Wellblech, so weit das Auge reicht. Kabel und Wäscheleinen durchkreuzen den dunstigen Mittagshimmel, die Luft ist schwer. Umgestürzte Einkaufswagen, alte Stühle, Rohre und Stapel von Backsteinen sind über der rostenden Dächerlandschaft verteilt. Unten schlängeln sich schlammige Gassen durch das Häuserdickicht, ein paar Kinder stehen an Hauseingängen und schauen ungerührt dem Treiben auf dem Dach zu. Julio Arrieta weiß um die Blicke der Besucher, und er weiß sie zu lenken. "Hier kriegst Du die Mülldeponie mit rauf", sagt er und zeigt in Richtung eines grünen Hügels am Horizont. Und da hinten, auf der anderen Seite, sei das alte Gefängnis. Er stellt sich in Pose, die Hände in die Hüften gestemmt, das knallrote T-Shirt ("100 Prozent Stier") spannt über den kugelrunden Bauch. Nein, das brüchige Blech halte allerhand aus. Mit 20 Filmleuten habe man hier oben schon gestanden.
Arrieta weiß auch um das Staunen. Ein Filmteam hier, in den Eingeweiden der Stadt, in den No-go-areas der selbstvergessenen Metropole, die ihren Kollaps vor wenigen Jahren längst verdrängt zu haben scheint? Oh ja, und keine schnelle Sozialreportage, sondern richtiges Kino. Einen Science-Fiction-Thriller haben sie hier gedreht, nach einer fixen Idee von Arrieta und dank der Obsession eines blutjungen spanischen Regisseurs, Sebastian Antico. "Wo steht geschrieben, dass die Außerirdischen nicht auch in der Villa landen können?", sagt der Mittfünfziger, den grauen Haarschopf zum Zopf gebunden. Es ist kein Scherz, eher ein Credo.
Reality-TV
Mit seiner Frau Maria Esther wohnt Arrieta seit einem Vierteljahrhundert hier, zwölf Kinder sind in der Armeninsel, mitten im Viertel Barracas, zur Welt gekommen. Er hat Müll gesammelt, in der Fabrik gearbeitet und Mitte der Achtziger dann die Schauspielerei entdeckt. Doch einträglicher als die Theaterpassion sind Film und Fernsehen. Immer mehr Produzenten suchen "reale" Drehplätze, in mehr als 30 Produktionen haben Arrieta und seine Nachbarn aus der Villa 21 schon mitgewirkt. Haben Licht und Catering, Schminke und Kostüme organisiert, Kabel getragen und für "die Sicherheit" beim Dreh in der wilden Villa gesorgt. Besonders stolz ist Arrieta auf sein Casting, "tausend Gesichter" habe er im Angebot, groß und klein, dunkel und hell, was das Producer-Herz begehrt. Es sei doch praktischer, wenn gleich die Armen die Armen spielen, denen müsse man das Elend nicht erst anschminken. "Und wo findest Du einen wie mich, mit langem Haar und Zahnlücke, der auch noch einen zusammenhängenden Satz sagen kann?"
Arrieta? Ja, natürlich kenne er den, sagt Martin Roisi, der sei ja gewissermaßen die "Konkurrenz". Der freundliche junge Mann lebt selber nicht in der Villa, auch wenn er sich dort "wie zuhause" fühlt. Auf die Villa 20 im Stadtteil Lugano, ein paar Kilometer westlich von Barracas, war der Musiker und Fernsehmacher 2003 gestoßen, als er für die TV-Show einer bekannten Talkmasterin eine Location suchte. Die Diva erwärmte sich für das Setting, man machte ein Casting, aus dem Casting wurde ein Film – und Roisi fing Feuer. 2005 hob er das Projekt "Odisea" aus der Taufe, das die Villa in ein riesiges Freiluft-Kulturlabor mit Galerie, Club, Label und eigenem Verlag verwandeln soll. Zudem gibt es eine hochprofessionell gestaltete Externer Link: Website und jede Menge schillernde Pläne, etwa einen eigenen Fernsehkanal.
Kreativitätsschub in der Villa
"Die Probleme der Villa interessieren mich nicht", sagt der 33-Jährige mit unbewegtem Gesicht, er wolle lieber fröhliche Dinge zeigen. Roisi scheint bei solchen Sätzen sein Gegenüber prüfend anzusehen. Ob es zusammenzuckt, die Stirn runzelt. Und er legt noch einen drauf: Die Villa sei doch "eine Art Disneyland", geradezu jungfräuliches Terrain für die porteños, die kulturbeflissenen Mittelschichten von Buenos Aires. In die Schlagzeilen der Feuilletons war Roisi durch seine Villa-Touren gekommen. Zwei Stunden durch die engen Gassen, hier mal hinter eine schmutzige Gardine schauen, dort eine Wurst vom Freiluftgrill essen - für satte 60 Euro. Empörung machte sich breit, vom Zoo-Effekt war die Rede. "Aber da kommen doch keine normale Touristen", verteidigt sich Roisi, noch bevor man überhaupt richtig zum Nachfragen kam. "Das sind immer Leute wie Ihr – Künstler, Wissenschaftler, Journalisten". Was Roisi zeigen möchte: dass die Villa alles andere ist als ein dahinvegetierender Mini-Moloch. Weil es hier Unternehmergeist gebe, vor allem bei den Migranten, die mit einer "ganz anderen Arbeitsmentalität" nach Buenos Aires strömten. Vor allem aber wegen der "unglaublichen Kreativität", die Villa sei ein Ort "voller Künstler, die gar nicht wissen, dass sie welche sind".
Da ist die zwölfjährige Cinthia, so was wie der Star des Projekts. Durch Odisea hatte sie vor einiger Zeit eine Kamera in die Hand gekriegt. Seitdem streift das Mädchen durch die Gassen und filmt, was ihr vor die Linse kommt. In einer TV-Reportage heftet sich ein staunender Reporter an ihre Fersen, eine Frauenstimme aus dem Off lobt die "Kunst, etwas zu erschaffen in ihrer schwierigen Welt". Roisi hat ihr inzwischen ein Stipendium für eine Kinderfilmschule besorgt. Und zwei US-Filmerinnen, die Cinthia auf eine der Touren kennen gelernt hatten, haben einen Dokumentarfilm über sie gedreht.
Silvana, eine hübsche Frau mit knopfdunklen Augen und schwarzem Spaghettitop, ist eine von Roisis Villa-Führerinnen, und auch diesen Dreh begleitet sie. Der Zoo-Effekt? Silvana zuckt mit den Schultern. Die Außenkontakte brächten wenigstens ein bisschen Geld. Sonst würden die Leute ja womöglich nur schauen kommen. "So gucken sie und helfen gleichzeitig, das, was sie sehen, auch zu verändern".
Nach Lugano kommt man mit der U-Bahn-Linie E, eine der ältesten, die das Stadtgebiet sternförmig durchziehen. Die Fahrt geht bis zur Endstation, aus den offenen – aber rätselhafterweise vergitterten – Fenstern quillt ohrenbetäubendes Rumpeln und Rattern ins Waggoninnere. Dann geht es weiter mit einer kleinen Tram, vorbei an Fußballfeldern, Müllbrachen, graugrünen Wohnsilos, ein gigantischer Supermarkt zieht vorbei, daneben ein Baumarkt mit dem schönen Namen "easy". Aussteigen mitten im Grünen, ein kleiner Fußmarsch an der Stadtautobahn entlang, an ein paar Maisstauden vorbei, eine metallene Treppe führt hinunter zu der roh zusammen gezimmerten Siedlung der Villa 21, direkt neben einem Autofriedhof.
Boulevard im Niemandsland
Silvana und ihr Mann Julio führen hinein in die engen verwinkelten Gassen, die Backsteinwände sind wie aneinander gewachsen, dazwischen grauer Zement, Plastikplanen, Kabelwirrwarr. Keine Straßenschilder, wer hier wohnt, hat keine Adresse. Doch mit einem Mal öffnet sich der Blick und fällt auf eine breite, leicht ansteigende Straße im Innern der Villa. Ein paar Autos kommen einem entgegen, zwei klapprige Fahrräder, ein Motorroller. Ein Pferd, das einen Müllwagen zieht. Allerlei vergitterte Lädchen säumen den Straßenrand, verkauft werden Obst und Gemüse, Kleider oder Spielzeuge. Es gibt Pizzerien, Internet-Cafés und Friseure, es riecht nach geröstetem Fleisch. Eine Frau fegt vor einem Häuschen mit der Aufschrift "Rechtsberatung". "Das ist unser Boulevard", sagt Silvana, "hier gibt es alles". Und alles gibt es billiger: Auch in dieser Hinsicht ist die Villa Niemandsland, keiner zahlt hier an den Staat, weder Steuern auf Einkommen oder Waren, noch Gebühren für Gas, Strom oder Wasser.
Die meisten Bauten wachsen immer weiter in die Höhe. Fast alle haben längst zwei, manche sogar schon das dritte oder vierte Stockwerk. Es sind waghalsige Konstruktionen, die Aufbauten scheinen auf dem Untergeschoss zu balancieren, Balkone wie mit Draht festgezurrt. Viele davon, so wird erklärt, sind Mietshäuser, die geschäftstüchtige Bolivianer und Peruaner hier neuerdings hochziehen und an Neuankömmlinge vermieten. Und immer wieder tun sich neue Straßen auf, die wie Breschen durch das kaum zu durchdringende Barackenlabyrinth geschlagen sind.
Vor einem unscheinbaren Häuschen ist ein buntes Schild angebracht: "Productora artistica Los Planetas", eine der Odisea-Zentralen. Hier sitzt auch der Verlag, der bislang nur eine Miniatur-Kollektion herausgebracht hat, zwei Büchlein mit dem Titel "Zwillinge", handgeschriebene Tagebuch-Fragmente von Silvana und ihrer vor fast zehn Jahren an AIDS verstorbenen Zwillingsschwester. Miniaturen aus einer finsteren Zeit, das Sterben der Schwester, die eigene Verlorenheit, als sie vier Kinder großziehen musste und selbst voller Trauer war. Nur das Schreiben, sagt sie, habe ihr damals geholfen.
Urbanisierung als Mission
Seit ein paar Jahren arbeitet Silvana zudem für die Villa-Verwaltung. Man kennt sie, alle naselang wird sie angesprochen auf der Straße. Von einem jungen Mädchen, die gerne eine der begehrten Jobs hätte, ein Jahr lang 50 Euro im Monat, dafür aber einen Nachweis beibringen muss, dass sie clean ist. Oder von einer älteren Frau, die Baumaterialien beantragen will. "Wir sind ein richtiges kleines Land", meint Julio und zeigt auf eine Halle mit Wellblechdach. In der einstigen Sporthalle residiert der Presidente, der ehemalige Boxer Marcelo Chancalay, und verteilt, was die Villa von der Stadt bekommt, Sozialgelder, Beton oder Schulhelfte. Der bullige Mann im blütenweißen T-Shirt, Jeans und Goldkettchen spricht in sein Walkie-Talkie, wird unaufhörlich von Bittstellern umringt und schafft es dennoch, sich der Besucherin zu widmen.
Seine Mission ist die "Urbanisierung", die Umwandlung von der Villa zum Barrio, zum normalen Stadtviertel, aus Gassen sollen Straßen, aus Hütten Häuser werden. Dass nicht alle asphaltierte Straßen und luftigere Wohnstätten wollen, wenn sie dafür auch eine Steuernummer verpasst kriegen, stört ihn nicht. Das sind wir dieser "schönen Stadt" schuldig, sagt Chancalay und grinst breit. Odisea findet er prima. Früher habe sich das kulturelle Leben der Villa auf Fußball und Boxen beschränkt, heute gibt es Jugendliche, die Violine spielen und Theaterkurse machen. Auch gegen die Besichtigungstouren hat er nichts einzuwenden. Je mehr Kontakt, desto weniger Stigma oder Tabuisierung. "Ich fühle mich eher zum Tier gestempelt, wenn ich von allem abgeschnitten bin."
Silvana und Julio wohnen seit kurzem am Rande der Siedlung in einer der frisch verputzten Sozialwohnungen. Auf die hat Anspruch, wer von den Baggern vertrieben wurde oder wie Julio nachweisen kann, dass er zu krank zum Selberbauen ist. Die eigenen Kinder werden auf entferntere Schulen geschickt. "Ich will, dass sie auch noch eine andere Welt kennen lernen", sagt Silvana.
Paola Huallpa wohnt noch mittendrin, in der Villa Bajo Flores, die größte im Stadtgebiet von Buenos Aires. Sie war ein Kleinkind, als ihre bolivianischen Eltern 1990 hier die erste Hütte, damals noch aus Holz und Pappe, gebaut haben, "da war noch alles Wüste". Man lebte bei Kerzenlicht, vor der Haustür baute man Gemüse an. Später wich die Hütte dann dem flachen Zementhäuschen mit der glatten grauen Wand, vor der Paola heute steht, in einer engen Gasse, nur wenige Schritte sind es zum Nachbarn gegenüber. Auch hier bahnt sich die "Urbanisierung", mit Betonmischern und Bauarbeitern, ihren Weg durch das Dickicht. An der Außennaht der Villa taucht die Nachmittagssonne den Backstein in goldenes Licht. Eine Familie spaziert mit Kinderwagen die schnurgerade Avenida hinunter.
Das Radio Comunitaria in Barracas. (Bild: Anne Huffschmidt)
Das Radio Comunitaria in Barracas. (Bild: Anne Huffschmidt)
Weiter unten an einer Kreuzung, wo die Buslinie des Colectivo 23 endet, steht ein zweistöckiges Backsteinhaus mit einer riesigen Satellitenschüssel auf dem Dach. "Radio Comunitaria" ist in roten Lettern auf die Fassade gepinselt. "Hier beginnt die Villa", meint der taxista sorgenvoll und ist froh, dass er nicht weiterfahren soll. Dieses Eckhäuschen, der Sitz des Gemeinderadios, ist so etwas wie die zweite Heimat von Paola Huallpa. Dazugekommen war sie als schüchterner Teenager, verführt durch das Musikprogramm "Romantische Nächte". Anfangs habe sie kaum die Zähne auseinander bekommen, erinnert sie sich lächelnd. Es ist ein seltenes, verhaltenes Lächeln. Und dann habe es irgendwann klick gemacht. "Ihr seid die Zukunft vom Radio", habe der Gründervater Eduardo Nájera zu ihr gesagt. "Der ist ja verrückt", habe sie sich gedacht und lächelt schon wieder bei dieser Erinnerung. Damals war Paola gerade 16 Jahre alt. Seit ein paar Jahren gehört sie zum "inner circle" des Leitungsteams.
Auf einer Wellenlänge
In der Stadtkarte ist hier nur ein grünes Dreieck markiert, nicht mal eine Freifläche. "Für manche sind wir wohl eine besonders seltsame Gemüsesorte", grinst Nájera. Er kennt die Gegend seit fast 20 Jahren, als seine peronistische Jugendgruppe hier eine Volksküche für die Villa-Bewohner aufgebaut hat. Aus der Küche erwuchs das Bedürfnis nach Kommunikation, aus Lautsprechern und Wandzeitungen wurden ein Radiosender. Zum ersten Mal ging Externer Link: FM Bajo Flores im Sommer 1996 auf Sendung.
Das Radio ist längst eine Institution in Bajo Flores. Es gibt ein Aufnahme- und ein Sendestudio, etwa 20 junge Leute bestreiten das Radioprogramm, das heute viele Häuserblocks weit zu hören ist. Daneben gibt es Workshops, Kampagnen und Sozialarbeit, es geht um Alltag und um die große Politik. Die Madres der Plaza de Mayo haben eine Sendung, man macht Aufklärung für Kondome oder gegen die pasta, den billigen Koksabfall, den die Armen rauchen, der den Appetit verbrennt und die Kinder bis auf die Knochen abmagern lässt. Nájera legt Wert auf die Feststellung, dass man kein Alternativprojekt, sondern ein "Volksradio" sei. Alternativ, so glaubt der bärtige Mann, sei "ja meist elitär, mit wenig Bezug zur Wirklichkeit". Mit dem Staat hat man derzeit weniger Berührungsängste. Das Radio gehört zu jenen selbstverwalteten Projekten, die auf einer Wellenlänge mit der linksperonistischen Kirchner-Regierung sind. Was man von der an Zuschüssen bekommt, reicht gerade für den Betrieb, längst nicht für das, was man noch so vorhat: eine Bibliothek mit Büchern und Räumen zum Lesen, ein Internet-Café, ein Netz von "Villa-Korrespondenten".
Paola ist eine der ganz wenigen, die hier täglich ein- und ausgehen. Seit kurzem jobbt sie im Sozialamt der Stadtregierung, seit zwei Jahren studiert sie Publizistik. Doch das Leben da draußen ist eigenartig. An der Uni falle es ihr "schwer, mit den Leuten zu reden". Zwar ist die sozialwissenschaftliche Fakultät traditionell eher linkes Terrain. Doch es gibt so gut wie keine "Unterschichtsleute wie mich". Wie sie es sagt, klingt es selbstbewusst. Und doch verwundert.
Für die Außenwelt gerät Bajo Flores immer mal wieder als Drogenkiez in den Blick. Kurz vor dem ersten Besuch steht eine großformatige Reportage in der Zeitung. Anlass war ein Massaker, fünf Tote auf einer großen Fiesta zu Ehren eines peruanischen Heiligen, darunter ein Baby. Es soll konkurrierende Banden geben, Capos, die sich als Schutzmacht gebären, und Bewohner, für die Drogenbosse "das notwendige Übel" sind. Doch die Radio-Leute reagieren allergisch auf das Drogenthema. Das Bild von Bajo Flores als Miniatur-Kolumbien führe zur "Kriminalisierung der Armut", meint Nájera. Es sei immer dasselbe Klischee der Villa als "Wilder Westen", moniert auch seine Kollegin Mariela Pugliese. Sie ist die einzige im Team, die von außen kommt. Die studierte Historikerin war vor ein paar Jahren bei einer Recherche auf Nájeras Projekt gestoßen, war gleich begeistert und ist geblieben. Endlich nicht mehr die rebellierenden Mittelschichtkinder, die akademisch herbeidiskutierte Revolution. Die Begeisterung hat allerdings ihre Grenzen: Sie hätte, so sagt sie, durchaus mit Mann und der kleinen Tochter in die Villa ziehen können. Doch sie tat es nicht, "33 Jahre Mittelschicht streift man nicht einfach ab". So pendelt sie wie Paola zwischen drinnen und draußen, nur umgekehrt. "Die Villeros werden in der Stadt als Invasoren gesehen", sagt Pugliese. Und zwar selbst bei den engagierten, wohlmeinenden, aufgeklärten porteños. Wie neulich bei einer Veranstaltung der Madres im Stadtzentrum, als Leute aus der Villa bei den Büchertischen erschienen. Als allererstes, erinnert sie bitter, seien "die Handtaschen versteckt" worden.
Zwischen Fiktion und Wirklichkeit
Diese Kluft ist nie zu kitten. Zwei junge Frauen sitzen bei Julio Arrieta auf dem abgeschabten Samtsofa und warten geduldig auf ihren Einsatz. Sie wollen gerne in der Villa drehen, es geht um einen Film für die Uni, für ein internationales Festival. Er setzt sich die Brille auf die Nase, studiert kurz das mitgebrachte Papier, murmelt, mehr zu sich selbst: "Ja...ja, das lässt sich machen". Den Hauptpart kann sein elfjähriger Enkel übernehmen. Ob es einen Sonnenuntergang hier gebe? Arrieta grinst. "Aber klar doch, das lässt sich arrangieren. Nein, natürlich gibt es dafür kein Geld", sagt er, als die beiden zufrieden davon ziehen, das seien ja immer "ganz arme" Produktionen. "Aber hast Du das schicke Auto der Mädels gesehen?"
Der Regisseur Federico León hat einen Film über Julio Arrieta gedreht, "Estrellas" (Sterne), ein "Making of" jener wahnwitzigen Science-Fiction-Produktion vor ein paar Jahren. Keine Armutsreportage mit verwackelter Handkamera, sondern ein raffiniert in Szene gesetztes Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen denen drinnen und denen, die von draußen kommen. "Die Filmleute waren letztlich genauso Eindringlinge wie die Marsmenschen", sagt der ernste junge Mann im Gespräch. Was in diesem Fall auch heißt: Genauso willkommen! Die Villa sei ja "pure Gegenwart", Arrieta aber will höher hinaus. León schenkt ihm einen grandiosen Abspann: Julio in schwarzem Sakko am Steuer eines dunklen Wagens, neben ihm Maria Esther mit rotgeschminkten Lippen, man meint die Ohrringe klimpern zu hören. Beide schauen mit unbewegten Gesichtern in die Kamera, minutenlang, die Fenster sind geöffnet, das Heer weht im Fahrtwind, Bonnie und Clyde auf argentinisch. Die Wünsche im wirklichen Leben sind profaner. Schön wäre schon, wenn endlich mal ein Filmproduzent käme, der "vernünftig bezahlt", für Schauspiel, security und Wellblech-Setting.
Hintergrund: Villas Miseria
Keine der offiziell registrierten 31 Villas Miseria im Stadtgebiet von Buenos Aires sind auf den landläufigen Stadtkarten eingezeichnet. Dabei leben in ihnen immerhin mehr als 100.000 der mehr als drei Millionen Hauptstadtbewohnerinnen und -bewohner. Die Villas sind durchnummeriert und jeweils einzelnen "regulären" Stadtvierteln zugeordnet. Die drei größten sind die Villa 20 in Lugano, mit 25 bis 30.000 Menschen, die Villa 21 in Barracas mit 20.000 und Bajo Flores mit mehr als 60.000 Bewohnern.
Als "Unbehagen der Moderne" bezeichnet die Schriftstellerin Zenda Liendivist diese innerstädtischen Armutsenklaven, die als Abfallprodukte einer rasanten Verstädterung entstanden waren. Zu ersten illegalen Besiedlungen von städtischen Brachen kam es schon in den 1930er-Jahren. Im Zuge der Industrialisierung in den 1940er- und 1950er-Jahren kam die Stadt immer weniger hinterher, gegenüber den Arbeitssuchenden aus dem Landesinnern ihre Versprechen auf Job und Wohnraum einzulösen. Unter der letzten Militärdiktatur wurde unter dem Gebot der "Säuberung" eine brachiale Abrissstrategie (1976-1983) betrieben. Nach dem Ende der Diktatur begannen die Migrantinnen und Migranten, sich wieder in den Villas einzurichten. Diesmal kamen sie verstärkt aus den Nachbarländern, da vor allem die Dollar-Bindung des argentinischen Pesos in den 1990er-Jahren das Jobben für Menschen aus Bolivien, Peru und Paraguay lukrativ machte.
Die Losung der städtischen Verwaltung, seit vielen Jahren in der Hand aufgeklärter Linksperonisten, heißt heute nicht Eliminierung, sondern "Urbanisierung". Waren die Villas einst als Provisorium gedacht, fern von aller urbanen Planung und Architektur, so sind sie heute als prekäres Terrain dauerhaft verankert in der Stadtlandschaft. Es gibt dort längst eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" zwischen Mietern und Besitzern, wie die Stadtanthropologin Maria Cristina Cravino schreibt, und auch einen staatlich tolerierten, "informellen Immobilienmarkt". Kontakt zur Stadtverwaltung läuft über die Presidentes, die Sozialhilfe und Lebensmittelpakete oftmals in klassisch klientelistischer Manier verteilen.
Annäherung an das Unbekannte
Die Villas bleiben ein Störfaktor im neuen Mythos von der "Normalisierung", der Wiederauferstehung der Metropole nach jenem Crash im Dezember 2001, der den urbanen Flow fast vollständig zum Erliegen brachte. Für kurze Zeit verschmolzen die abgestürzten Mittelschichten mit den ohnehin schon Ausgegrenzten, Piqueteros und Cartoneros, Arbeitslose und Müllsammler. Die sozialen Grenzen schienen sich zu verflüssigen, es gab einen kurzen Sommer des Zusammenrückens, die urbane Öffentlichkeit war gezwungen, sich mit ihren Abgründen zu beschäftigen. Heute brummen Wirtschaft, Exporte und auch der Tourismus, attraktiver geworden durch den Peso-Verfall. Himmelhohe Häuser schießen in die Höhe, der Unternehmergeist blüht, es heißt, die Stadt habe wieder zu sich zurückgefunden – und damit auch zur Gewöhnung an die Armut. Also etwa an diejenigen, die nachts in der Innenstadt die Mülltüten von den Bürgersteigen sammeln, zehntausende von Cartoneros, die wieder zu Gespenstern des Urbanen werden: Sie sind noch da, doch man sieht sie nicht mehr. Für eine kurze Zeit, so berichtet ein befreundeter Designer, hätten damals alle den Müll säuberlich vorsortiert und in ordentlichen Tüten vor die Tür gestellt. "Heute macht das keiner mehr."
Trotzdem gibt es seit jener Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit im Kulturbetrieb und sogar in jener Welt des schnellen Glamours, also Mode, Medien und Design, die in Buenos Aires seit jeher beheimatet ist. Ein Beispiel ist der Stardesigner Martin Churba, der vergangenes Jahr seine Kollektion "Bajo Flores" präsentierte, gedacht als "liebevolle Hommage an die Diversität" und die "reale Schönheit" der bolivianischen Näherinnen in Bajo Flores. Dabei, so betonte Churba immer wieder, sei es ihm ausdrücklich nicht um Mitleid und Solidarität gegangen, sondern um "Annäherung an das Unbekannte". Ausgrenzung und Diskriminierung seien ihm selbst als Schwuler ja nicht ganz fremd. Derlei Argumente stoßen bei den Radio-Aktivisten der Villa auf wenig Verständnis. "Der hat doch keinen Schimmer von Bajo Flores", sagt Mariela Pugliese. Und vor allem: Die Leute hier hätten keine Ahnung, wer Martin Churba ist.
Nun zeichnet sich in Buenos Aires eine politische Wende ab. Bei den Bürgermeisterwahlen im Juni 2007 hat der konservative Unternehmer Mauricio Macri mit deutlichem Vorsprung gewonnen. Was das für die neue Stadtpolitik – gerade auch in den Villas – bedeutet, bleibt abzuwarten.