Auch wenn sie häufig als neues Phänomen dargestellt wird, hat die Frauenbewegung in der arabischen Welt eine mehr als 100-jährige Tradition. Die frühen Frauenrechtlerinnen des Nahen Ostens waren zwar zum großen Teil bekennende Musliminnen, Jüdinnen und Christinnen, ihr Ziel aber war ein nationaler, säkularer und postkolonialer Staat. Die Aktivistinnen forderten in den 1920er Jahren nicht nur Zugang zum politischen und öffentlichen Leben durch Bildung und Wahlrecht, sondern kämpften auch für die Rechte der Frauen im Privatbereich und forderten Reformen des Familienrechts. Von Anfang an waren sie Teil der Widerstandsbewegungen gegen die koloniale Herrschaft wie auch Teil des Zeitgeists der arabischen Aufklärung. Sie strebten nach der Unabhängigkeit und Befreiung ihrer Länder, der Adaption liberaler Ideen der Moderne wie Demokratie, Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie die Neuinterpretation und Reform der Religionen.
Die zweite Phase der Frauenbewegungen fällt in die Zeit der 1950er bis 1970er Jahre, als in den neu gebildeten Staaten sozialistische und panarabische Ideologien dominierten. Aus Angst vor innerer Spaltung der jungen unabhängigen Staaten wurden Parteien, Bewegungen und Verbände von den Machthabern auf Linie gebracht. In vielen arabischen Staaten wurden unabhängige Frauenorganisationen aufgelöst, Frauenrechte per Gesetz verordnet. Die Staatsgründer zwangen so den Männern und Frauen, Klassen und Ethnien eine Modernisierung und Gleichberechtigung auf, ohne aber freie Debatten, Meinungsvielfalt oder Opposition zuzulassen.
Ein allgemeines Wahlrecht war nicht selbstverständlich – ägyptische Frauenrechtlerinnen erkämpften die Anerkennung ihrer Bürgerinnenrechte 1954 durch einen Hungerstreik. Zwei Jahre später erhielten sie das passive und aktive Wahlrecht. Andere arabische Staaten folgten mit der Einführung des Frauenwahlrechts: Syrien 1956, Algerien 1962, Marokko 1963, Jemen 1970 und zuletzt Bahrain 2001, Oman 2003 und Kuwait 2005. In Saudi-Arabien konnten Frauen sich im Dezember 2015 erstmals als Wählerinnen und Kandidatinnen für die Regionalwahlen registrieren lassen.
Klassische Rollenvorstellungen wirken bis in die Gegenwart, vor allem auf die weibliche Rolle in der Öffentlichkeit und im Privatleben. Als Staatsbürgerinnen sind die Frauen laut der semisäkularen Verfassungen der meisten arabischen Länder den Männern rechtlich gleichgestellt. Im Privatleben aber unterliegen sie den religiösen und traditionellen Vorschriften ihrer Gesellschaften, welche in die Zivil- und Familiengesetze eingeflossen sind, vor allem in Ehe- und Erbrecht. Dies gilt für Angehörige aller Religionen und Atheistinnen, denn in den meisten arabischen Ländern gibt es keine Zivilehen. Das bedeutet, dass die Bürgerinnen patriarchalem, religiös beeinflusstem Personenstandrecht unterliegen, das Frauen den Männern unterordnet. Während Bildungsangebote für Frauen zahlreicher geworden sind – Frauen stellen in vielen Ländern sogar die Mehrzahl der Hochschulabsolventen –, hat sich die konservative Einstellung der Bevölkerung zur Rolle der Frau in der Gesellschaft nicht in gleicher Geschwindigkeit geändert.
Entstehung und Aufstieg des arabischen Feminismus
Gleichwohl gibt es in vielen arabischen Ländern eine lange Tradition weiblicher Einflussnahme auf das öffentliche Leben, die den Frauen eine Doppelrolle als Berufstätige und Mutter ermöglicht. Rund ein Drittel der berufstätigen Frauen sind Alleinverdiener in ihrer Familie. Im Agrar- und Dienstleistungssektor ist die Mehrheit derjenigen, die informell arbeiten, also ohne Arbeitsvertrag und soziale Absicherung, weiblich. Frauen arbeiten aber auch als Beamtinnen, Ärztinnen, Professorinnen, Lehrerinnen und Medienmacherinnen – anders sieht es in Parlamenten und Kommunalvertretungen aus. 2013 betrug hier der Frauenanteil im Durchschnitt 17 Prozent. Die Spitze bildete Algerien mit 32 Prozent, das Schlusslicht war Katar – ohne eine einzige Parlamentarierin.
Die Niederlage gegen Israel 1967, die mit dem Scheitern des arabischen Sozialismus und der Zerstörung des Traums von Modernisierung und Wohlstand zusammenfiel, leitete die dritte Phase der arabischen Frauenbewegung ein. Viele arabische Staaten verfolgten nun eine prowestliche Politik. Frauenbewegungen und die Zivilgesellschaft erlebten einen Aufschwung: Staatliche Frauenorganisationen verloren an Bedeutung, Feministinnen fanden sich nun häufig in NGOs mit teilweise gegensätzlicher Ausrichtung wieder.
So führte dieser Wandel auch zum Aufstieg einer islamischen Frauenbewegung als konservative Alternative zum sozialistischen und liberalen Feminismus. Während man in der liberalen Phase der 1920er Jahre bis hin zur sozialistischen Phase der 1960er Jahre des postkolonialen Ägyptens kaum Frauen mit Kopftuch sah, tragen es heute nahezu 90 Prozent der Ägypterinnen. Wurde das Kopftuch noch vor einem Jahrhundert von Frauen als Symbol der Unterdrückung sowie der Rückständigkeit Arabiens angesehen und in einem zeremoniellen Akt im Jahr 1932 von Frauenaktivistinnen sogar ins Meer geworfen – als Symbol des Aufbruchs zu einem neuen, modernen Ägypten –, ist es im 21. Jahrhundert zum wichtigen Bestandteil der Identität der arabischen Frauen als Musliminnen geworden. Diese neue weltweite islamische Frauenbewegung, auch als islamischer Feminismus bezeichnet, entstand im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Re-Islamisierung. Islamische Theoretikerinnen versuchten, religiös begründete Rechte für Frauen zu erkämpfen, indem sie sich auf die Neuinterpretation der Texte des Islams konzentrierten. Die wesentlichen Argumentationsgrundlagen für die Einforderung von Frauenrechten wurden aus dem Koran und den Überlieferungen des Propheten Muhammad geschöpft.
Das bedeutet nicht, dass diese Frauenrechtlerinnen UN-Konventionen nicht in ihre Argumentation einbezogen: Sie prüften, ob diese mit ihren religiösen Überzeugungen vereinbar und somit akzeptabel seien. Die Mehrheitsströmung der islamischen Aktivistinnen lehnt bis heute Teilbereiche der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ab. Es bestehen Vorbehalte gegen die in vielen Verfassungen verfügte gesetzliche Gleichstellung von Männern und Frauen, gegen Artikel zum egalitären Erbrecht oder die sexuelle Selbstbestimmung.
Der Diskurs der islamischen Frauenbewegung lässt sich als "konservativ feministisch" einordnen: Die Vertreterinnen setzen nicht auf Konfrontation mit dem Staat, den religiösen Institutionen oder dem Volksglauben. Die Bewegung ist vorwiegend eine intellektuelle Bewegung, text- statt praxisbezogen. Die grundlegende Überzeugung der Mehrheit der islamischen Feministinnen ist, dass religiöse Texte feste Rollen für Männer und Frauen bestimmen. In diesen Rollen ergänzen sie sich und gewährleisten so den Fortbestand der moralischen Ordnung der Gesellschaft. Es geht ihnen dabei nicht um Gleichbehandlung der Geschlechter, sondern um gleiche Anerkennung der wichtigen gesellschaftlichen Funktionen von Mann und Frau, wie sie von Religion und "Natur" vorgesehen seien. Damit distanzieren sie sich von den säkularen Traditionen der Frauenbewegungen ihrer Länder und plädieren für eigene Reformansätze innerhalb eines islamischen Rahmens.
Die Mehrheit der politischen Aktivistinnen in den arabischen Ländern stellen jedoch immer noch die säkularen Feministinnen dar. Und selbst wenn deren Protagonistinnen gläubig sind, beziehen sie sich auf internationale Konventionen, nicht auf die Religion. Viele Frauenbewegungen, besonders säkulare, werden aus dem Ausland finanziert, was ihre Agenda stark beeinflusst. Gewalt in der Ehe, die Verheiratung minderjähriger Mädchen oder die Genitalverstümmlung sind nicht nur für Aktivistinnen, sondern auch für Geldgeber von Interesse. Für andere Aspekte, zum Beispiel soziale Gerechtigkeit, die Rechte palästinensischer Frauen unter der israelischen Besatzung oder Frauenrechte in ländlichen Gebieten gibt es dagegen meist weniger Geld. Diese Abhängigkeit vom Ausland ist eine große Herausforderung für die Frauenbewegungen. Und nicht nur der Westen bestimmt durch seine finanzielle Unterstützung die Programme der Frauenrechtsorganisationen. Auch arabische Länder wie Saudi-Arabien versuchen mit Geld Einfluss zu nehmen und ihrerseits Bewegungen in konservativere Bahnen zu lenken.
Die Unterscheidung der Frauenbewegungen in "konservative islamische" versus "moderne säkulare Bewegungen" ist jedoch unscharf, da sie mitunter auch miteinander verflochten sind. In Tunesien oder dem Jemen stehen die Bewegungen miteinander im Dialog; in Ägypten hingegen sind die islamischen und die säkularen Gruppen verfeindet. Oft ist die "alte" Frauenbewegung von der weit konservativeren islamischen "Tochterbewegung" enttäuscht. Die hitzige und von gegenseitigem Misstrauen geprägte Debatte, die Angst vieler säkularer Frauen vor dem Islamismus, aber auch die defensive Haltung und der Anspruch auf exklusive Religionsinterpretation vieler islamischer Aktivistinnen haben eine aggressive Atmosphäre erzeugt.
Doch bei aller Unterschiedlichkeit verfolgen die Frauenbewegungen einige gemeinsame Ziele. Alle setzen sich für das Frauenwahlrecht ein, für das Recht auf Bildung oder das Recht, ein eigenes Geschäft zu führen. Große Differenzen bestehen jedoch bei Themen wie der freien Religionswahl, Zivilehen zwischen verschiedenen Konfessionen, Reformen des Ehe-, Familien- und Erbrechts oder des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. Konservative, darunter säkulare, sozialistische und islamische Frauenbewegungen, wollen die Sexualität und die gesellschaftliche Rolle von Frauen und Männern gesetzlich, aber auch kulturell und traditionell kontrollieren. Liberale und demokratische Frauengruppierungen hingegen fordern häufiger umfassende Freiheiten, auch gegenüber der Gesellschaft, und dass der Staat die UN-Frauenkonvention CEDAW ratifiziert und in nationales Recht umsetzt.
In diesen Konflikt hinein agieren neue Kräfte – jene jungen Araberinnen der vierten Phase der Frauenbewegung. Sie sind pragmatisch und weniger in Ideologien verhaftet. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen handeln sie revolutionär, nicht reformorientiert. Sie sind zu Trägerinnen des Wandels geworden und haben neben der politischen eine sexuelle Revolution zum Ziel. Ihre Programme und Aktivitäten zu sexuellen Freiheiten, den Rechten von Homosexuellen oder der Ächtung sexueller Belästigung von Frauen zielen auf Veränderungen der Familie und sollen von dort ins öffentliche Leben drängen. Dazu organisieren sie auch regelrechte Patrouillen von Freiwilligen, die etwa auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen sexuelle Belästigung vorgehen. Ihr Handeln soll so zum Entstehen einer freien Debattenkultur in den arabischen Ländern beitragen.
Dieser Artikel ist erschienen in: Gerlach, Daniel et al.: Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Zeitbild, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 107-109.