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Debatte Das gesamte Bild - Israel

Ich denke an die vielen Opfer

Meron Mendel

/ 6 Minuten zu lesen

Deborah (Shachar) und Shlomi Mathias wurden am Samstag, dem 7.10.2023, in den ersten Stunden des Hamas-Pogroms in ihrem Haus im Kibbuz Holit an der Grenze zum Gazastreifen ermordet. (© privat – mit freundlicher Genehmigung der Familie Troen)

Samstagnacht ruft mein Freund an: Die Terroristen der Hamas haben seine Schwester ermordet. Sie wollen Israel vernichten.

Es ist schon bestimmt 25 Jahre her, seit ich Shachar zuletzt gesehen habe. Sie war die ältere Schwester meines besten Jugendfreundes. Nur zwei Jahre älter, aber für uns ein Vorbild. Ihr Geburtsname lautete Deborah, irgendwann lehnte sie ihn ab. Shachar war niemand, der sich von anderen etwas vorschreiben ließ, auch nicht von ihren Eltern. An glücklichen Samstagvormittagen in den Neunzigerjahren saßen wir bei ihnen auf der Terrasse und stopften uns mit Pancakes und Erdnussbutter voll. An diesem Samstagvormittag saß Shachar mit ihrem Mann zum letzten Mal am Frühstückstisch, vielleicht auch mit Pancakes und Erdnussbutter, als die Terroristen der Hamas ihr Haus im Kibbuz stürmten und die beiden hinrichteten. Nur ihr sechzehnjähriger Sohn überlebte, weil er sich in seinem Zimmer versteckt hatte. Ich kann nicht an die aktuellen Ereignisse in Israel denken, ohne Shachars Gesicht vor mir zu sehen und ihre Stimme zu hören. Ich denke auch an die vielen anderen unschuldigen Opfer dieses groß angelegten Terrorangriffs. Zum Beispiel an die zweiundzwanzigjährige Shani Louk, eine Deutsche. Sie war auf einem Musikfestival, als der Angriff begann. Ein Video aus Gaza zeigt ihren entblößten Körper auf dem Rücksitz eines Pick-ups, ein bewaffneter Mann sitzt mit seinem Bein über ihr, der Mob auf der Straße jubelt, bespuckt sie und schreit „Allahu akbar“ (Gott ist groß).

Ich denke an die Mutter, die von einem israelischen Fernsehsender zum Telefoninterview aus dem Versteck ihres Haus zugeschaltet wurde. Sie flehte um Hilfe der Sicherheitskräfte für sie und ihre Tochter, während im Hintergrund die Stimmen der Terroristen vor der Tür zu hören waren. Als ich sah, wie Babys und Kleinkinder von bewaffneten Männern nach Gaza verschleppt wurden, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Bilder der puren Barbarei irgendeinen Menschen kaltlassen können, egal, wie man politisch zum israelisch-palästinensischen Konflikt steht.

In Deutschland nennen manche die Terroristen „Freiheitskämpfer“

In Deutschland äußerten viele ihre Trauer und Empathie. Auch in Frankfurt versammelten sich am Abend gut zweihundert Menschen, um ihre Solidarität mit Israel zu bekunden. Doch immer wieder war da auch menschenverachtende Freude zu sehen – unvorstellbare Szenen spielen sich auf deutschen Straßen und in den sozialen Medien ab. Im Berliner Stadtteil Neukölln wurden Süßigkeiten verteilt, auf der Straße wurde vor Freude getanzt. Grausame Videos von Gewalt, Mord und Leichenschändungen nach IS-Ästhetik wurden auf Instagram tausendfach mit Herzen geteilt. Nicht nur Influencer, sondern sogar Mitarbeiter von renommierten Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen feierten den Sieg der angeblichen „Freiheitskämpfer“ der Terrororganisation Hamas.

Ich blicke fassungslos auf den Bildschirm meines Handys, als mich mein Jugendfreund aus Jerusalem anruft und sagt, seine Schwester Shachar sei ermordet worden. In Frankfurt ist es zwei, in Jerusalem bereits drei Uhr nachts. Mir versagt die Stimme, stattdessen kommen die Tränen. Dann sprechen wir doch, über Pancakes mit Erdnussbutter. Und dann auch darüber, wie wir uns damals auf der Terrasse unsere Zukunft vorgestellt haben. So hoffnungsvoll waren wir, so naiv.

Wie nah erschien uns der Frieden, als wir damals 1993 aufgeregt im Fernsehen die Reden vor dem Weißen Haus beim Unterzeichnen des Osloer Friedensabkommens anschauten. Unvergesslich blieb der Satz von Yitzhak Rabin: „Wir, die gegen euch, die Palästinenser, gekämpft haben, sagen euch heute mit klarer Stimme: Genug der Tränen und des Blutes. Genug.“ Es kam uns fast wie ein Traum vor, dass der bisherige Erzfeind Jassir Arafat nun von „Peace of the brave“ sprach. Wir glaubten an das Versprechen von Rabin und Arafat so sehr, dass wir dachten, wir werden die letzte Generation von Soldaten sein, die den Nahostkonflikt noch erleben werden.

Dann ereignete sich die größte Terrorwelle unserer Jugendzeit: Fast wöchentlich wurden Busse, Clubs und Restaurants von radikalen Palästinensern in die Luft gesprengt. Wir hielten es trotzdem für unmöglich, dass die Radikalen am Ende gewinnen. Dann wurde Rabin von einem jüdischen Fundamentalisten ermordet, und mit seinem Tod war das Versprechen des Friedens jäh verpufft. Wir wurden in die Armee einberufen und nach drei Jahren Pflichtdienst desillusioniert entlassen. Von unseren Jugendträumen war nicht viel übrig geblieben. Nach uns kamen noch viele weitere Generationen von Soldaten, und der Frieden ist ferner denn je.

Das Ende der Jugendträume

Es war fast nach drei Uhr nachts in Frankfurt, und ich lauschte der Stimme meines Freundes. Ich schwieg. Es kam mir vor, als ob die Worte sich weigerten, sich in Sätzen ordnen zu lassen. Als ob meine Muttersprache, Hebräisch, gegen mich rebelliert. Er sprach, und es fühlte sich vertraut an. Seine Eltern waren Anfang der Siebzigerjahre als überzeugte Zionisten aus Amerika nach Israel gezogen. Nun müssen sie ihre Tochter in ihrer Wahlheimat begraben. Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie an der Ostküste geblieben wären? Der Gedanke ging mir durch den Kopf. Ich wagte es nicht, ihn auszusprechen. Nicht gegenüber einem Freund, der gerade seine Schwester verloren hat. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte plötzlich er: „Als sie damals kamen, war es hier nicht besser. Sie wussten, was es bedeutet, in Israel zu leben.“

Vor fünfzig Jahren, kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg, befand sich Israel schon einmal im Schockzustand. Am 6. Oktober 1973 wurde das Land von Ägypten und Syrien am heiligsten Tag der Juden völlig überraschend überfallen. Die israelischen Verteidigungslinien auf dem Suez-Kanal und in den Golanhöhen wurden in kürzester Zeit zerstört, binnen weniger Stunden Hunderte israelische Soldaten getötet, weitere Hunderte gefangen genommen. „Die Geschichte wiederholt sich nach fünfzig Jahren und einem Tag“, sagt mein Freund.

Niemand hatte mit dem Angriff gerechnet

Niemand hatte damit gerechnet, dass die Hamas an diesem Samstag einen lange geplanten Angriff auf Israel starten würde: mit Tausenden Raketen und schwerbewaffneten Terroristen, die auf dem Boden in die Sperranlage und aus dem Meer mit Schlauchbooten ins Kernland eindringen. Wie 1973 fiel auch dieser 7. Oktober auf einen Samstag, wie 1973 wurden die IDF, die stärkste Armee im Nahen Osten, völlig unvorbereitet getroffen. Offenbar war ein Großteil der regulären Streitkräfte ins Westjordanland abkommandiert worden. Dort hatte man Auseinandersetzungen zwischen radikalen Siedlern und Palästinensern erwartet.

Über die Pläne der Hamas im Süden hatten die Armeeaufklärung und der Inlandsgeheimdienst Shin Bet hingegen keine Hinweise. „Machen wir uns nichts vor, es sind nicht allein die Geheimdienste schuld“, sagt mein Schulfreund in der Nacht. Wer also noch? „Die Hybris der Politiker. Der Hochmut der aktuellen Regierung. In ihrer fundamentalistischen messianischen Ideologie leidet sie schon seit Monaten an Realitätsverlust“, glaubt er. In ihrem Eifer, die Demokratie außer Kraft zu setzen, hätten die regierenden Politiker die Gesellschaft gespalten und die Armee geschwächt. Mein Freund spricht besonnen, trotz der tiefen Trauer.

Seit Anfang des Jahres organisiert er Demonstrationen gegen die ultranationalistische Regierung von Benjamin Netanjahu. Als er darüber jetzt am Telefon spricht, überspielt das für einen Augenblick die Trauer. Er erinnert sich an ein Schild, das er und seine Mitstreiter so oft in der letzten Zeit hochgehalten hatten. Darauf stand: „Mechdal 73, Mechdal 23“. Das bedeutet auf Hebräisch: das Versagen von 1973, das Versagen von 2023. „Mit Versagen meinten wir die Pläne der Regierung zum Abbau der Demokratie. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass sich das militärische Versagen vom Jom-Kippur-Krieg wiederholen kann.“

In Frankfurt war es noch dunkel, in Jerusalem begann die Morgendämmerung. Ich weiß nicht, ob es die Verzweiflung war oder die Müdigkeit in seiner Stimme. Jedenfalls wollte ich ihm etwas Ermutigendes sagen, aber, verdammt, mir fiel nichts ein. Ich schwieg wieder, blickte aus dem Fenster auf die ruhige Straße und auf die Häuser gegenüber. Auf einmal kam mir das Gespräch vor wie eine Zumutung für meinen Freund. Wie eine Unverschämtheit, dass ich gleich ins Bett gehen und in aller Sicherheit einschlafen würde, wissend, dass ich auch in Sicherheit wieder aufwachen würde. Dass morgen keine Terroristen durch meine Wohnungstür eindringen können – und dass dieses Privileg so selbstverständlich ist, jeden Tag und jede Nacht.

„Mach dir keine Sorgen, wir sind stark“, verabschiedete sich mein Freund. „Ich weiß“, entgegnete ich. „Bald komme ich wieder zu Besuch. Wir werden Pancakes und Erdnussbutter machen – und zum Friedhof fahren.“

Erstveröffentlichung in der FAZ vom 9. Oktober 2023

Fussnoten

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1976 in Tel Aviv geboren, ist Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. Sein aktuelles Buch „Über Israel reden“ ist u.a. auch in der Schriftenreihe der bpb erhältlich