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Soziale Bewegungen in Argentinien | Lateinamerika | bpb.de

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Soziale Bewegungen in Argentinien

Timo Berger

/ 5 Minuten zu lesen

In Argentinien hat sich ein System des sozialen Protagonismus etabliert, der sich von vielen Bewegungen in anderen Staaten Lateinamerikas unterscheidet. Er agiert unabhängig von den Gewerkschaften, ist horizontal aufgebaut und fällt Entscheidungen im Konsens. Dieses Konzept birgt allerdings auch Risiken.

Kinder spielen in einer aufgegeben Fabrik in Rio Gallegos im Süden Argentiniens (© AP)

Seit Ende der Siebzigerjahre sind in Argentinien soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Anliegen und Forderungen entstanden. Die politisch und gesellschaftlich bedeutendsten sind zum einen die kooperativen Bewegungen, die gegen die Folgen der 1975 beginnenden neoliberalen Umstrukturierung der Wirtschaft kämpfen, zum anderen die Menschenrechtsbewegungen, die sich Ende der 1970er-Jahre als Reaktion auf die Machtübernahme durch eine Militärjunta formiert haben: Ihr Kampf richtet sich gegen die Straflosigkeit der während der Diktatur (1976-1983) begangenen Menschenrechtsverbrechen, sowie gegen die Nichtahndung aktueller Menschenrechtsverletzungen durch die Obrigkeit. In den vergangenen Jahren haben verstärkt auch Umweltanliegen und Fragen ethnischer Identität zur Entstehung sozialer Bewegungen geführt.

Die im internationalen Vergleich wohl interessantesten, weil neuartigsten sozialen Bewegungen sind die kooperativen Bewegungen, die sich im Zuge der Wirtschaftskrise Mitte der 90er-Jahre entwickelt haben. Diese Bewegungen werden von dem argentinischen Soziologen Marcelo Musante in vier Gruppen eingeteilt: 1. Arbeitskooperativen, also kleine Erzeuger, die sich zusammenschließen, um ihre Produktion, meist landwirtschaftliche Güter und Kunsthandwerk, zu stärken. 2. Arbeiterkooperativen, die von ihren Eigentümern verlassene Fabriken besetzen und sie wieder in Produktionsstätten verwandeln. 3. Kooperativen, die sich um den Bau von Häusern kümmern, um so dem dramatischen Mangel an Wohnraum in Argentinien zu begegnen und 4. die Bewegungen der arbeitslosen Arbeiter, die so genannten Piqueteros, die sich auf Stadteilebene selbst organisieren, und den Staat durch ihre Blockaden von Hauptstraßen und Zufahrtswegen von Produktionsstätten und Regierungsgebäuden zur Einführung von ABM-Maßnahmen gezwungen haben.

Entstehung des neuen sozialen Protagonismus

Nach dem wirtschaftlichen Boom in der ersten Amtsperiode von Carlos Menem geriet Argentinien ab 1997 in eine sich immer mehr verschärfende Rezession. Massenentlassungen im Zuge der Privatisierungen und Rationalisierungen in Staatsbetrieben Anfang und Mitte der 90er-Jahre, sowie die unzureichende Schaffung alternativer Arbeitsplätze hatten zuvor bereits die Situation von Zehntausenden von Argentiniern verschlechtert. Ende der 1990er-Jahre wurde auch die Mittelschicht von der ökonomischen Krise erfasst: Im Oktober 2001 waren laut offiziellen Zahlen 18,3 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Die Rate schnellte bis zum Mai 2002 auf 21,5 Prozent.

Weder von Seiten der peronistischen Gewerkschaften, die jene vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderte Strukturanpassungspolitik in den 1990er-Jahren mitgetragen haben, noch von der Regierung waren Antworten auf die äußerste Notlage zu erwarten. Während die ökonomische Situation des Landes schließlich im Zusammenbruch der Wirtschaft und Währung Ende 2001 gipfelte, entwickelte sich in den am stärksten von der Krise gebeutelten Schichten der Bevölkerung ein neuer sozialer Protagonismus. In der europäischen Soziologie werden die Protest- und Widerstandsbewegungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit postmateriellen Anliegen aufkommen, als "neue soziale Bewegungen" bezeichnet. Ein Begriff, der nicht auf die argentinische Situation übertragen werden kann: Die dort entstandenen sozialen Bewegungen stellen sowohl materielle als auch postmaterielle Anliegen ins Zentrum ihrer Kämpfe. Hiesige Wissenschaftler wie die Mitglieder des Colectivo Situaciones sprechen deshalb lieber von einem neuen sozialen Protagonismus, um auf die grundlegend andere Ausrichtung dieser Bewegungen hinzuweisen: ihre klare Ablehnung der kapitalistischen Art und Weise, das politische und wirtschaftliche Leben zu organisieren. "¡Qué se vayan todos" ("Sie sollen alle abhauen!") lautete demgemäß der Protestruf, der Ende 2001 landesweit zu hören war.

In der Selbstorganisation macht das Colectivo Situaciones das zweite wichtigste Unterscheidungsmerkmal des neuen sozialen Protagonismus aus. So sind Bewegungen entstanden wie das Movimiento de Trabajadores Desocupados ("Bewegung arbeitsloser Arbeiter"), die autonom von Regierung und Gewerkschaften agieren, die sich dezentral und territorial organisieren, die nicht hierarchisch, sondern horizontal aufgebaut sind und Entscheidungen für Aktionen nach dem Konsensprinzip in der asamblea, einer politischen Versammlung, fällen.

Normalisierung und Interaktion mit der Regierung

Am 19. und 20. Dezember 2001 zwang ein Volksaufstand die amtierende Regierung von Präsident Fernando de la Rúa zum Rücktritt. Sein Nachfolger Eduardo Duhalde erklärte den Staatsbankrott. Doch dieser "kurze Sommer der Anarchie", die Massenproteste und Anwohnerversammlungen, die auf den ökonomischen Kollaps folgten, sind Geschichte. Nach einer Abfolge von vier Interimspräsidenten gelang es dem 2003 gewählten Peronisten Néstor Kirchner, den sozialen Frieden wiederherzustellen. Auch die Wirtschaft hat sich seitdem erholt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Argentiniens verzeichnet seit 2003 durchgängig Wachstumsraten von über fünf Prozent, die Arbeitslosenzahlen sind zurückgegangen, die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze hat sich mehr als halbiert.

Doch die ökonomische und institutionelle Normalisierung ist nicht allein das Verdienst Kirchners. Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, die Abkehr von einem strikt neoliberalen Modell und die Ausweitung von Sozial- und Fortbildungsprogrammen für Erwerbslose, sowie die Wiederaufnahme der Prozesse gegen die Menschenrechtsverbrecher der letzten Militärdiktatur wären undenkbar ohne den neuen sozialen Protagonismus. Kirchner sah sich aufgrund seiner schwachen Wählerbasis – er wurde nur mit 22 Prozent der Stimmen Präsident – und dem geringen Rückhalt in der eigenen Partei zur Zusammenarbeit mit den Basisorganisationen gezwungen. Kaum im Amt lud er 2003 die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und Arbeitslosenbewegungen in die Casa Rosada, den Präsidentenpalast. Zahlreiche Initiativen seiner Regierung sind im Austausch mit Vertretern sozialer Bewegungen und als Reaktion auf ihren Kampf entstanden.

Fragmentierung der Bewegungen

Die Kooperation mit Kirchner hat jedoch die Einheit der Bewegungen endgültig aufgebrochen. Während einige Arbeitslosengruppen und die Menschenrechtsorganisation Madres von der Plaza de Mayo den Präsidenten inzwischen unterstützen und damit zu Mittlern zwischen Regierung und Basis geworden sind, haben sich andere Bewegungen weiter radikalisiert und sich oftmals aufgrund interner politischer Differenzen oder Führungsstreitigkeiten gespalten. Insbesondere die Bewegung der Arbeitslosen ist stark fragmentiert: Mittlerweile gibt es mehr als 200 Organisationen und das bei rückläufigen Mitgliederzahlen. Schätzungen gehen von 200.000 bis 500.000 organisierten Arbeitslosen aus. Allerdings haben gleichzeitig in Argentinien klassische Arbeiterkämpfe wieder zugenommen: In den vergangenen zwei Jahren kam es in allen Wirtschaftsbereichen wieder zu Streiks für höhere Löhne und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen.

Die Erfahrungen des Volksaufstandes 2001 und des langjährigen Kampfes gegen die Straflosigkeit haben in Argentinien ein Bewusstsein für die Stärke gemeinschaftlichen Handelns von der Basis aus geschaffen und Aktions- und Widerstandsformen wie die politische Versammlung, die Straßensperrung und die Selbstorganisation im kollektiven Gedächtnis verankert. Ein Beispiel dafür sind die aktuellen Proteste der Anwohner einer argentinischen Grenzstadt am Ufer des Rio Uruguay. Seit Ende 2005 kämpft die "Umweltversammlung der Bürger von Gualeguaychú" gegen den Bau einer Zellulosefabrik auf der anderen Uferseite. Ihre wirksamste Kampfmethode: Die Sperrung der Brücken nach Uruguay.

Quellen

Externer Link: Argentinisches Wirtschaftsministerium

Externer Link: Argentinisches Statistikinstitut INDEC

Interview mit Marcelo Musante, Soziologe an der Universidad de Buenos Aires (UBA), geführt am 24.08.2007 vom Verfasser dieses Artikels.

Literatur

Benclowicz (2006), José Daniel: "La iqzierda y la emergencia del movimiento piquetero en la Argentina. Análisis de un caso testigo", in Espiral, Volumen XIII, Nummer 37, September-Dezember, Centro Universitario de Ciencias Sociales y Humanidades de la Universidad de Guadalajara, Guadalajara, Mexiko, S. 123-143.

Blank (2004), Martina: "Autonomie und Territorialität. Aspekte eines neuen sozialen Protagonismus im Großraum Buenos Aires", in: Kaltmeier/Kastner/Tuider (Hrsg.), Neoliberalismus-Autonomie-Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika, Westfälisches Dampfboot, Münster.

Colectivo Situaciones (2003): ¡Qué se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien, Berlin, Assoziation A.

Colectivo Situaciones (2002): 19 y 20. Apuntes para el nuevo portagonismo social, Ediciones de Mano en Mano, Buenos Aires.

Gold (2005), Birte: "Erkämpfte Ordnung, verordnete Kämpfe | Argentiniens soziale Bewegungen zwischen Selbstorganisation und Klientelismus", in Externer Link: iz3w Nr. 289, November, S. 13-16

Wurzenberger (2005), Andrea: Die Piqueteros in Argentinien. Entstehung und Organisation einer Neuen Sozialen Bewegung, Kölner Arbeitspapiere zur internationalen Politik, Nr.48, (Externer Link: PDF)

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Timo Berger, geboren 1974 in Stuttgart, hat Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Lateinamerikanistik in Tübingen, Buenos Aires und Berlin studiert. Er hat in Zeitungen und Zeitschriften zahlreiche Beiträge zu Südamerika veröffentlicht. Heute lebt Berger als freier Journalist und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen in Berlin.