Nicaragua hat in den vergangenen 30 Jahren mehrere dramatische politische Wechselbäder durchgemacht: Von der Diktatur des habgierigen Somoza-Clans (1936-1979) über die sozialrevolutionäre Dekade unter der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN (1979-1990), rechtspopulistische und neokonservative Regierungen der Liberalen Partei bis zur Rückkehr des ehemaligen Sandinistenchefs Daniel Ortega (seit Januar 2007).
Das Land in der Mitte der zentralamerikanischen Landenge war wegen seiner geostrategischen Lage immer schon von besonderem Interesse für die Großmächte. Schon König Philipp II von Spanien (1556-1598) plante einen interozeanischen Kanal durch Nicaragua. Für die USA wurde der Transportweg über Río San Juan und Nicaraguasee zur schnellsten und sichersten Verbindung zwischen New York und Kalifornien. Auch nach der Eröffnung des Panama-Kanals 1914 verlor Washington das Interesse an Nicaragua nicht. Nach 20-jähriger Besetzung (1912-1932) wurden die Somozas als treueste Vasallen in der Region installiert. So reagierten die USA auch besonders empfindlich, als die Sandinisten nach jahrelangem Guerillakrieg und Volksaufstand eine Art tropischen Sozialismus mit ausgeprägtem nationalistischem Charakter einführten. Die vom Geheimdienst CIA aus ehemaligen Nationalgardisten der Diktatur rekrutierten Söldnertruppen ("Contras") konnten das anfangs sehr populäre Revolutionsregime zwar nicht stürzen, aber demoralisieren und ökonomisch ausbluten.
Neoliberaler Zug der Zeit
Als bei freien Wahlen im Februar 1990 die von den USA gesponserte Zehnparteienallianz Unión Nacional Opositora (UNO) gewann, folgte zunächst eine dreimonatige Übergangsperiode, denn weder die besiegten Sandinisten, noch die siegreichen Oppositionellen unter der Verlegerwitwe Violeta Barrios de Chamorro waren auf dieses Ergebnis vorbereitet. General Humberto Ortega, dem Bruder des abgewählten Präsidenten Daniel Ortega, blieb es vorbehalten, aus der politisierten Sandinistischen Armee von fast 100.000 Mann eine professionelle Truppe mit nurmehr 10.000 Soldaten zu schmieden. Während der Regierung Chamorro (1990-1997) mussten Eigentumsverhältnisse geschlichtet, die Hyperinflation gebändigt, die Währung stabilisiert, zehntausende Soldaten und Contra-Kämpfer entwaffnet und in die Gesellschaft integriert werden. Dafür war es notwendig, die von den Sandinisten initiierte Landreform fortzusetzen. Denn Soldaten wie Contras sollten vor allem durch Produktivland eine neue wirtschaftliche Basis bekommen. Staatsbetriebe wurden teils geschlossen, teils privatisiert. Unternehmer aus dem Umfeld der Regierung machten da den besten Schnitt. In zahlreichen Streiks leisteten die sandinistischen Gewerkschaften Widerstand gegen die wirtschaftspolitischen Veränderungen, Beseitigung von Subventionen und geschützten Räumen, Betriebsschließungen, massiven Abbau von Staatsangestellten und politisch bedingte Entlassungen, konnten aber den neoliberalen Zug der Zeit nur verzögern, nicht aufhalten.
Der Ausbau des Gesundheitswesens, freier Zugang zur Bildung, Umverteilung des fruchtbaren Landes und eine blockfreie Außenpolitik waren Pfeiler der sandinistischen Reformpolitik gewesen. Der systematische Rückbau dieser Reformen begann erst unter der Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Arnoldo Alemán (1997-2002). Die Privatisierung des öffentlichen Gesundheits- und Schulwesens begann schleichend. Zwar sind öffentliche Schulen und die Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern noch immer gratis, doch ist die Qualität so dramatisch gesunken, dass jeder, der es sich leisten kann, seine Kinder in Privatschulen schickt und seine Leiden in privaten Kliniken behandeln lässt. Außerdem wurden die unterfinanzierten Schulen gezwungen, informell Gebühren einzufordern, um den Unterrichtsbetrieb zu garantieren.
Unter Alemán wurden auch die Grundlagen für eine Gegenagrarreform gelegt. In der sandinistischen Zeit war Land bevorzugt an Genossenschaften vergeben worden. Es war unteilbar und unveräußerlich. Das heißt, wenn jemand die Kooperative verließ, hatte er keinen Anspruch auf ein anteiliges Stück Land. So sollte der wirtschaftliche Zusammenhalt gewährleistet werden. Ein neues Gesetz erlaubte jetzt die Parzellierung und den Verkauf des Genossenschaftslandes. Kooperativen, die weniger gut liefen, lösten sich auf. Das Land wurde zerstückelt und meist von Großgrundbesitzern und Spekulanten billig aufgekauft. Auch Präsident Alemán beteiligte sich an diesem lukrativen Geschäft und sicherte sich die besten Liegenschaften am Pazifikstrand, wo dann auch bald Straßen gebaut und eine öffentliche Stromversorgung eingeleitet wurden.
Konservatives Sammelbecken
Auch sonst blühte unter Arnoldo Alemán die Korruption. Geberorganisationen hielten ihre Kooperationsgelder zunehmend zurück. Als der Chef des Finanzamtes Byron Jerez, ein besonders enger Vertrauter des Präsidenten, internationale Spenden für die Opfer des Wirbelsturms Mitch für den Bau seiner Strandvilla abzweigte, empörte sich auch die nicaraguanische Öffentlichkeit. Alemán wurde schließlich nach Ende seiner Amtszeit wegen Veruntreuung von 100 Millionen US-Dollar zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt.
Dass es zu diesem Strafprozess überhaupt kommen konnte, war einer Verschiebung im politischen Kräfteverhältnis und der Spaltung der Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC) zu verdanken. Die PLC geht auf Diktator Somoza zurück und wurde nach Zersplitterung der Parteienlandschaft in der sandinistischen Ära zum Sammelbecken der rechten und konservativen Kräfte. Unter Alemán zerfiel die Partei in zwei Flügel: einen populistischen, der dem Parteiführer bedingungslos ergeben war und dessen Mitglieder in irgendeiner Weise an der Korruption beteiligt waren, und in einen pragmatisch-wirtschaftsliberalen Flügel. Der wurde vom ehemaligen Chef des Unternehmerverbandes Enrique Bolaños Geyer angeführt. Er diente unter Alemán als Vizepräsident und wurde dann nach den Wahlen von 2001 dessen Nachfolger. Eines seiner Wahlversprechen war die Korruptionsbekämpfung gewesen. Gemeinsam mit der FSLN Daniel Ortegas brachte er in der Nationalversammlung die nötige Mehrheit zustande, um Alemán, der parlamentarische Immunität genoss, der Justiz auszuliefern.
Von Spaltungen erschüttert waren aber nicht nur die Liberalen. Auch die Sandinisten, deren Anführer Daniel Ortega bereits drei Wahlen in Folge verloren hatte, zerfielen in mehrere Fraktionen. Die Differenzen entstanden angesichts der Politik und der Person des Parteichefs. Ortega wurde von seiner eigenen Stieftochter Zoilamérica Narváez beschuldigt, er hätte sie seit ihrem elften Lebensjahr sexuell missbraucht. Zwar bestritt Ortega die Vorwürfe nie inhaltlich, mobilisierte aber die Partei zu seiner Verteidigung. Vor allem die sandinistische Frauenbewegung ging auf Distanz. Politisch wollte ein Teil der FSLN einen überraschenden Pakt mit Arnoldo Alemán nicht mittragen. Die beiden Parteichefs einigten sich 1999 in einer umstrittenen Vereinbarung darauf, die wichtigsten Posten in Justiz, Wahlrat und Kontrollinstanzen wie den Rechnungshof unter ihren Gefolgsleuten aufzuteilen. Das Wahlrecht wurde so reformiert, dass ein Kandidat auch ohne absolute Mehrheit die Präsidentschaft erlangen konnte. Schließlich sicherten sie sich gegenseitig auch noch Freiheit von Strafverfolgung zu.
Mit linker Rhetorik auf pragmatischem Kurs
Menschenrechtsorganisationen klagen, dass die Institutionen, vor allem die Justiz, von Daniel Ortega für eigene Zwecke missbraucht werden. Unliebsame politische Rivalen werden unter fadenscheinigen Vorwürfen unter Anklage gestellt, politische Freunde freigesprochen.
Ortega hat die linke Rhetorik beibehalten, politisch aber längst auf einen pragmatischen, für manche opportunistischen Kurs eingeschwenkt. Die Versöhnung mit dem erzkonservativen Kardinal Miguel Obando y Bravo sollte ihm ebenso den Weg zurück zur Macht ebnen, wie seine Wahlallianz mit dem ehemaligen Bankmanager Jaime Morales Carazo. Ein Preis für die Unterstützung der konservativen Kirche war die sandinistische Initiative gegen die Straffreiheit der medizinisch indizierten Abtreibung wenige Tage vor den Wahlen.
Diese Bündnispolitik und das reformierte Wahlgesetz ermöglichten es Daniel Ortega, die Wahlen vom November 2006 vor den beiden Kandidaten der liberalen Fraktionen zu gewinnen. Nach seinem Amtsantritt im Januar 2007 setzte er einige sozialstaatliche Initiativen. So wurde der Schulbesuch wieder frei und ein Null-Hunger-Programm zur Bekämpfung der schlimmsten Armut in Gang gesetzt.
Die seit Jahren schwelende Energiekrise wird durch günstige Öllieferungen von Venezuela nur gemildert, nicht beseitigt, denn: Nach der Privatisierung der Stromversorgung unterblieben überfällige Investitionen in die altersschwachen Kraftwerke.
Nicaraguas Wirtschaft, die Agrarprodukte wie Kaffee, Bananen, Sesam aber auch Rindfleisch und Meeresfrüchte exportiert, wäre ohne die Geldsendungen der Emigranten nicht lebensfähig. Jeder zehnte Staatsbürger lebt im Ausland. 2006 wurden von Nicaraguanern und Nicaraguanerinnen, die vor allem in den USA und im benachbarten Costa Rica leben, zwischen 700 Millionen und eine Milliarde US-Dollar an die Familien zu Hause überwiesen.
Linkliste
Allgemeine Daten
Externer Link: staepa-berlin.de
Wirtschaftsdaten
Geographie, Geschichte
Externer Link: inwent.org
Erbe der Revoution - Externer Link: woz.ch
Interozeanischer Kanal - Externer Link: woz.ch
Nicaragua: Von der Landreform zur Gegenreform - Externer Link: lateinamerika-anders.org
Der stille Staatsstreich - Externer Link: lateinamerikanachrichten.de
Nicaragua: Moralischer Bankrott einer Revolution - Externer Link: derstandard.at
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