Einleitung
Weltweit zittern viele Menschen täglich um ihre Arbeitsplätze, fürchten um ihre Existenz. Die bevorstehende Schließung des Opel-Werks in Antwerpen durch den US-Konzern General Motors wird Tausende ihre Jobs kosten. Im irischen Limerick hat der Computerhersteller Dell Ende des vergangenen Jahres sein Werk geschlossen und 1.900 Menschen entlassen, mit fatalen Folgen für die gesamte Region.
Dies sind nur einige Beispiele aus dem Herzen Europas. Die Folgen der schlimmsten Wirtschaftskrise seit fast einem Jahrhundert sind hier und in den USA noch immer deutlich zu spüren. In Argentinien ist die Bevölkerung an derartiges Geschehen längst gewöhnt. Es ist lediglich eine der zyklisch wiederkehrenden Krisen, die jüngste war zu Anfang dieses Millenniums. Im November 2001 kam es zu einer Kapitalflucht in Milliardenhöhe, die Bankguthaben der Sparer wurden eingefroren, die Menschen protestierten auf den Straßen, und die Regierung trat zurück. Fast 3.000 argentinische Unternehmen meldeten im Jahr 2001 Insolvenz an.
In dieser explosiven Stimmung entstanden die sogenannten empresas recuperadas (reaktivierte Unternehmen).
Im Jahr 2004 gab es 161 empresas recuperadas, 2009 waren es bereits 240, die meisten davon in den Provinzen Buenos Aires, Santa Fé und Córdoba. Der Großteil sind kleine und mittelständische Unternehmen, nur vier Prozent beschäftigen mehr als 200 Personen. Ihre Mitglieder entstammen allen Wirtschaftssektoren: Lehrer, Grafiker und Journalisten sind ebenso darunter wie Krankenschwestern oder Informatiker. Die vorwiegende Anzahl kommt jedoch aus der Metallindustrie. In der Regel wenden die Mitglieder der empresas recuperadas bei den Besetzungen keine Gewalt an. Sie erhalten allerdings zeitweise Unterstützung von den sogenannten piqueteros.
Rechtlicher Rahmen
Weil der Gesetzgeber schnell handelte und eine Selbstverwaltung ermöglichte, gelang es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der empresas recuperadas, ihre Arbeitsplätze zu sichern. Einerseits wurden diverse Programme erlassen, um ihnen finanziell und technisch unter die Arme zu greifen, andererseits schuf der Staat einen legalen Rahmen für die ehemalige Belegschaft, so dass eine strafrechtliche Verfolgung wegen der Unternehmensbesetzungen ausgeschlossen wurde. Zunächst wurde das Insolvenzrecht geändert. Die sogenannte "zeitweilige Nutzung" (uso temporario), gemäß Artikel 189, erlaubt es denjenigen Erwerbslosen, die sich zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen haben, das Unternehmen für eine bestimmte Dauer selbständig zu verwalten. Die "zeitweilige Nutzung" beginnt mit der Einleitung des Insolvenzverfahrens und endet mit der Zwangsversteigerung zur Befriedigung der Gläubiger. Sie unterbricht also das Insolvenzverfahren und verschiebt den Termin der Zwangsversteigerung, um den Erwerbslosen die Möglichkeit zu geben, das Unternehmen legal zu betreiben (s. Abbildung der PDF-Version).
Die ehemalige Belegschaft kann, in Form einer Genossenschaft, einen Antrag auf die vorübergehende Selbstverwaltung stellen. Die Entscheidung darüber, ob diesem stattgegeben wird und wie lange die "zeitweilige Nutzung" dauert, unterliegt allerdings allein dem zuständigen Richter.
Die Idee, den Artikel 189 im Konkursrecht zu ändern, war ursprünglich mit dem Gedanken verknüpft, dass nicht nur die Erwerbslosen geschützt werden sollten, sondern auch der Wert des Unternehmens gesteigert werden könnte, wenn dieses in der Zwangsversteigerung als funktionierend verkauft werde und sich damit die Konkursmasse für alle Gläubiger erhöhe.
Die Mitglieder der empresas recuperadas kritisieren allerdings, dass sie in der Zwangsversteigerung keine privilegierten Bieter sind. Sie unterliegen stets der Gefahr, das Unternehmen wieder zu verlieren, obwohl sie dessen Mehrwert produziert haben, der ihnen in keinster Weise angerechnet wird.
Zum alternativen Schutz der Erwerbslosen wurden darüber hinaus in bestimmten Fällen Enteignungsgesetze erlassen. Sie sollen insbesondere denjenigen Mitgliedern der empresas recuperadas Rechtssicherheit bieten, die ihre ehemalige Arbeitsstätte besetzen, bevor das Insolvenzverfahren eingeleitet worden ist. Auch hier soll verhindert werden, dass das Gebäude und die Maschinen verkauft werden, damit die Belegschaft zunächst ihren Arbeitsplatz behalten kann. Dazu wird den Genossenschaftsmitgliedern zeitweilig das Verfügungsrecht am Unternehmen zugesprochen. Die Enteignungen eröffnen zudem die Möglichkeit, das Insolvenzverfahren für einen längeren Zeitraum als durch die "zeitweilige Nutzung" zu unterbrechen und den Genossenschaftsmitgliedern damit eine größere Chance einzuräumen, das Geld zum Kauf in der Zwangsversteigerung aufzubringen. In Einzelfällen kann dies für mehrere Jahre sein, wenn diverse Enteignungsgesetze nacheinander verabschiedet werden. Diese Praxis beruht auf der Überlegung, dass im Falle einer bald endenden Frist für eine Entschädigungszahlung das Insolvenzverfahren nur dann weiterhin unterbrochen werden kann, wenn ein zweites Enteignungsgesetz vorliegt. Denn erst wenn für die Enteignung eine Entschädigung geleistet wurde, ist diese unwiderufbar vollzogen. Sobald die Frist für die Entschädigungszahlung verstreicht, wird die Enteignung wieder hinfällig, und das Insolvenzverfahren geht weiter.
Diese Vorgehensweise wird jedoch zunehmend kritisiert, denn der Staat hat in den meisten Fällen gar kein Interesse an einer "realen Enteignung", bei der der enteignete Eigentümer oder, im Falles eines Bankrotts, die Gläubiger entschädigt werden. Viele Genossenschaftsmitglieder hoffen allerdings, dass das Unternehmen tatsächlich enteignet (also auch entschädigt) wird. Ihre Hoffnung ist, dass der Staat ihnen das Unternehmen anschließend entweder überträgt oder mit der Vereinbarung verkauft, dass sie das Geld innerhalb eines bestimmten Zeitraums zurückzahlen können. Dieser Kauf bietet den Genossenschaftsmitgliedern den Vorteil, dass sie keine weiteren Konkurrenten haben, die den Preis möglicherweise in die Höhe treiben, wie dies bei der öffentlichen Versteigerung der Fall ist.
Auf eine Enteignung mit Entschädigungszahlung warten die Genossenschaftsmitglieder jedoch oft jahrelang vergeblich. Meist scheitert sie schon allein an den fehlenden finanziellen Mitteln des Staates. Kleinere und unbekanntere Unternehmen stehen in diesem Fall noch schlechter da. Denn hier besteht keinerlei Prognosemöglichkeit, ob die Kooperative in Zukunft erfolgreich ist und die Genossenschaftsmitglieder das vorgestreckte Geld wirklich an den Staat zurückzahlen können. Auch eine Verstaatlichung wäre hier keine Alternative, da es sich um kein großes, potentes Unternehmen handelt, das möglicherweise sogar Teil der Schlüsselindustrie des Landes ist und damit rentabel für Staat und Provinz. In der Öffentlichkeit ist der Unterschied zwischen einer entschädigten Enteignung und einem bloßen Enteignungsgesetz, also einer unentschädigten Enteignung überwiegend unbekannt. Es herrscht das allgemeine Vorurteil, dass alle empresas recuperadas von entschädigten Enteignungen auf Kosten der Steuerzahler profitieren (tatsächlich sind es weniger als fünf Prozent).
Empresas recuperadas als Genossenschaften
97 Prozent der empresas recuperadas sind Genossenschaften, davon streben zwei Prozent eine Verstaatlichung an, die restlichen drei Prozent haben sich mit einem Investor zusammengeschlossen. Die Zeitung "Comercio y Justícia" in Córdoba etwa ist ein sehr erfolgreiches Beispiel für eine empresa recuperada in Form eines kleinen und mittelständischen Unternehmens. Nach der Insolvenz 2001 verwalteten die Kooperativenmitglieder das Unternehmen zunächst während der "zeitweiligen Nutzung" selbst. Anschließend konnten sie es mit Hilfe eines Kredits und dem von ihnen angesparten Kapital erwerben. Ein Beispiel für eine Kooperative, die sich einen Investor suchte, um das Unternehmen weiterführen zu können, ist der Traktorenhersteller Pauni, ebenfalls in Córdoba. Nachdem die Firma 2001 Bankrott ging, besetzte die ehemalige Belegschaft das Unternehmen und bekam zunächst eine "zeitweilige Nutzung" in Form eines Mietvertrags. Auch sie wurde in der öffentlichen Versteigerung Miteigentümer des Unternehmens.
Nur in einigen Fällen streben die Mitarbeiter eine Verstaatlichung an, etwa im Fall der Keramikfabrik Zanón in Neuquén, die zu den wichtigsten Keramikproduzenten Argentiniens gehört. Sie orientieren sich an der bekannten Werft Astillero Rio Santjago in der Provinz Buenos Aires, deren Belegschaft sich in den 1990er Jahren erfolgreich gegen eine geplante Privatisierung zur Wehr gesetzt hatte. Als empresa recuperada konnte Zanón, von der Belegschaft inzwischen umbenant in Fasinpat (Fábrica Sin Patrón, Fabrik ohne Chef), vor der Schließung bewahrt werden, was zahlreiche Arbeitsplätze rettete. Das Unternehmen wurde mittlerweile enteignet und auf die Genossenschaftsmitglieder übertragen. Diese halten aber an ihrem ursprünglichen Ziel fest und kämpfen weiter für eine Verstaatlichung. Bereits im Jahr 2009 wurde die Papierfabrik Massuh (jetzt Papelera Quilmes) in der Provinz Buenos Aires verstaatlicht. Sie hatte monatelang stillgestanden und war von ihren Eigentümern leer geräumt worden.
Die Mitglieder der empresas recuperadas sind zwar kein derartig schwacher Akteur wie die piqueteros, die Erwerbslosen, die keinerlei Anbindung an ein Unternehmen hatten und folglich überhaupt keine Ansprüche stellen können, sie sind aber auch nicht mit einer fest angestellten Belegschaft zu vergleichen, die beispielsweise für die Verkürzung ihrer Arbeitszeit protestiert. Die Mitglieder der empresas recuperadas verfügen über keinerlei Produktionsmacht gegenüber ihrem ehemaligen Arbeitgeber, denn es handelt sich um Unternehmen, bei denen die Produktion bereits eingestellt wurde. Eine Produktionsblockade als Verhandlungsbasis ist deswegen nicht mehr möglich. Es bleibt den Arbeitern einzig und allein die Besetzung des Unternehmens, um zu verhindern, dass die Maschinen abtransportiert werden. Sie können nicht, wie beispielsweise die Belegschaft von General Motors in Flint, Michigan, im Jahr 1936, einfach das Fließband lahmlegen.
Handelt es sich bei einem Werk um ein wichtiges Glied in einer vertikalen Unternehmensorganisation, kann die Stilllegung des Produktionsprozesses in diesem Werk unter Umständen zur Unterbrechung der Produktion des gesamten Unternehmens führen. Eine kleine Zahl von Aktivisten reicht hier bereits aus, um eine robuste Verhandlungsposition zu schaffen.
Die empresas recuperadas sind eine extreme Herausforderung, vor allem für die ehemaligen Mitarbeiter. Sie erfordern von den Kooperativenmitgliedern einen enormen Gemeinschaftsgeist und große Eigeninitiative. Besonders schwierig ist die lange Zeit der Besetzung, während der sie nichts verdienen und auf den guten Willen ihrer Mitbürger angewiesen sind. Aufgrund ihrer Ausrichtung als Genossenschaft unterliegen fast alle empresas recuperadas den Solidaritätsprinzipien, die verlangen, dass ihre Mitglieder das Einkommen untereinander gleichmäßig verteilen, die Leitungspositionen regelmäßig rotieren und die wichtigsten Entscheidungen in der Vollversammlung treffen. Die Solidarität zwischen den Arbeitern ist teilweise grenzübergreifend: Einen Versuch, die Isolation der Betriebsstandorte aufzuheben, machte zum Beispiel die Belegschaft des Automobilzulieferers Mahle im vergangenen Jahr, als sich Arbeiter der Werke im unterfränkischen Alzenau, im französischen Colmar und im argentinischen Rosario gegenseitige Solidarität bekundeten - allen Werken drohte die teilweise oder ganze Schließung. Auch die Mitarbeiter der selbstverwalteten Druckerei Chilavert in Buenos Aires schrieben an die Arbeiter der deutschen empresa recuperada Strike-Bike, um ihnen Mut zu wünschen.
Die Mitarbeiter eines Fahrradproduzenten im thüringischen Nordhausen verwalteten ihr Unternehmen im Jahr 2007 nach einer mehrmonatigen Besetzung eine Woche lang in Eigenregie. Während dieser Selbstverwaltung produzierten sie fast 2000 "Solidaritätsfahrräder", die unter Vorkasse bestellt wurden: das sogenannte Strike-Bike.
Auch in anderen Ländern Europas und den USA kämpfte die Belegschaft für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze: Die Mitarbeiter von Prisme Packaging in Dundee, Großbritannien, hatten das Unternehmen Anfang 2009 fast zwei Monate lang besetzt und gründeten anschließend die Kooperative Discovery Packaging and Design Ltd. Sie wurden von der Öffentlichkeit und schließlich auch von der Politik unterstützt und deswegen nicht geräumt. In gleicher Weise konnte sich die Belegschaft des Unternehmens Republic Windows & Doors in Detroit, mit ihrem Sit-In im Dezember 2008 der Solidarität der Bevölkerung erfreuen, die aufgrund der Finanzmarktkrise ihren Ärger teilte. Die Besetzung wurde stillschweigend toleriert und die Zahlungsansprüche der Arbeiter schließlich erfüllt. Einige konnten anschließend unter dem neuen Investor Serious Materials weiter arbeiten.
Globalisierung und empresas recuperadas
Werkbesetzung und Selbstverwaltung, als Alternative zu Resignation und Arbeitslosigkeit sind in der Geschichte der Menschheit sicherlich nicht neu. Wir erinnern uns nur an die Minenarbeiter der Kohlezeche Tower Colliery in Südwales, die unter Führung von Tyrone O'Sullivan und der National Union of Mine Workers in den 1990er Jahren für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze kämpften.
Im Zuge der global vernetzten Produktionsweise verschmelzen nationale Arbeitsmärkte zunehmend zu einem einzigen, auf dem die Arbeiter weltweit miteinander konkurrieren. Dabei stehen sie, mit sich angleichenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, meist denselben multinationalen Konzernen gegenüber. Da die hohe Mobilität an Kapital in der globalisierten Welt mit dem voranschreitenden Verlust an staatlicher Souveränität gegenüber supranationalen Akteuren einhergeht, verläuft die Spaltung nicht mehr zwischen dem "Norden" und dem "Süden", sondern zwischen den Arbeitern der Welt, den großen Konzernen und den Regierungen, die oftmals eher letztere unterstützen. Aus Angst vor zu großen sozialen Unruhen und auf der Suche nach profitableren Produktionsbedingungen verlegen Unternehmen ihre Werke von Land zu Land. Nur wenn es alternative Profitmöglichkeiten an einem Standort gibt oder es sich um einen Sektor handelt, der eine Kapitalverlagerung unmöglich macht, weil er mit den Hauptsitzen der multinationalen Konzerne unmittelbar verbunden ist, dann verhandeln sie mit den Regierungen über Sozialpakte.
Mit ihren Protestaktionen kämpfen viele Arbeiter des 21. Jahrhunderts nicht nur gegen die eigene Ausbeutung, sondern gleichermaßen gegen die herrschende Ordnung, in der die Existenzsicherung aller Menschen hinter der Profitgier einer kleinen Gruppe zurücktritt. Die Arbeiterunruhen sind oft Vorreiter für die Interessen der gesamten Bevölkerung, die sich in Verbindung mit anderen sozialen Bewegungen gegenseitig stärken. Sichtbar wurde dies auch in der Argentinienkrise 2001: Den Arbeitern folgte die Mittelschicht, und sie kämpften in schlechten Zeiten gemeinsam, nach dem Motto "piquetes y cacerola, la lucha es una sola" (Straßenkämpfe und Kochtöpfe,
Fazit
Die empresas recuperadas haben in Argentinien zweifellos einen Ausweg aus der Krise gewiesen. Ihre Mitglieder konnten in der Regel ihre Arbeitsplätze sichern und teilweise sogar neue Stellen schaffen. Die Entscheidung der argentinischen Regierung, den Arbeitern die Möglichkeit zu geben, aktiv und engagiert im Arbeitsprozess zu bleiben, anstatt sie in die passive Arbeitslosigkeit zu schicken, hat sich ausgezahlt. Die von der Regierung geschaffene Gesetzeslage bietet den Arbeitnehmern die Chance, sich zu organisieren und zu orientieren, wie es in dieser Form bisher aus keinem anderen Land bekannt ist.
Besonders interessant sind die empresas recuperadas für Länder, in denen Krisen periodisch wiederkehren. Für den Staat ist diese Art von Genossenschaft schon allein deshalb lohnenswert, weil er ihren Mitgliedern kein Arbeitslosengeld zahlen muss und sie weiterhin im Wirtschaftskreislauf bleiben und konsumieren. Auch die International Labour Organization sprach sich schon 2002 für das Genossenschaftswesen aus und bewertete diese Unternehmensform als profitabel, weil die Arbeiter ihre eigenen Auftraggeber sind und sie auch ihr eigenes Kapital in das Unternehmen investieren: Zeit und Geld. Doch zeigt das Beispiel Argentinien auch: Der politische Wille, solche Wege zu gehen, wird (oft) erst aus der Not geboren.