Mehr als 100 Fabriken werden heute in Argentinien von ihren Arbeitern selbst verwaltet. Die sich ab 1997 verschärfende Rezession trieb unzählige Unternehmen in den Ruin. Einige der Arbeiter wollten den Wegfall ihres Arbeitsplatzes nicht widerstandslos hinnehmen. Sie beschlossen, die bankrotten Produktionsstätten nach der Schließung zu besetzen und in Eigenregie wieder in Betrieb zu nehmen.
Die bekannte Globalisierungskritikerin Naomi Klein hat einen Dokumentarfilm über die Fabrikbesetzungen in Argentinien gedreht. "The Take. Die Übernahme" (2004) erzählt die Geschichte eines von Arbeitern übernommenen Betriebs in einem Vorort von Buenos Aires, in dem Autoteile hergestellt werden.
Doch argentinische Aktivisten sind mit dem Film nicht einverstanden. Luis Alberto Caro hält Kleins Darstellung für einseitig. Der Präsident des Movimiento Nacional de Fabricas Recuperadas, der "Nationalen Bewegung wieder in Betrieb genommener Fabriken", stört sich daran, dass der Film suggeriere, die Arbeiter in den besetzten Fabriken hätten eine Fortsetzung des Betriebs in eigener Kontrolle angestrebt. "Tatsächlich", stellt Caro klar, "wollte nur eine kleine Minderheit aus dem linken Spektrum – aus Angst, eine Kooperative könnte auf dem Markt nicht bestehen – die Produktion verstaatlichen lassen". Arbeiterkontrolle hätte bedeutet, dass der Staat den Arbeitern ein festes Gehalt garantiert, diese aber weiterhin den Betrieb leiten.
Ein Modell, das im heutigen Argentinien nicht durchsetzbar gewesen wäre. Die Angestellten der Konfektionsfabrik Brukman in Buenos Aires hatten eine Kontrolle gefordert, weshalb der Arbeitsplatz mehrmals geräumt wurde. Als sie schließlich der Bildung einer Kooperative zustimmten, erließ die Stadtregierung von Buenos Aires im Gegenzug ein Gesetz, durch das die Produktionsmaschinen und das Gebäude enteignet wurden. Die Schneiderinnen konnten wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.
Nach argentinischer Rechtslage dürfen lokale Behörden eine Enteignung per Gesetz verfügen. Der Staat übernimmt die Schulden, so dass die Betriebe nach Ende der Enteignungsfrist von drei bis fünf Jahren ohne Belastungen sind und von Arbeiterkooperativen übernommen werden können.
Die so entstandenen "neuen Arbeiterkooperativen" unterscheiden sich jedoch von älteren Kooperativen. Caro weist daraufhin, dass sie "nicht nach der kapitalistischen Logik" funktionieren: "Jedes Mitglied – ganz gleich, welche Aufgabe es im Betrieb übernimmt, bekommt dasselbe Gehalt ausbezahlt. Jeder hat die gleichen Rechte in unseren politischen Versammlungen. Und: Der Verwaltungsrat hat nur soviel Entscheidungsbefugnis, wie ihm von der Versammlung zugewiesen wurde", so Caro.
Der Präsident der Bewegung war früher Anwalt und arbeitete mit kirchlichen Basisgruppen zusammen. Aufgewachsen ist er in einem "sehr armen Viertel, im selben Umfeld wie die meisten Arbeiter der Fabriken – ich weiß, wie die denken", erklärt er. Im August 2000 schaltete man ihn bei einem Firmenbankrott in Avellaneda ein, einem Vorort von Buenos Aires. Caro erreichte dort, dass das Gericht das Enteignungsgesetz in einem Präzedenzfall auf die Fabrik anwendete. So konnte Anfang 2001 die Produktion erneut beginnen - diesmal in Arbeiterselbstverwaltung. Weitere Übernahmen von Fabriken durch ihre Arbeiter folgten. Die Bewegung war geboren.
Zurzeit sind 100 Fabrik-Kooperativen Teil der Nichtregierungsorganisation "10.000 Arbeiter". 80 Prozent davon im Großraum Buenos Aires sichern sich ihr Überleben in selbstverwalteten Betrieben und konnten sich bislang entgegen aller Befürchtungen auf dem Markt behaupten. Die Bewegung hat fünf hauptamtliche Mitarbeiter, die durch Beiträge der Kooperativen finanziert werden. Dafür erhalten die Kooperativen auch Schulungen und Beratungen in Rechtsfragen, wie zum Beispiel der komplizierte Prozess einer Enteignung eingeleitet werden kann. Bei einer Übernahme eines Betriebs durch seine Arbeiter, erklärt Caro, sei es wichtig, jeden Schritt juristisch abzusichern. "Es darf nicht die illegale Situation einer Besetzung entstehen. Denn dann droht die sofortige Räumung. Aber wenn die Arbeiter einen Streik ausrufen, dann haben sie das Recht, bis Ende dieses Streiks am Arbeitsplatz zu bleiben."
Traditionellen Gewerkschaften war die Bewegung bislang ein Dorn im Auge. "Die Gewerkschaften wollen, dass die Arbeiter nach der Schließung schnell das Weite suchen, damit die entstandene Lücke durch einen neuen Unternehmer gefüllt werden kann", erklärt Caro. Bis heute habe es dazu keine Alternative gegeben. Doch jetzt habe sich das Bewusstsein gewandelt: "Arbeiter, die plötzlich vor der Situation stehen, entlassen zu werden, kennen nun einen anderen Weg. Es gibt Vorbilder im Viertel, die zeigen, dass sie selbst die Produktion in die Hand nehmen können."
Quellen
Interview mit Luis Alberto Caro, das vom Verfasser dieses Artikels am 21. und 23. August geführt wurde.