Richter des Bundesverfassungsgerichts Bild: REGIERUNGonlineDas Grundgesetz ist die oberste Richtschnur allen staatlichen Handelns. Eine eigene Institution, das Bundesverfassungs-
gericht, wacht darüber, dass Parlament, Regierung und Rechtsprechung die Verfassung einhalten. Als Hüter der Verfassung kann es jeden Akt der gesetzgebenden Gewalt, der Regierung und Verwaltung und jede Entscheidung der Gerichte auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen. Dabei schützt es besonders die Grundrechte der Bürger.
Außer dem Schutz der Verfassung hat das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe, das Grundgesetz rechtsverbindlich zu interpretieren. Eine Verfassung enthält nur grundsätzliche und allgemein formulierte Regeln. Sie muss ständig neu ausgelegt und - dem gesellschaftlichen Wandel entsprechend - fortentwickelt werden. Das Grundgesetz gilt so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt. Es gibt kaum einen Artikel, zu dem keine interpretierende Entscheidung des Gerichts vorläge.
Gericht und Verfassungsorgan
"Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbstständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes." So lautet Paragraph 1 Abs. 1 des "Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht". Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht einerseits ein Gericht und andererseits ein Verfassungsorgan ist.
Als Gericht ist es ein Teil der rechtsprechenden Gewalt. Allen anderen Gerichten gegenüber hat es eine einzigartige Stellung. Es ist das höchste Gericht des Bundes, die letzte Instanz für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des politischen Lebens. Es kann die Entscheidungen aller anderen Gerichte aufheben, wenn sie der Prüfung auf die Verfassungsmäßigkeit nicht standhalten. Seine Entscheidungen sind für alle verbindlich.
Soweit sie die Rechtswirksamkeit von Bundes- und Landesgesetzen betreffen, haben sie sogar Gesetzeskraft und werden im Bundesgesetzblatt verkündet. Die herausragende Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts kommt darin zum Ausdruck, dass es ein Verfassungsorgan ist, gleichen Ranges mit den anderen Verfassungsorganen, dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten.
Das Bundesverfassungsgericht wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag, es muss von einer Person oder Institution angerufen werden. Seine Zuständigkeit ist in verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes geregelt, die wesentlichen Aufgaben sind in den umfangreichen Art. 93 und 100 detailliert aufgeführt.
Verfassungsbeschwerde
Mit einer Verfassungsbeschwerde kann jeder Bürger das Gericht anrufen, der glaubt, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein. Das kann ein Verwaltungsakt, eine Gerichtsentscheidung oder auch ein Gesetz sein. Seit Gründung des Gerichts im September 1951 sind bis Ende 2001 rund 131000 Verfassungsbeschwerden eingegangen. Die tatsächliche Verletzung von Grundrechten ist seltener, als diese Flut von Beschwerden vermuten lassen könnte. Nur 3268, das sind 2,5 Prozent aller Verfassungsbeschwerden, waren erfolgreich.
Verfassungsbeschwerde kann erst dann eingelegt werden, wenn der Rechtsweg ausgeschöpft ist, das heißt, wenn zuvor alle Instanzen des zuständigen Gerichts angerufen worden sind. Kammern, die mit je drei Bundesverfassungsrichtern besetzt sind, prüfen jede eingereichte Beschwerde auf ihre Zulässigkeit. Die Kammer kann die Beschwerde einstimmig annehmen oder ohne Begründung ablehnen, wenn sie unzulässig oder aussichtslos ist. Die weit überwiegende Mehrheit der Verfassungsbeschwerden scheitert an dieser Hürde.
Die Verfassungsbeschwerde muss schriftlich eingereicht werden. Es besteht kein Anwaltszwang. Das Verfahren ist kostenlos. Um zu verhindern, dass das Gericht in offensichtlich unbegründeten Fällen in Anspruch genommen wird, kann in Fällen von Missbrauch eine Gebühr von 2600 Euro auferlegt werden.
Normenkontrolle
Von großer politischer Bedeutung ist die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die Normenkontrolle. Es kontrolliert, ob ein Gesetz, eine Norm, mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Es gibt zwei Arten von Verfahren der Normenkontrolle:
Konkrete Normenkontrolle
Wenn ein Gericht bei der Verhandlung eines konkreten Falles zu der Überzeugung gelangt, dass das anzuwendende Gesetz nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, muss es das Verfahren unterbrechen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (bei Landesgesetzen des Landesverfassungsgerichts) einholen.
So haben beispielsweise 1992 mehrere Gerichte das Bundesverfassungsgericht angerufen, weil sie es für verfassungswidrig hielten, den Umgang mit Haschisch, vom Besitz über die Weitergabe bis zum Handel, unter Strafe zu stellen. In seinem viel diskutierten "Haschisch-Urteil" hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das einschlägige "Betäubungsmittelgesetz" verfassungsgemäß ist, das Besitz und Handel mit Haschisch verbietet. Lediglich der Eigenverbrauch geringer Mengen von Haschisch kann straffrei bleiben.
In seinem "Extremistenurteil" von 1975 zur Beschäftigung von Extremisten im öffentlichen Dienst hat das Bundesverfassungsgericht Stellung genommen, nachdem es von einem Landesverwaltungsgericht angerufen worden war. Das Bundesverfassungsgericht ist bei Anträgen auf konkrete Normenkontrolle besonders zurückhaltend und überprüft streng die Zulässigkeit. In der Mehrzahl der Fälle wird der Antrag zurückgenommen.
Abstrakte Normenkontrolle
Auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder mindestens eines Drittels der Bundestagsabgeordneten prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Das Gericht entscheidet in solchen Verfahren "abstrakt" über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder eines Vertrages, bevor das Gesetz in einem "konkreten" Fall angewendet worden bzw. der Vertrag rechtsgültig geworden ist.
Hier geht es um Entscheidungen in wichtigen Fragen, oftmals um zentrale politische Kontroversen. In der Regel wird das Gericht von der parlamentarischen Opposition, entweder von der Bundestagsfraktion oder von einer Landesregierung gleicher parteipolitischer Färbung, gegen Entscheidungen der regierenden Mehrheit angerufen. In anderen Fällen klagt die Bundesregierung gegen eine Landesregierung.
So klagte die sozialdemokratische Opposition 1952/53 erfolglos gegen einen deutschen Verteidigungsbeitrag. Eine Normenkontrollklage der bayerischen Staatsregierung 1973 gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR wurde abgewiesen, das Gericht legte aber den Vertrag in wichtigen Punkten einschränkend aus. Gesetze in Hamburg und Schleswig-Holstein, die Ausländern das kommunale Wahlrecht einräumen sollten, wurden 1990 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt.
Das Gericht hat festgestellt, dass nach dem Grundgesetz nur Deutsche ein Wahlrecht auf Bundes-, Länder- und auch auf kommunaler Ebene ausüben können. Wer Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union ist, hat jedoch seit dem 1. November 1993 nach dem EU-Vertrag das Recht, sich bei Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat an dessen Kommunal- und Europawahlen zu beteiligen. Normenkontrollverfahren waren auch die Streitigkeiten um das Mitbestimmungsgesetz von 1976, die Kriegsdienstverweigerung, die Abtreibung und das Asylrecht.
Meinungsverschiedenheiten zwischen Verfassungsorganen
Verfassungsstreitigkeiten zwischen Verfassungsorganen sind verhältnismäßig selten. Dabei geht es um Meinungsverschiedenheiten über die Rechte und Pflichten von Bund und Ländern oder um Streitigkeiten zwischen Ländern. Antragsberechtigt sind Bundesregierung oder Landesregierungen. Auf eine Klage der hessischen Landesregierung hin erging das "Fernsehurteil" von 1961, in dem eine von der Bundesregierung in Aussicht genommene Bundesfernsehanstalt für verfassungswidrig erklärt wurde.
Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen des Bundes nennt man Organstreitigkeiten. Prozessparteien können die obersten Bundesorgane (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident), aber auch Bundestagsfraktionen und einzelne Abgeordnete, zu bestimmten Streitfragen (Zulassung zur Wahl, Parteienfinanzierung, Fünfprozentklausel) auch Parteien sein.
Eine Organklage wurde beispielsweise von vier Bundestagsabgeordneten angestrengt, als Bundeskanzler Kohl 1983 mit dem Instrument der Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages herbeiführte. Die Frage, ob nicht auf diesem Wege faktisch die Selbstauflösung des Bundestages eingeführt worden sei, die im Grundgesetz nicht vorgesehen ist, wurde vom Bundesverfassungsgericht verneint.
Organklagen waren auch die Klagen der SPD- und FDP-Bundestagsfraktionen gegen die Bundeswehreinsätze in Somalia und bei der militärischen Überwachung des Embargos gegen Serbien, über die 1994 vom Bundesverfassungsgericht entschieden worden ist. Von den weiteren Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts ist vor allem die Aufgabe zu erwähnen, über die Verfassungsmäßigkeit von Parteien zu entscheiden und gegebenenfalls ein Parteiverbot auszusprechen.
Organisation und Richterwahl
Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern. Die Richter jedes Senates werden je zur Hälfte durch einen Wahlausschuss des Bundestages (zwölf Abgeordnete) und vom Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Amtsdauer der Richter beträgt zwölf Jahre, höchstens bis zum 68. Lebensjahr. Eine Wiederwahl ist nicht zulässig. Die Bedeutung des Gerichts macht die Besetzung jeder Richterstelle zu einem Politikum. Die Kandidaten werden nach einem Proporz von den Fraktionen ausgehandelt. Dabei kommt es gelegentlich zu heftigen Kontroversen, die teilweise in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit zwingt zu Kompromissen und schließt die Wahl von parteipolitisch besonders exponierten Kandidaten aus.
Die Nähe zu einer Partei hat sich als viel weniger bedeutungsvoll erwiesen, als der Parteienstreit vermuten ließe. Es besteht Übereinstimmung darüber, dass bei der Auswahl der Richter die fachliche Qualifikation die entscheidende Rolle spielt.
Zwischen Recht und Politik
Das Bundesverfassungsgericht genießt ein hohes Maß an Respekt und Ansehen. Umfragen zeigen, dass ihm die Bürger mehr Vertrauen entgegenbringen als den meisten anderen staatlichen Institutionen.
Es gibt auch Kritik am Bundesverfassungsgericht. Ihm wird vorgeworfen, es urteile über Fragen, die eigentlich in die Kompetenz des Bundestages fallen, es politisiere die Justiz oder verrechtliche die Politik. Naturgemäß können sich Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht nur gegen bestehende Gesetze oder gegen Entscheidungen der Exekutive richten.
Daher ist es in der Regel die Opposition, die das Gericht gegen Beschlüsse der Regierungsmehrheit anruft, um sie auf diesem Wege zu korrigieren, und es ist die Regierungsmehrheit, die sich darüber beklagt. Tatsächlich sind in der Geschichte der Bundesrepublik die großen politischen Kontroversen und viele weniger wichtige Streitfragen mit verfassungsrechtlichen Argumenten vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen worden.
Die Problematik der gerichtlichen Entscheidung politischer Konflikte wird vom Bundesverfassungsgericht sehr wohl gesehen. Es bekennt sich zu dem Grundsatz richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint), der vom amerikanischen Obersten Bundesgericht entwickelt worden ist. In der Regel liegt es jedoch nicht im Ermessen des Gerichts, die Behandlung einer politischen Streitfrage abzulehnen, wenn es angerufen wird.
Man kann auch eine zunehmende Tendenz feststellen, unpopuläre Entscheidungen dem Bundesverfassungsgericht zuzuschieben, weil sie dann in der Öffentlichkeit eher akzeptiert werden, als wenn sie vom Parlament getroffen werden. Die Auseinandersetzung um den Bundeswehreinsatz außerhalb des NATO-Bereichs ist dafür ein aktuelles Beispiel. Das Bundesverfassungs-gericht gibt allerdings immer wieder ungefragt Hinweise, wie es in bestimmten Fragen denkt.
Die Referenten in den Ministerien prüfen daher Gesetzentwürfe daraufhin, ob sie bei Anrufung des Gerichts Bestand haben. Die richterliche Selbstbeschränkung kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass das Gericht in der Regel die Übereinstimmung von Gesetzen und Verträgen mit der Verfassung feststellt und bestätigt, was die Politik entschieden hat.
Ein neueres Beipiel sind die Entscheidungen zu den Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Für Besitz, der in diesem Zeitraum enteignet wurde, besteht laut Einigungsvertrag kein Anspruch auf Rückerstattung oder Entschädigung. Diese Regelung ist vom Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen 1991 und 1996 mit der - umstrittenen - Begründung bestätigt worden, anders sei die Wiedervereinigung nicht zu erreichen gewesen. Das Gericht kann jedoch auch eine nur teilweise Verfassungswidrigkeit von Regelungen feststellen oder aber deren verfassungskonforme Auslegung für geboten erachten, wie zum Beispiel in der Entscheidung zum Grundlagenvertrag.
Seit 1970 können die Bundesverfassungsrichter, wenn sie mit der Entscheidung der Mehrheit nicht übereinstimmen, ihre abweichende Meinung in einem Sondervotum kundtun und begründen. Solche Sondervoten, die naturgemäß vor allem bei besonders umstrittenen Entscheidungen des Gerichts abgegeben werden, stoßen in der Öffentlichkeit auf großes Interesse. Sie zeigen, dass der Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess auch in einem solchen Kollegium nicht immer einhellig verläuft.
Die Verfassungsrichter bestätigen damit, dass unterschiedliche Auffassungen, die in der öffentlichen Diskussion geäußert werden, auch verfassungsrechtliche Gründe für sich in Anspruch nehmen können, selbst wenn dies im politischen Meinungsstreit oft bestritten wird. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts beruht darauf, dass seine Urteile von den verschiedenen politischen Richtungen akzeptiert werden. Auch wenn an einzelnen Urteilen heftige Kritik geübt wird, herrscht doch der Eindruck vor, das Gericht entscheide unparteiisch und wahre die Balance zwischen Rechtsinterpretation und politischer Wertung.
Aus: Pötzsch, Horst: Die deutsche Demokratie. 4. aktualisierte Aufl., Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2005, S. 15-119.