ein israelischer Nahost-Experte drückte es treffend aus: „Was sich am 7. Oktober in den Siedlungen rund um Gaza ereignete, wird für immer ein dunkler Fleck auf dem Islam sein, vergleichbar mit einem Hakenkreuz, das in den Farben der Hamas gemalt ist“.

Es ist schwer nachvollziehbar, dass trotz 75 Jahren Unabhängigkeit solche tiefgreifenden Ängste und Sorgen immer noch einen bedeutenden Teil der israelischen Realität ausmachen. Trotz Friedensabkommen, der Transformation in eine Start-up-Nation und dem erfolgreichen Einsatz des jüdischen Prinzips von „Tikon Olam“ (die Welt zu einem besseren Ort zu machen), bleibt diese Angst weiterhin im Mittelpunkt der israelischen Existenz. Der Staat Israel wurde gegründet, um dem jüdischen Volk eine sichere Heimat zu bieten, in der Juden niemals aufgrund ihrer Religion in den Tod geführt werden sollten.

Die schrecklichen Ereignisse vom 7. Oktober haben bei vielen Israelis Gefühle des Entsetzens und der Hilflosigkeit hervorgerufen, die an die dunkelsten Kapitel der kollektiven Erinnerung – an den Holocaust – erinnern. Aber in jeder Herausforderung steckt auch eine Chance. Es kann ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte Israels sein, sich von den Fesseln des schweren Gefühls zu befreien, dass Israel dazu verdammt ist, unter ständiger Bedrohung zu leben.

Nein, es ist keine Frage des Schicksals. Trotz allem bleibt Israel immer noch eine lebendige Demokratie, mit einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit und einer festen inneren Überzeugung, dass es notwendig ist, gegen diese Terrororganisation zu kämpfen und sie zu besiegen. Trotz der erheblichen Spaltung und Polarisierung, die unsere Gesellschaft im letzten Jahr geprägt hat, war nach der Tragödie vom 7.Oktober eine große Solidarität zu erleben.

Dies liegt daran, dass die israelische Gesellschaft traditionell in Zeiten externer Bedrohungen oder wahrgenommener Gefahren enger zusammenrückt. Dies ist ein klares Ergebnis des tiefen Glaubens an die Gerechtigkeit unseres Weges, des Zionismus.

Der Slogan „Gemeinsam werden wir gewinnen“, der seit dem 7. Oktober in fast jeder Ecke in ganz Israel zu hören und zu lesen ist, wurde nicht nur zur Parole, sondern auch zum Arbeitsplan. Schlichtweg, weil wir keine andere Wahl haben. Wir kämpfen nicht nur um unser physisches Zuhause, sondern auch um unsere moralische Heimat.

Israel begann seinen Krieg gegen die Hamas-Terroristen mit einem schrecklichen Verlust von 1.400 Opfern, das Land befand sich in einem Zustand von Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Schock und Trauer. Trotzdem kamen wir zur Besinnung, standen aufrecht und begannen, unser Land zu verteidigen, wohlwissend, dass es in diesem Krieg nicht nur um uns und unsere Zukunft geht. Der Konflikt ist nicht nur Israels Privatsache. Die Lösung dieses Konflikts betrifft zwar die Zukunft des Nahen Ostens, aber er hat auch Auswirkungen auf die Welt, in der wir leben. Wo stehen Sie auf dieser moralischen Landkarte? Unsere „Geheimwaffe“ kommt in diesen Wochen in all ihrer Pracht zum Vorschein: Die Widerstandsfähigkeit der Öffentlichkeit, der Aktivisten der Zivilgesellschaft, der Freiwilligen, der Reservisten, der regulären Armee, all das zusammen zeigt die israelischen Grundüberzeugung die uns daran erinnert, dass wir kein anderes Land haben und es um jeden Preis erhalten müssen.

Selbstverständlich müssen auch alle Anstrengungen unternommen werden, um die Geiselfrage zu lösen. BRING THEM HOME!

Wir wurden überrascht, aber nicht überwältigt. Das ist das Motto dieser Tage in Israel.

Ilan Mor arbeitete als Diplomat lange in Deutschland, zuletzt war er Botschafter in Kroatien.

Fussnoten

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