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Lateinamerika: Politische Transformation zur Demokratie | Lateinamerika | bpb.de

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Lateinamerika: Politische Transformation zur Demokratie

Peter Thiery

/ 7 Minuten zu lesen

Nach etwa drei Jahrzehnten trägt die Demokratie-Entwicklung Lateinamerikas sehr ambivalente Züge. Neben den liberalen Demokratien wie in Uruguay und Chile hat Brasilien gute Aussichten, sich durch eine gute Regierungsführung weiter zu stabilisieren. Getrübt werden die Perspektiven allerdings durch dramatische soziale Verwerfungen in vielen anderen Staaten.

Pinochetgegner halten Transparente mit dem Bild des ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende und seinem Widersacher Pinochet auf einer Gedenkfeier im Dezember 2006 in Santiago, Chile. (© AP)

Lateinamerika hat sich in den vergangenen 30 Jahren zu einer demokratischen Region entwickelt. Zum Vergleich: Im Jahr 1977 gab es mit Costa Rica, Venezuela und Kolumbien nur noch drei Staaten, die als Demokratien eingestuft werden konnten. Die übrigen 16 Länder wurden autoritär regiert – zumeist von Militärs oder militärisch gestützten zivilen Regierungen.

Innerhalb von nur 13 Jahren kehrte sich diese Situation um: Außer Kuba und dem Nachzügler Mexiko konnten sich im Jahr 1990 alle Regierungen auf eine demokratische Legitimation durch weitgehend freie und faire Wahlen stützen. Von wenigen Rückschlägen abgesehen ist Lateinamerika bis heute weitgehend demokratisch geblieben, doch ist die Qualität dieser Demokratien begrenzt.

Transitionsforschung

Die politikwissenschaftliche Demokratieforschung, die sich mit der empirischen Analyse der jungen Demokratien der so genannten "Dritten Welle" beschäftigt (Transitionsforschung), hat in ihrer Agenda diese Entwicklungen nachvollzogen. Ging es in den späten 1970er-Jahren um die Frage, warum in Lateinamerika die bestehenden Demokratien zusammenbrachen, wurde Mitte der 80er-Jahre zunehmend die Ablösung der Autokratien und die Errichtung der Demokratien thematisiert. Daran schlossen sich in den Neunzigern zum einen die Konsolidierungsforschung an, die nach den Bedingungen der Stabilisierung der jungen Demokratien fragte, zum anderen ein Forschungsstrang, der die oft geminderte Reichweite der Demokratien – "defekte Demokratien" – analysierte. Im Zuge der empirischen Analysen wandelte sich auch das – auf Mindestkriterien zielende - Demokratiekonzept: Standen anfangs vor allem freie und faire Wahlen sowie die Möglichkeiten politischer Partizipation im Vordergrund, so setzte sich in den 90er-Jahren ein Demokratiebegriff durch, der die rechtsstaatliche Einbindung dieser "Wahldemokratien" – Gewaltenteilung, Menschenrechte, unabhängige Justiz - als ebenso notwendig ansieht.

Transition: Wege aus der Diktatur

Die rasche Abfolge der Ablösung der alten Regime gleicht einem Dominoeffekt, der ähnlich in Afrika und Osteuropa beobachtet werden konnte. In der Tat spielten das regionale wie auch das internationale Umfeld der Achtzigerjahre eine wichtige Rolle. Insbesondere die gewandelte Haltung der USA, die in der Hochphase des Kalten Krieges viele Rechtsdiktaturen gestützt hatte, trug zur Stärkung des demokratischen Lagers bei.

Ausschlaggebend für die Demokratisierung waren jedoch interne Faktoren, deren unterschiedliche Gemengelage auch zu verschiedenartigen Übergangsprozessen führte. Vor allem die Lernprozesse im Lager der Linken, später auch der Rechten, führten zu einer größeren Akzeptanz der früher als "formal" eingestuften repräsentativen Demokratie. Die Ablösung der autoritären Regime war zudem wesentlich bestimmt von deren Leistungsfähigkeit und Legitimation, was zu unterschiedlichen Verlaufsmustern führte:

In Chile war das Militärregime unter Pinochet (1973-1990) relativ leistungsfähig, institutionalisiert und von etwa einem Drittel der Bevölkerung auch akzeptiert, weshalb es den Übergang zur Demokratie weitgehend diktieren konnte und autoritäre Regelungen die Demokratie noch bis 2005 belasteten.

In Argentinien führte das Versagen der Militärjunta (Wirtschaftspolitik, Menschenrechtsverletzungen, Falkland/Malvinas-Krieg) zum Kollaps des Regimes im Jahr 1982. Nach der Amtsübernahme von Präsident Alfonsín (1983-1989) war die Blockademacht der Militärs aber noch groß genug, um zum politischen Scheitern des Staatsoberhaupts beizutragen.

In Zentralamerika spielten externe Kräfte eine weitaus größere Rolle. Die Unbeweglichkeit der von den USA gestützten oligarchischen Regime hatte in El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua seit den Sechzigerjahren zu Bürgerkriegen geführt. Dieser "Zentralamerika-Konflikt" wurde ab Mitte der Achtziger unter starker internationaler Beteiligung weitgehend befriedet, sukzessive wurden freie und faire Wahlen abgehalten.

Den langwierigsten Übergang erlebte Mexiko, wo das zivile Ein-Parteien-Regime (1917-2000) bis in die 70er-Jahre von seiner erfolgreichen Institutionalisierung und Legitimierung in den 30er- und 40er-Jahren zehren konnte.

In den übrigen Ländern bestimmte zumeist eine Mischung aus Lenkung und Verhandlung zwischen Regime und Opposition den Transitionsverlauf.

Drei Jahrzehnte Demokratie-Entwicklung

Nach der erfolgreichen Ablösung der autoritären Regime stagnierte allerdings in den meisten Ländern die Demokratie-Entwicklung. Zu den Errungenschaften gehört neben dem Zurückdrängen der Militärs unter die Kontrolle der zivilen Regierungen, dass demokratische Wahlen zur Routine geworden und Staatsstreiche wie in Peru 1992 die große Ausnahme geblieben sind. Dagegen ist der weitere Auf- und Ausbau der demokratischen Institutionen – vor allem des Rechtsstaats und der staatlichen Verwaltung – trotz einiger Reformversuche wenig vorangekommen. Alte und teils auch neue Eliten konnten sich zumeist gut in den "defekten Demokratien" einrichten, ohne für eine höhere Repräsentativität und Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgern zu sorgen. Schwache Parteiensysteme und Zivilgesellschaften führten dazu, dass vor allem in den Andenländern und in Zentralamerika weite Teile der Bevölkerung nur eine sehr schwache Position im Prozess der Meinungs- und Willensbildung besaßen.

Erschwert wurde die Festigung liberaler Demokratien zudem durch die enormen sozio-ökonomischen Ungleichgewichte. Zum einen ist Lateinamerika bis heute der Kontinent mit der größten sozialen Ungleichheit geblieben, was die Beteiligungschancen mindert. Zum anderen löste die Verschuldungskrise zu Anfang der 80er-Jahre eine Welle neoliberaler Strukturreformen aus, die die meisten demokratischen Regierungen stark unter Druck setzten und in einigen Ländern (Argentinien, Bolivien, Venezuela, Ecuador oder Peru) nahe an den Zusammenbruch der Demokratie führten. Der Erfolg dieser Reformen war indes oft bescheiden und verstärkte Rufe nach einer starken Führung, wofür die politische Kultur und der Präsidentialismus einen geeigneten Nährboden darstellten. Nur wenige Länder – wie Chile und Uruguay - sind seit der Rückkehr zur Demokratie von tieferen politischen Krisen verschont geblieben.

Zum Stand der Demokratie – Demokratie-Qualität

Auch im neuen Jahrtausend hat sich an den grundlegenden Problemlagen wenig geändert. Insgesamt haben die lateinamerikanischen Demokratien mit einem nur partiell gesicherten staatlichen Gewaltmonopol, unzureichenden Verwaltungsstrukturen und vor allem defizitären Rechtsstaaten zu kämpfen. Ihre Stabilität wird zudem durch die schwachen Vermittlungskanäle zwischen Staat und Gesellschaft (Parteiensystem, Verbändewesen) und die Entfaltungsprobleme demokratischer Zivilgesellschaften beeinträchtigt.

Mithilfe der Demokratie-Messung lassen sich nicht nur die großen Unterschiede zwischen den Ländern deutlich erkennen, sondern auch eine eigene Mischung aus Erfolgen und Defiziten lokalisieren. Demnach sind nur Uruguay, Costa Rica und Chile rechtsstaatlich verfasste und stabile Demokratien, die zudem über einen funktionsfähigen Staat verfügen. Sieht man vom autoritär gebliebenen Kuba ab, so sind die restlichen Länder hingegen als "defekte Demokratien" zu bezeichnen. Sie verfügen zwar über eine relative Stabilität der politischen Institutionen, doch sind die bürgerlichen Freiheitsrechte durch Defizite in Staatlichkeit und Rechtsstaat eingeschränkt ("illiberale Demokratie") oder die Gewaltenteilung wird zugunsten der Exekutive ausgehebelt ("delegative Demokratie"). Zu ihnen gehören auch die bevölkerungsreichsten Länder Brasilien, Mexiko und Argentinien, in denen 60 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas leben.

Am schwierigsten ist die Situation allerdings in Zentralamerika und in den Andenländern sowie prekär vor allem in Kolumbien, Guatemala und Venezuela. Kolumbien leidet nach wie vor unter dem Bürgerkrieg, der zur Einschränkung der politischen und bürgerlichen Freiheitsrechte bis hin zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen führt. In Guatemala wurde zwar 1996 der Bürgerkrieg beendet, doch ist die Gesellschaft gespalten geblieben. Gewaltakteure hinter den Kulissen bestimmen ebenso die soziale und politische Realität wie die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung.

In Venezuela ist die Demokratie vor allem durch die Machtmonopolisierung in der Exekutive belastet. Das Regieren am Rande der Verfassung, für das die lateinamerikanischen Präsidialdemokratien besonders anfällig scheinen, hatten exemplarisch schon der argentinische Präsident Menem (1989-1999) und der peruanische Präsident Fujimori (1990-2000) vorexerziert. Präsident Chávez (seit 1998) hat das Aushebeln der konstitutionellen Kontrollinstanzen und damit einher gehend die Schwächung der demokratischen Institutionen noch weiter vorangetrieben, unter anderem verschärft durch den Aufbau parastaatlicher Parallelstrukturen zum Staatsapparat. Dies führt dazu, dass die weitgehend demokratisch erworbene politische Macht, mit der Chávez die Politik seiner "Bolivarianischen Revolution" vorantreiben will, sich der notwendigen Gewaltenkontrolle entzieht und deutlich autokratische Formen angenommen hat.

Verschärft hat sich in den vergangenen Jahren in den meisten Ländern zudem die Erosion der Staatlichkeit, wozu insbesondere die Ausweitung der organisierten Kriminalität im Verbund mit Drogenhandel und Korruption beigetragen hat. Dies führt beispielsweise dazu, dass Grundrechte weiter ausgehöhlt werden und neue Vetomächte entstehen. Von der Ausweitung der Gewaltkriminalität sind insbesondere Mexiko und Zentralamerika betroffen. Die ungebrochen hohe Korruption (Transparency International) wiederum hat zu Apathie und Entfremdung gegenüber den demokratischen Institutionen beigetragen.

Perspektiven

Nach etwa drei Jahrzehnten trägt die Demokratie-Entwicklung Lateinamerikas sehr ambivalente Züge. Neben den drei liberalen Demokratien Costa Rica, Uruguay und Chile haben Brasilien und mit Abstrichen El Salvador gute Aussichten, sich durch eine gute Regierungsführung ihrer politischen Eliten weiter zu stabilisieren. Getrübt werden die Perspektiven allerdings dadurch, dass vor dem Hintergrund nach wie vor dramatischer sozialer Verwerfungen in etwa der Hälfte der Länder gegenläufige Tendenzen zur Demokratie-Festigung auszumachen sind. So ist die Anziehungskraft politischer Strömungen, für die greifbare politische Maßnahmen bzw. die Machtbehauptung gegenüber den alten – und gewiss nicht minder korrupten - Eliten wichtiger sind als mühsame demokratische Verfahren, vor allem in den Andenländern Venezuela, Bolivien, Ecuador und Peru sowie in Nicaragua und Mexiko als sehr hoch einzustufen.

Literatur

Merkel, Wolfgang/ Hans-Jürgen Puhle/ Aurel Croissant/ Claudia Eicher/ Peter Thiery: Defekte Demokratie, Bd. 1: Theorie, Opladen: Leske und Budrich.

Thiery, Peter (2006): Lateinamerika, in: Wolfgang Merkel/ Hans-Jürgen Puhle/ Aurel Croissant/ Peter Thiery: Defekte Demokratie, Bd. 2: Regionalanalysen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 21-161.

Thiery, Peter 2006: Demokratie in Lateinamerika. Von der zweiten zur "dritten Tansition"?, in: Peter Birle/ Detelf Nolte/ Hartmut Sangmeister (Hrsg.): Demokratie und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt am Main: Vervuert, S. 93-122.

Thiery, Peter/ Wolfgang Merkel (2007): Die Dritte Demokratisierungswelle: Lateinamerika, in: Wolfgang Merkel: Systemtransformation, Wiesbaden.

Werz, Nikolaus (2005): Lateinamerika. Eine Einführung, Baden-Baden: Nomos, (Kap. 9 – 13), S. 262-363.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Peter Thiery ist seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP), Ludwig-Maximilians-Universität München. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind u.a. empirische Demokratieforschung und Lateinamerika. Zuletzt ist von ihm erschienen: Defekte Demokratie, Bd. 2: Regionalanalysen, Wiesbaden 2006 (Ko-Autor)