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Soziale Bewegungen in Venezuela | Lateinamerika | bpb.de

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Soziale Bewegungen in Venezuela

Ana María Isidoro Losada

/ 6 Minuten zu lesen

Durch den Amtsantritt von Präsident Chávez 1998 und die neu verabschiedete Verfassung wurde die Position der sozialen Bewegungen Venezuelas gestärkt: Mehr Beteiligung, direkte Interessenvertretung. Schon nach wenigen Jahren haben sich jedoch deutliche Konfliktlinien mit der Regierung abgezeichnet, die bis heute anhalten.

Venezoelaner demonstrieren gegen US-Präsident Bush anlässlich dessen Süd-Amerika-Reise. (© AP)

Um die Entwicklung und Vielschichtigkeit der aktuell in Venezuela agierenden sozialen Bewegungen verstehen und einordnen zu können, ist es hilfreich, das Augenmerk nicht nur auf die Phase der seit 1998 wiederholt demokratisch gewählten Regierung von Hugo Chávez Frías zu richten, sondern deutlich früher einzusetzen.

Bereits in den 1960ern und somit zu Beginn der nahezu vier Jahrzehnte währenden Ära der so genannten "paktierten Demokratie", in der neben den zwei politischen Parteien - der sozialdemokratisch orientierten AD (Acción Democrática) und der christdemokratischen COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independiente) -, insbesondere der Unternehmerdachverband Fedecamaras (Federación de Cámaras de Comercio y Producción), der Gewerkschaftsdachverband CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela), das Militär und die Kirche zu den zentralen Protagonisten des politischen Konsenses zählten, konstituierten sich erste Aufstandsbewegungen. Diese versuchten, die traditionell von den formaldemokratischen Partizipationsmöglichkeiten abgekoppelten Sektoren und marginalisierten Bevölkerungsgruppen politisch einzugliedern.

Von ihrer alltagspolitischen Relevanz und Mobilisierungsreichweite können diese Bewegungen noch als verhältnismäßig unbedeutend eingestuft werden. Nichtsdestotrotz ist ihnen bezogen auf den Beginn der Selbstorganisation sowie die Radikalisierung in Richtung emanzipativer (Befreiungs-)Bewegungen eine entscheidende Bedeutung beizumessen.

In den 1970er- und 1980er-Jahren formierten sich städtische Basisbewegungen, die zum einen mit der parallelen Auflösung bzw. Zerschlagung bewaffneter "Guerillabewegungen" durch den Staat deutlich an Zulauf und Bedeutung gewannen. Zum anderen deckten sie ein deutlich größeres Aktionsspektrum ab und entwickelten eine breit gefächerte Widerstands- und Protestkultur. In diesem Kontext sind vor allem Studenten-, Arbeiter- und Stadtteilbewegungen zu nennen.

Blutige Aufstände

Im Verlauf der 1980er-Jahre geriet Venezuela in eine Phase der sozioökonomischen Regression, die zu einer zunehmenden Delegitimation des politischen Systems und deren Repräsentanten führte. Als angesichts der negativen Wirtschaftsentwicklung die Regierung 1989 ein vom Internationalen Währungsfonds auferlegtes Strukturanpassungsprogramm umzusetzen begann, reagierten die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen sowie zahlreiche - teilweise spontan, teilweise schon länger - in Bewegungen organisierte Gruppen mit tagelangen, heftigen Massenprotesten. Diese sorgten unter dem Stichwort "caracazo" auch international für großes Aufsehen. Die blutige Niederschlagung der Aufstände markierte besonders drastisch den Höhepunkt einer sich über die letzten zwei Jahrzehnte deutlich herauskristallisierenden Ignoranz der Regierenden gegenüber der Lebensrealität der breiten Bevölkerung. Erstmals seit der demokratischen Transition 1958 regte sich in Venezuela ein massiver Protest von Seiten der Bevölkerungsmehrheit.

In den 1990ern nahmen insbesondere in Caracas und anderen urbanen Zentren Venezuelas lokal verankerte Stadtteilbewegungen, die vom Staat massiv vernachlässigte Bereitstellung von (Basis-)Infrastruktur selbst in die Hand, sodass partiell eine selbstverwaltete Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Wohnraum organisiert werden konnte. Aus den Erfahrungen dieses Selbstverwaltungskontextes flossen 1998 und 1999 viele Anregungen in die Ausarbeitung der neuen Verfassung ein. Teile dieser heterogenen und bis dato keiner übergreifenden Koordination unterstellten Basisbewegungen fanden im Vorfeld des Jahres 1992 politische Anschlussmomente mit den Protagonisten des zivil-militärischen Umsturzversuches. Dennoch gelang es zu diesem Zeitpunkt nicht, die von Hugo Chávez Frías befehligten aufständischen Militärs mittleren Ranges und die diffus agierenden urbanen Bewegungen zusammenzubringen und zielgerichtet zu koordinieren.

Dessen ungeachtet wurde in dieser Phase der ideologische und programmatische Grundstein für die aktuell relevante Forderung eines "partizipativen und protagonistischen" Demokratiekonzeptes gelegt. Dem Einwirken dieser Bewegungen sind einerseits die horizontalen und partizipativen sowie radikaldemokratischen Elemente der so genannten "bolivarianischen Revolution", andererseits aber auch der deutlich sozial konnotierte Forderungskatalog der militärischen Aufständischen geschuldet.

Der Bürger als Protagonist

Mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez 1998, der anschließenden Einberufung der verfassunggebenden Versammlung sowie der Verabschiedung der neuen "Bolivarianischen Verfassung" wird die bis dato geltende liberal-repräsentative Demokratiepraxis von einer partizipativen Demokratieform abgelöst, zu deren Grundfesten unter anderem die protagonistische Rolle der Bevölkerung zählt. In 76 Artikeln wird die Art und Weise sowie die Reichweite der Bevölkerungsbeteiligung an Entscheidungen des Staates ausgeführt. Mit der Verabschiedung der neuen Verfassung werden der Bevölkerung neue politische Partizipationsräume und Möglichkeiten der direkten Interessenvertretung eröffnet. In diesem Kontext wird den sozialen Bewegungen eine zentrale Rolle bei der Rekonfiguration der offiziellen politischen Sphäre eingeräumt.

Ausgehend von den skizzierten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen setzt derzeitig eine Ausdifferenzierung des Panoramas der sozialen Bewegungen ein, wobei grob drei in sich keinesfalls als homogen zu begreifende Strömungen zu unterscheiden sind:

Zum einen lassen sich die so genannten "verwalteten Bewegungen" identifizieren. Dabei handelt es sich um Bewegungen, die in der Regel in einem sozialpolitischen Kontext über eine direkte Einflussnahme bzw. aktive Anreizpolitik von Seiten der Regierung entstehen: Als Beispiele können hier diejenigen sozialen Organisationsformen aufgeführt werden, die sich beispielsweise im Rahmen der Umsetzung der breit angelegten Sozialprogramme, den "misiones", herauskristallisiert haben. Diese zeichnen sich durch eine direkte Interaktion mit dem Staat, aber auch eine deutlich vom Staat und den jeweiligen Ressourcen abhängige Form der Organisierung aus. Hier dominiert eine Art top-down-Struktur. Der Aufbau bzw. die Förderung von so genannten "Landkomitees" (comités de tierra), Gesundheits-, Wasser- und Energiekomitees, "bolivarianischen Zirkeln" (círculos bolivarianos), Gemeinderäten (consejos comunales) sowie die Unterstützung von weiteren Mobilisierungsformen spiegelt den Versuch der Regierung wider, die Bevölkerung möglichst flächendeckend in das neue Regierungsprojekt aktiv einzubinden.

Zum anderen finden sich hybride Formen der sozialen Bewegungen, die eine intermediäre Position oder Scharnierfunktion zwischen dem Staat, den top-down strukturierten Bewegungen und den ehemals in den 1980er- und 1990er-Jahren zentralen Protestbewegungen einnehmen. Zu dieser Strömung lassen sich unter anderem regierungsfreundliche, aber durchaus kritische (regierungs-)unabhängige Bauern-, Arbeiter-, Studentenbewegungen, indigene Bewegungen sowie Bewegungen aus dem Spektrum der alternativen Medien und Kultur auf der lokalen, regionalen sowie nationalen Ebene zählen.

Großes Konfliktpotenzial

Hugo Chávez ist es zwar bis dato gelungen, die diffusen sozialen Basisbewegungen zusammenzuhalten und weitgehend in das bolivarianische Projekt zu integrieren, allerdings zeichnen sich zunehmend deutliche Konfliktlinien zwischen den hier skizzierten regierungsunabhängigen Bewegungen und der Zentralregierung ab. Die bestehenden Spannungen und Differenzen entzünden sich an der Ausgestaltung von verschiedenen Regierungsprojekten: Besonders umstritten sind die anvisierten Maßnahmen in Verbindung mit der Förderung des Kohleabbaus, des Bergbaus, der Umsetzung der Landverteilung, den Konzepten für die Kreditvergabe und dem anvisierten Modell für eine ländliche Entwicklung. Hier ist mit Entscheidungen zu rechnen, die oftmals den Interessen der direkt betroffenen Bevölkerungsgruppen widersprechen und die deshalb ein großes Konfliktpotenzial bergen. Der politische Forderungskatalog dieser regierungsunabhängigen sozialen Bewegungen reicht über die bloße Bereitstellung von staatlichen Ressourcen weit hinaus. In diesem gesellschaftlichen Spektrum wird vielmehr über konkrete Umsetzungsmöglichkeiten einer grundlegend anderen Demokratieform diskutiert. So geht es beispielsweise um eine direkte Selbstverwaltung der Ressourcen, des Bildungswesens und der Produktionsformen.

Die dritte und ebenfalls keineswegs als homogen zu begreifende Strömung entspricht den regierungskritischen bis -feindlichen Bewegungen, die allenthalben unter dem Begriff der "Zivilgesellschaft" zusammengefasst werden. Wenn im venezolanischen Kontext von Zivilgesellschaft die Rede ist, dann sind damit überwiegend Akteure der Opposition gemeint, die im Wesentlichen die alte Herrschaftselite repräsentieren, welche zu den zentralen Akteuren des Putschversuches 2002 und dem von 2002 bis 2003 durchgeführten Unternehmerstreik zählen und die Regierung Chávez auch weiterhin vehement ablehnen. Zu diesem Spektrum zählen Vertreter und Anhänger des Unternehmerdachverbands Fedecamaras, des Gewerkschaftsdachverbands CTV, des alten Zweiparteiensystems sowie die aus ihnen entstandenen neuen Parteien und deren Anhänger. Darüber hinaus lassen sich Vertreterinnen und Vertreter der gutsituierten Mittel- und Oberschicht zu den weiteren Akteuren dieser sozialen Bewegungen zählen, die massiv für eine Rückkehr zum Status quo ante eintreten und die aktuelle Regierung als eine Gefahr für die eigenen Privilegien wahrnehmen.

Literatur

Denis, Roland (2001): Los fabricantes de la rebelión (Movimiento Popular; Chavismo y Sociedad en los años noventa). Caracas.

Denis, Roland (2006): Venezuela bolivariana: ¿revolución dentro de la revolución?, in: Prensa de frente: Interview vom 7. Juli 2006.

Levine, Daniel/Romero Catalina (2004): Movimientos urbanos y desempoderamiento en Perú y Venezuela, in: América Latina Hoy, April, Nr. 36, Universidad de Salamanca, S. 47-77.

López Maya, Margarita (2003): Movilización, institutcionalidad y legitimidad en Venezuela, in: Revista Venezolana de Economía y Ciencias Sociales, Nr. 1/2003, S. 211-226.

López Maya, Margarita (2006) : Del Viernes negro al Referendo Revocatorio, Alfadil Ediciones, 2006, 2a Edición, Caracas

Weitere Inhalte

Ana María Isidoro Losada ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Externer Link: "Fachgebiet für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen" der Universität Kassel. Zu ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Nord-Süd Beziehungen, Lateinamerika und Globalisierung. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit den aktuellen politischen und sozialen Entwicklungen in Venezuela.