Kolumbiens Verfassung aus dem Jahr 1991 ist ein wunderschönes Dokument. Sie garantiert regelmäßige Wahlen auf nationaler, departamentaler und Gemeinde-Ebene, sie verspricht, die bürgerlichen Freiheiten zu gewährleisteten, sie räumt den Gewerkschaften ein Streikrecht ein und sichert den Massenmedien die Unabhängigkeit zu.
Ausgangslage: Anspruch und Wirklichkeit
Die Wirklichkeit sieht leider anders aus: Die offiziellen Institutionen lassen zu, dass die Zivilbevölkerung ganzer Landesteile terrorisiert wird – zum einen von bewaffneten Guerillaorganisationen wie FARC und ELN und zum anderen von paramilitärischen Organisationen, die den Großgrundbesitzern und Drogenbaronen nahe stehen. Die Gerichte scheitern bei der Strafverfolgung oftmals auf der ganzen Linie. Insgesamt sind zwar unter der Regierung von Álvaro Uribe seit 2002 weniger Menschen als zuvor ermordet worden und die Sicherheitslage hat sich insbesondere in Zentralkolumbien gebessert. Aber die Todesraten sind gleichwohl erschreckend: In der ersten Amtszeit Uribes sind der kolumbianischen Juristenkommission zufolge mehr als 11.000 Menschen aus soziopolitischen Gründen getötet worden, beinahe 9.000 verloren bei Kämpfen ihr Leben. Die Armee wird für rund 15 Prozent, die Guerilla für beinahe ein Viertel der Tötungen verantwortlich gemacht, paramilitärische Gruppen und ihre Nachfolgeorganisationen morden trotz eines von der Regierung eingeleiteten Demobilisierungs- und "Reintegrationsprozesses" weiter.
Wer vom Staat größere Anstrengungen zur Einhaltung der Menschenrechte einfordert, wird oftmals selbst zur Zielscheibe der Gewalt: In der ersten Amtszeit Uribes mussten 52 Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und 271 Gewerkschaftsangehörige wegen Anschlägen ihr Leben lassen. Die Guerilla entführt jedes Jahr hunderte Zivilpersonen. Hunderttausende von Menschen, zumeist Bauernfamilien, befinden sich auf der Flucht, weil sie durch die Gewaltakteure von ihren Ländereien vertrieben worden sind.
Entstehung sozialer Bewegungen vor dem Hintergrund staatlicher Defizite
Kolumbien ist, das steht fest, keine perfekte Demokratie, Kolumbien ist ein schwacher Staat, ein Staat, dessen Regierung das Gewaltmonopol nicht durchzusetzen vermag. In vielen Landesteilen dominieren einzelne Gewaltakteure, die Selbstjustiz ist weit verbreitet, von der Verwirklichung eines friedlichen Zusammenlebens ist man weit entfernt. Dieser Befund ist zweifellos keine gute Voraussetzung für die Entfaltung sozialer Bewegungen. Und trotzdem gibt es sie – zum Teil gerade wegen dieser widrigen Rahmenbedingungen. Die Entstehung, die Themen, die Strategien und die Handlungsmuster der meisten kolumbianischen Bewegungen sind denn auch in Zusammenhang mit dem eingeschränkten Handlungsspielraum zu sehen. In Kolumbien kämpfen soziale Bewegungen nicht zuletzt um die Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte und um soziale Verbesserungen für einzelne Segmente der nicht bewaffneten Zivilbevölkerung. Ohnehin ist es die kolumbianische Bevölkerung gewohnt, sich selbst zu organisieren, da sie von den staatlichen Institutionen nicht allzu viel erwartet – dieses zivile Organisationspotenzial ist eine wichtige Ressource für die Entstehung sozialer Bewegungen.
Träger, Ziele und Inhalte sowie Adressaten der sozialen Bewegungen
Die sozialen Bewegungen in Kolumbien haben eine gewisse Tradition. Für die letzten 25 Jahre vor der Jahrtausendwende hat der Centro de Investigación y Educación Popular (CINEP) 10.975 soziale Proteste gezählt. Darunter fallen Streiks, Mobilisierungen, Märsche, Versammlungen, Landbesetzungen, Straßensperren und Konfrontationen mit den staatlichen Sicherheitskräften. Unterscheidet man nach Akteuren, so gingen 34 Prozent auf das Konto von Arbeitern, 26 Prozent fielen auf städtische Bewegungen, 17 Prozent auf Indígenas und Campesinos und 16 Prozent auf Studenten. Hinsichtlich der gestellten Forderungen ging es in 16,4 Prozent um die Boden- und Wohnproblematik, in 15 Prozent um Gesetzes- und Vertragsverletzungen, in 12,9 Prozent um die Arbeitsbeziehungen, Löhne und Arbeitsrechte, in 12,8 Prozent um Menschenrechtsverletzungen, in 12,6 Prozent um öffentliche Dienstleistungen und Transport, in 10,8 Prozent um staatliche Politik und in 8,5 Prozent um soziale Dienste. Die Land- und Wohnproblematik nimmt den Spitzenplatz der Mobilisierungen ein, was bei der fortschreitenden Landkonzentration, der Landflucht aufgrund von Gewaltanwendung und der Wohnungsnot in den Vorstädten nicht verwundert. Betroffen sind vor allem Indígenas und Campesinos; sie fordern vom Staat die Einhaltung ihrer Rechte ein. Die Klagen über Vertragsverletzungen und -änderungen bezogen sich überwiegend auf die veränderten Arbeitsbeziehungen infolge der neoliberalen Umstrukturierungen während der 1990er-Jahre. Auch hier wurde der Staat zum Handeln aufgerufen. Proteste wegen Menschenrechtsverletzungen kamen ebenfalls häufig vor, was vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewalt, auch wegen des Drogenhandels, zu deuten ist. Die öffentliche Hand war außerdem die Zielscheibe von Unmutsäußerungen wegen ihrer Unfähigkeit, Wasser, Energie und Transportanbindung in ausreichendem Maße und zu günstigen Preisen bereitzustellen.
Gründe für die Mobilisierung
Betrachtet man die regionale Verteilung der Mobilisierungen, so fällt auf, dass einerseits das politische Zentrum Bogotá und andererseits die bevölkerungs- und ressourcenreichen "Departamente" Antioquia, Santander und Valle im Vordergrund stehen. Wie man weiß, ist die Entstehung sozialer Bewegungen nicht auf ein messbares Maß an Armut zurückzuführen; auch in Kolumbien ist die Perzeption von gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, also die subjektive Wahrnehmungsebene, ausschlaggebend für die Mobilisierung von Menschen. In diesem Zusammenhang dürfte die durch Umfragen nachgewiesene kritische Beurteilung der marktwirtschaftlichen Reformen und der einseitigen Bereicherung durch eine Minderheit der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen. Es geht um die Durchsetzung von Interessen und Verteilungskämpfe durch Gruppen, die durch die Gewaltakteure nicht repräsentiert werden.
Fragmentierung und Vielfalt
Noch etwas ist auffallend: Die meisten sozialen Bewegungen haben einen lokalen oder regionalen Schwerpunkt. Kolumbien ist ein fragmentiertes Land, und die sozialen Bewegungen sind ein getreuer Spiegel davon. Die Träger sind Indígenas im Cauca, negros an der Pazifikküste und Taxifahrer oder Lehrer in Bogotá oder Studenten in Cali. Landesweite Bewegungen gibt es, aber sie kommen selten vor. Vielmehr sind sie Ausdruck der Vielfalt hinsichtlich der regionalen Herkunft, der ethnischen Zuordnung, der beruflichen Tätigkeit, des Einkommens, des Geschlechts oder des Alters im Land.
Die Vielgestaltigkeit und die lokale Verankerung der sozialen Bewegungen Kolumbiens hat aber auch eine Schattenseite: Ihre Anführer und Mitglieder werden immer wieder zur Zielscheibe selektiver Gewalt, ohne dass sie von den Behörden wirksam geschützt werden, und ihre Druckkulisse ist häufig zu klein, um die angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen erzwingen zu können. Das Zweiparteiensystem von liberaler und konservativer Partei, das lange Zeit zwischen Staat und Gesellschaft vermittelte, hat sich in den 1990er-Jahren weitgehend verbraucht. Der Institutionalisierungsgrad der beiden Traditionsparteien hat rasant abgenommen. Diese Situation wäre, so könnte man denken, für soziale Bewegungen eine gute Möglichkeit, den Marsch durch die Institutionen anzutreten. Fakt ist, dass sie sich zwar im öffentlichen Raum neben den mächtigen Interessenvertretungen der Industrie, der Kaffeeproduzenten, der Banken, der Viehzüchter und der Holdings positionieren. Tatsache ist aber auch, dass die organisatorischen und Mobilisierungskapazitäten vieler Gruppierungen nach wie vor zu gering sind, um die Legislativen "zu erstürmen". Soziale Bewegungen lösen sich oftmals auf, ohne ihre Ziele erreicht zu haben, wie das bei der Bewegung gegen die Entführung und für die Freilassung von Entführten geschehen ist oder bei der Bewegung gegen bewaffnete Akteure im Land. Immerhin haben die Indígenas mit ihrer Dachorganisation Organización Nacional de Indígenas (ONIC) gezeigt, dass einiges möglich ist. Auch das linksdemokratische Bündnis Polo Democrático nimmt Forderungen von sozialen Bewegungen auf. Aber auch diese Gruppierungen müssen erkennen, dass die erreichten Gesetze und Regelungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht eingehalten werden.
Lage der sozialen Bewegungen unter der Regierung Uribes
Unter der Regierung Uribes, die eine sehr hohe Zustimmung in der Bevölkerung genießt, hat die Zerschlagung der linken Guerilla oberste Priorität. Soziale Postulate und die Forderung der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen sind auf nationaler Ebene nur schwer durchzusetzen. Gleichwohl haben sich auch unter Uribe spezifische Bewegungen konstituiert. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Bewegung gegen den Plan Colombia und die Zerstörungen im Kampf gegen den Anbau von Drogen durch Herbizide sowie die Studentenproteste gegen Reformen im Bildungswesen.
Literatur
Archila Neira, Mauricio: Colombia en el cambio de siglo: actores sociales, guerra y política. In: Nueva Sociedad, Nr. 182, 2002, S. 76-89.
Fischer, Thomas: Krieg und Frieden in Kolumbien. In: Heinrich-W. Krumwiede/Peter Waldmann (Hrsg.): Bürgerkriege: Folgen und Regulierungsmöglichkeiten. Baden-Baden 1998, S. 295-330.
Green, John W.: Kolumbianische Volksbewegungen und Massenmobilisierungen. In: Werner Altmann/Thomas Fischer/Klaus Zimmermann (Hrsg.): Kolumbien heute. Politik – Wirtschaft – Kultur. Frankfurt a., M. 1997, S. 175-198.
Informe de la Alta Comisionada de las Naciones Unidas para los Derechos Humanos sobre la situación de los derechos humanos en Colombia. Ginebra, 5 de Marzo 2007.
Mondragón, Héctor: Movimientos sociales. Una alternativa democrática para el conflicto Colombiano. Bogotá 2005. [Enthält Verzeichnis und Anschrift der sozialen Bewegungen].
Tilly, Charles: Social Movements, 1768-2004. Boulder, Col. 2004.