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Direkte Aktionen und Selbstorganisation im Stadtviertel Der soziale Kampf der argentinischen Arbeitslosen

Timo Berger

/ 4 Minuten zu lesen

Im Zuge der Privatisierung einer staatlichen Erdölgesellschaft kam es Mitte der Neunziger in Cultral-Có und Plaza Hunicul zu Massenentlassungen. Die Arbeitslosen wussten sich nicht anders zu helfen, als lautstark und mit Straßenblockaden zu protestieren. Eine neue Bewegung, die Piqueteros, war geboren.

Im Mai 2003, am Tag nachdem der neue Präsident Nestor Kirchner sein Amt angetreten hat, blockieren Arbeitslose eine Hauptzufahrtsstraße nach Buenos Aires. (© AP)

Vermummte Gesichter, Stöcke in der Hand: Argentinische Arbeitslose stehen vor brennenden Reifenstapeln und blockieren die Ruta 3 in La Matanza, einem armen Vorort von Buenos Aires. Ihre typische Aktionsform, die Straßensperre, brachte den organisierten Arbeitslosen schnell den Namen Piqueteros ein – vom spanischen Wort für Streikposten piquete. 3.000 Menschen halten die Blockade sechs Tage lang aufrecht. Vom 31. Oktober bis zum 5. November 2000, mitten in der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes, greifen die Betroffenen auf eine illegale Methode zurück, um auf ihre Notsituation aufmerksam zu machen. Nach dem Wegfall des Arbeitsplatzes bleibt ihnen nur die Straße, um ihre Proteste sichtbar zu machen. Indem die Piqueteros den Waren- und Güterfluss unterbinden, treffen sie die Wirtschaft an einem neuralgischen Punkt und zwingen die Regierung zum Handeln.

Durch ihre 3.949 Straßensperren zwischen 1997 und Juni 2002 gelang es den organisierten Arbeitslosen, den Staat ein ABM-Programm gewaltigen Ausmaßes einzuführen: Die Teilnehmerzahl am Plan Jefas y Jefes de Hogar stieg bis zum Oktober 2002 auf 2.037.596 Millionen an. Heute werden bis zu 15 Prozent dieser monatlichen Hilfen, rund 120.000 Arbeitspläne, über 150 Pesos (ca. 35 Euro) von den Piqueteros selbstverwaltet. Die Organisationen behalten einen kleinen Teil des Geldes, drei bis fünf Pesos, ein, um ihre Strukturen zu finanzieren. Der Rest wird an die Mitglieder ausgezahlt, die dafür in Volksküchen, Gemeinschaftsgärten, kleinen Manufaktur- und Werkstattbetrieben der Organisation gemeinnützige Arbeit verrichten. Frauen stellen bei den Organisationen bis heute die Mehrheit: Zwischen 65 und 90 Prozent der Mitglieder sind weiblichen Geschlechts.

Geschichte der Piqueteros

Die Bewegung der Piqueteros entstand 1996 in Cultral-Có und Plaza Hunicul. Haupterwerbszweig der beiden Kleinstädte in der Provinz Neuquén im Süden Argentiniens ist die Erdölindustrie. Im Zuge der Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft YPF war es zu Massenentlassungen und der Schließung von Förder- und Produktionsstätten gekommen, ohne alternative Arbeitsplätze zu schaffen. Da in Argentinien lediglich für zwölf Monate Arbeitslosengeld und darüber hinaus keine Sozialhilfe gezahlt wird, kamen viele der ehemaligen Arbeiter in eine existenzbedrohende Notlage. Als in Cultral-Có der Bau einer lang geplanten Düngerfabrik verschoben wurde, begannen sich Arbeitslose und Anwohner zu mobilisieren: Zwischen dem 20. und 26. Juni 1996 sperrten sie die Rute Nacional 22. Die anrückenden Kräfte der Gendarmería mussten vor den 20.000 Aufständischen weichen, der Provinzgouverneur direkten Verhandlungen zustimmen.

Das Beispiel von Cultral-Có ermutigte in den folgenden Jahren die Arbeitslosen in den Orten Tartagal und General Mosconi, Erdölstädten in der Provinz Salta im Norden des Landes gegen die Folgen der Privatisierungen zu protestieren. Mit ihren direkten Aktionen, den Straßensperrungen und Blockaden von Raffinerien und Erdölförderstätten bzw. deren Zufahrten, verbanden die Piqueteros der Unión de Trabajadores Desocupados (UTD) in General Mosconi Forderungen an die Provinzregierung. Diese sollte Hilfen in Form von monatlichen Geldzuwendungen und Lebensmittelpaketen leisten, aber auch die Missstände vor Ort beheben: Piqueteros-Aktivisten freilassen, Schulen bauen, das Gesundheitswesen verbessern, die durch die Privatisierungen unverhältnismäßig schnell gestiegenen Tarife der öffentlichen Versorger regulieren. Die UTD Mosconi unter ihrem Anführer Pepino Fernández zählt bis heute zu den bestorganisierten Piqueterosgruppen. Die dem Staat abgetrotzten Hilfen verwenden sie für die Aufbauarbeit in ihren Stadtvierteln und die Schaffung selbstverwalteter Arbeitsplätze: Heute stellen die Mitglieder der URD in kleinen Manufakturbetrieben Kleider und Eisenwaren her, errichten Häuser, bauen organisches Gemüse an und betreiben nachhaltige Forstwirtschaft.

Die Piqueteros heute

Als die Massenarbeitslosigkeit 1999 den Industriegürtel um Buenos Aires erreichte, begannen sich auch dort Arbeitslose in den Stadtteilen zu organisieren. Anders als im Norden und Süden des Landes gelang es ihnen jedoch nicht, eine einheitliche Bewegung zu formieren. Zu unterschiedlich sind ideologische Ausrichtung und Ziele der einzelnen Organisationen. Während die einen eine vorrevolutionäre Situation herbeiführen wollen, setzen die anderen auf einen langsamen sozialen Wandel. So sind die Piqueteros im Großraum Buenos Aires heute gespalten: Auf der einen Seite stehen gewerkschaftsnahe und regierungsfreundliche Organisationen, auf der anderen linksradikale und autonome Gruppen. Die zwei Blöcke zeichnen sich aus durch unterschiedliche Verhältnisse zur Staatsmacht und zu den Parteien sowie durch mehrere Perspektiven auf die Gewaltfrage: Die Vollsperrung einer Straße gilt in Argentinien als gewaltsamer Eingriff in das Recht auf Verkehrsfreiheit und wird strafrechtlich verfolgt. Die gemäßigten Piqueteros-Organisationen blockieren deshalb nur noch einen Teil der Fahrspuren bzw. verzichten ganz auf Straßensperren.

Durch die politische Einbindung von Piqueterosführern hat es die Regierung Kirchner geschafft, einige der mitgliederstärksten Arbeitslosengruppen als Verbündete zu gewinnen. Andere Organisationen kämpfen jedoch weiterhin für ein anderes Staats- und Wirtschaftsmodell, wieder andere sind zu Arbeits- und Wohnbaukooperativen geworden, die in den Vierteln Aufbauarbeit leisten, aus denen der Staat sich zurückgezogen hat.

Quellen

Externer Link: Clarín, "Piqueteros. La cara oculta del fenómeno", Multimediale Sonderbeilage der Onlineausgabe der Tageszeitung, Buenos Aires, 1996-2002

Externer Link: Webseite der UTD Mosconi

Externer Link: Webseite des Ministerio de Trabajo, Empleo y Seguridad Social

Literatur

Gold (2005), Birte: "Erkämpfte Ordnung, verordnete Kämpfe | Argentiniens soziale Bewegungen zwischen Selbstorganisation und Klientelismus", inExterner Link: iz3w Nr. 289, November, S. 13-16

Thieberger (2004), Mariano: "Quién es quién en el movimiento piquetero", in: Clarin, Savoia/ Calvo/ Amato: "Jaque a los piqueteros. El desafío de la convivencia social", Externer Link: infografía

Wurzenberger (2005), Andrea: Die Piqueteros in Argentinien. Entstehung und Organisation einer Neuen Sozialen Bewegung, Kölner Arbeitspapiere zur internationalen Politik, Nr.48 (Externer Link: PDF)

QuellentextListe der wichtigsten Organisationen

Die FTV (Federación Tierra, Vivienda y Hábitat - Föderation für Land, Lebens- und Wohnraum) unter ihrem Anführer Luis D´Élia ist die größte Piqueteros-Organisation des Landes. Ihr gehören rund 200 verschiedene Basisorganisationen in 18 Provinzen und ca. 60 Stadtteilen in ganz Argentinien an. Die FTV umfasst etwa 120.000 Mitglieder, ist hierarchisch organisiert und kontrolliert 75.000 Arbeitspläne. Außerdem ist sie seit 1998 in den gemäßigt linken Gewerkschaftsdachverband CTA (Central de los Trabajadores Argentinos) eingegliedert.

Die CCC (Corriente Clasista y Combativa – Klassistische und Kämpferische Strömung) unter ihrem Anführer Juan Carlos Alderete ist der Arbeitslosenflügel einer Gewerkschaftsströmung, die der maoistischen PCR (Partido Comunista Revolucionario) nahe steht.. Mit 80.000 Mitgliedern ist die CCC die zweitgrößte Piqueterosgruppe. In 52 Stadtvierteln unterhält sie 175 soziale Kooperativen, Volksküchen und Kindergärten und kontrolliert 40.000 Arbeitspläne.

FTV und CCC konnten sich durch ihre Dialogbereitschaft mit der Regierung die Mehrzahl der an Piqueteros ausgegebenen Arbeitspläne sichern. Während die CCC mittlerweile wieder auf Distanz zu Kirchner gegangen ist, ist FTV-Anführer Luis D´Élia dem Präsidenten inzwischen auch durch ein politisches Amt verpflichtet: Seit 2003 sitzt der überzeugte Peronist für Kirchners Fraktion Frente para el cambio im Parlament der Provinz Buenos Aires.

Zu den parteinahen Organisationen, die sich im Dezember 2001 im Bloque Piquetero Nacional (BPN – Nationaler Piqueteroblock) zusammengeschlossen haben, gehören unter anderem der Polo Obrero, die MTL (Movimiento Tierra y Liberación) und die MST-TR (Movimiento Sin Trabajo Teresa Rodríguez). Gruppen mit trotzkistischen, guevaristischen und marxistisch-leninistischen Tendenzen, die eng mit kleinen linksradikalen Parteien verbunden sind, von denen sie zumeist auch gegründet wurden. Wichtigste Gruppe ist der von Néstor Pitrolo angeführte Polo Obrero mit 40.000 Mitgliedern, der 20.000 Arbeitspläne kontrolliert und mehr als 560 Gemeinschaftsküchen in 19 Provinzen unterhält sowie Gemeinschaftsgärten und Alphabetisierungs- und Weiterbildungsprogramme. Eine weitere wichtige Organisation, die ihre Aktionen zeitweilig sehr eng mit dem BPN koordinierte, ist die MIJD (Unabhängige Bewegung Rentner und Arbeitsloser). Angeführt von dem Sozialisten Raúl Castells ist sie in der Vergangenheit durch besonders radikale Aktionen wie Besetzungen von McDonald´s-Filialen und Plünderungen von Supermärkten aufgefallen. Die MIJD hat 60.000 Mitglieder und erhält 8.000 Arbeitspläne.

Die Arbeitslosenorganisationen wie das MTR (Movimiento Teresa Rodríguez) mit 8.000 Mitgliedern und die Frente Darío Santillán mit 3.000 Mitgliedern, die sich beide als autonome Bewegungen verstehen, gehören zu den interessantesten Gruppen innerhalb des Piqueterosspektrums. Einige dieser autonomen Organisationen wie die MTD La Matanza lehnen die Arbeitspläne ab, weil sie in ihnen die Fortsetzung der traditionellen klientelistischen Politik sehen, andere stellen es ihren Mitgliedern frei, Gelder der Regierung anzunehmen. Horizontal organisiert, bestimmen sie in ihren politischen Versammlungen lediglich weisungsgebundene Sprecher. Sie kämpfen für "Arbeit, Würde und sozialen Wandel". Anders als die Piqueteros-Gruppen aus dem linksradikalen Umfeld glauben sie aber weder an einen gewaltsamen Umsturz, noch an einen Sieg bei den Wahlen, sondern setzen auf eine langwierige Aufbauarbeit von der Basis. Ihr Ziel ist also ähnlich wie dasjenige der Zapatisten im mexikanischen Chiapas: Nicht die Machtübernahme im Staat, sondern der allmähliche Aufbau einer andersartigen Macht von unten.

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Timo Berger, geboren 1974 in Stuttgart, hat Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Lateinamerikanistik in Tübingen, Buenos Aires und Berlin studiert. Er hat in Zeitungen und Zeitschriften zahlreiche Beiträge zu Südamerika veröffentlicht. Heute lebt Berger als freier Journalist und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen in Berlin.