Es gibt eine feste Ordnung, nach der ich meine Kinder morgens aufwecke: die älteste Tochter zuerst, dann die mittlere, zum Schluss meinen Sohn. Er ist noch klein, ein Erstklässler, und schläft auf der oberen Etage eines Stockbettes. Ich wecke ihn mit einem leisen guten-Morgen-Lied auf, und er, noch völlig schlaftrunken, schält die Decke von sich, stellt sich auf der oberen Stufe der Bettleiter, spreizt seine Arme breit, und lässt sich fallen. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt darauf wartet, bis er meine Hände unter seinen Achseln spürt, bevor er sich fallen lässt.
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel ist die Schule zu, wir hatten ja auch schon einige Male Luftalarm an unserer Ortschaft, ich lasse alle drei Kinder also länger schlafen. Es ist mir auch ganz recht: Ich muss mich als Journalist mit den Schreckensgeschichten auseinandersetzen, mit dem Zerbrechen unserer Welt, das dieser Angriff bedeutet.
Vor allem Familien entführter Zivilisten mit deutschem Bezug suchen den Kontakt zu mir auf, bitten mich darum, ihre Geschichte an die deutsche Öffentlichkeit heranzutragen, um die Chance einer Rettung ihrer Lieben zu erhöhen. Nach jedem solchen Gespräch bin ich erstarrt, kann schwer atmen, ich versuche die Bilder, die die Geschichten der Familien evozieren aufsteigen und wieder aus dem Bewusstsein gleiten zu lassen.
Es ist mir also ganz recht, wenn die Kinder noch in ihren Betten sind, und mich nicht so sehen müssen. Sie rieseln dann, eins nach dem anderen, ins Wohnzimmer runter, nehmen ein Buch, ein Spiel, und setzen sich auf den Teppich oder aufs Sofa. Vor einigen Tagen habe ich sie um Hilfe gebeten, das Bett der mittleren Tochter war nämlich auch mal ein Etagenbett, nun haben wir aber die obere Etage abgebaut, ich möchte sie an eine Sammelunterkunft für evakuierte Zivilisten spenden. Die Kinder trugen mit mir die Bettteile ins Auto, ich fuhr los um es selber in der Sammelunterkunft aufzubauen, vorbei an einer Mahnwache einer jüdisch-arabischen NGO, die die undankbare, aber unabdingbare Aufgabe hat, zu mahnen, die Zivilbevölkerung beider Seiten nicht aus dem Blick zu verlieren.
Auf dem Rückweg erreicht mich noch ein Anruf: Gilad Korngold, ein Anwohner des Kibbuz Gvulot, bittet mich um Hilfe. Sein Sohn, Tal Shoham (38), dessen Ehefrau Adi (38), ihre Kinder, Nave (8) und Yahel (3.5), sowie weitere Verwandte wurden aus ihrem Haus in Kibbuz Be´eri am Samstag durch die Hamas entführt. Tal Shoham ist österreichischer Staatsbürger, der Rest der Familie deutsche Staatsbürger. Ich halte am Straßenrand an. Gilad Korngold hat eine jungwirkende, leise Stimme. Er beschreibt fast sachlich, eine Stunde lang, die Einzelheiten des menschlichen Abgrunds. Tod, Misshandlungen, Ungewissheit. Dann sagt er aber diesen Satz: „Die Enkelkinder, sie wurden nur in ihren Pyjamas mitgenommen, und jetzt wird es doch Winter, und kalt.“ Erst dann bricht seine Stimme. Ich sammele mich und verspreche ihm, alles in meiner Macht zu tun, um seine Geschichte zu verbreiten.
Mein nächster Anruf geht an die deutsche Botschaft, danach an Kolleg*innen in den deutschen Medien, die Gilad Korngolds Geschichte nun an ihre Redaktionen weitertragen. Wenn ich zuhause ankomme ist es schon spät, die Kinder gehen schlafen, morgen hat die Schulleitung nämlich gemeinsame Lernrunden in Schutzräumen organisiert, sie müssen wieder früh aufstehen. Nun habe ich die ganze Nacht Zeit, bis ich morgens meine Kinder aufwecke, bis mein Sohn sich auf der oberen Stufe der Leiter stellt, seine Arme in die Breite spreizt, und sich voller Vertrauen in diese Welt fallen lässt.