Während des FIFA-Konföderationen Pokals Mitte 2013 geriet Brasilien durch wochenlange Massendemonstrationen – anstatt durch fußballerische Leistungen – international in die Schlagzeilen. Politik und Öffentlichkeit reagierten überrascht und ratlos. Das Land galt in den vergangenen Jahren als ein Paradebeispiel für den Aufstieg: Ein vormaliges, von ständigen politischen und ökonomischen Krisen geschütteltes Entwicklungsland steigt zu einem Global Player mit stabiler Demokratie, soliden wirtschaftlichen Wachstumsraten und erfolgreicher Politik des Abbau sozialer Ungleichheiten und Armut auf
Aufbau des Bildungssystems
Das brasilianische Erziehungswesen hat seit der Gründung der ersten Schulen durch die Jesuiten im 16. Jahrhundert eine lange und wechselvolle Geschichte mit ausgeprägten Sprüngen, Phasen der Stagnation, Fortschritten und Rückschritten durchlaufen, die stets in engem Bezug zu den sozialen und politischen Wandlungsprozessen des Landes standen
Das System sieht wie folgt aus:
GRUNDBILDUNG (ENSINO BÁSICO)
Vorschulische Erziehung (Educação Infantil)
Kindergarten (Crêche) bis 3 Jahre
Vorschule (Ensino Pré-Escolar) 4-5 Jahre
Primarstufe (Ensino Fundamental) 6-14 Jahre
Sekundarstufe (Ensino Médio) 15-17 Jahre
HÖHERE BILDUNG (ENSINO SUPERIOR)
In Ergänzung hierzu existieren verschiedene weitere formelle schulische Systeme, insbesondere die auch im LDB von 1996 explizit erwähnte Berufsbildung (Educação Profissional), die zunehmend an Bedeutung gewinnt sowie die Jugend- und Erwachsenenbildung (Educação de Jovens e Adultos), die sich an Personen richtet, die nicht im vorgesehen Alter ihre Bildungsabschlüsse erworben haben und diese später nachholen wollen
Bildungsexpansion
Seit den 1950er-Jahren des letzten Jahrhunderts erlebte Brasilien eine kontinuierliche Erhöhung der Einschulungsraten und eine Ausweitung der Schulzeit. Im Vordergrund standen dabei zunächst einmal eine Universalisierung der Grundbildung im Primarbereich und die Reduzierung des Analphabetismus. Noch in den 1950er-Jahren bestand die Hälfte der Bevölkerung über 15 Jahre in Brasilien aus Analphabeten; in den ärmeren Regionen lag die Rate deutlich höher. Es gab bisher eine Vielzahl von Kampagnen. Seit 2003 wird versucht durch das Programm Brasil Alfabetizado den Analphabetismus abschließend zu bekämpfen
Bildungsqualität
Die im Dezember 2013 vorgestellten neuesten PISA-Ergebnisse lösten nicht nur in Deutschland sondern auch in Brasilien, zumindest in Regierungskreisen, Zufriedenheit aus. Was war geschehen? Seit Beginn von PISA im Jahre 2003 beteiligt sich Brasilien an dieser wichtigsten internationalen Lernstandserhebung von 15-jährigen Schülern und bekam im Intervall von zwei Jahren bestätigt, was im Prinzip schon bekannt war, nämlich dass sein Bildungssystem, gemessen an den Ergebnissen, miserabel ist.
Umso größer war die Freude als bekannt wurde, dass in Mathematik Brasilien das Land mit der höchsten Punktesteigerung seit 2003 ist. Auch in den anderen Bereichen (Lesen, Naturwissenschaften) sind leichte Fortschritte erkennbar.
PISA-Resultate Brasilien 2000-2012
Jahr | Lesen | Private | Naturwissenschaften |
---|---|---|---|
2000 | 396 | 334 | 375 |
2003 | 403 | 356 | 390 |
2006 | 393 | 370 | 390 |
2009 | 412 | 386 | 405 |
2012 | 410 | 391 | 405 |
Quelle: INEP (2013/2014)
Ob diese Ergebnisse nun, wie Bildungsminister Aloizio Marcandante meinte, ein großer Fortschritt sind oder doch nur ein erster Schritt, sei dahingestellt. Zwar zeigen die Werte in der Tat eine ansteigende Tendenz, sie sind jedoch nach wie vor weit vom internationalen Mittelfeld entfernt. Die Abstände zum OECD Mittelwert betragen in Mathematik 103 Punkte, Lesen 86 Punkte und Naturwissenschaften 96 Punkte. Mit anderen Worten: Es geht voran, aber in einem eher gemächlichen Tempo. Als positiv zu werten ist die Tatsache, dass der Leistungsanstieg nicht, wie in früheren Phasen, durch eine Steigerung in der ohnehin schon leistungsstarken Spitzengruppe erreicht wurde, sondern durch eine signifikante Verbesserung bei den Leistungsschwachen. Befanden sich im Jahre 2009 in Mathematik noch 38,1 Prozent der Schüler unterhalb von Level 1 und waren somit nicht in der Lage, auch nur einfachste Aufgaben zu lösen, so ist dieser Anteil nunmehr auf 35,2 Prozent gesunken.
So gut diese Verbesserungen im niedrigen Leistungsbereich sind, so gibt die Tatsache, dass sich im Segment der Leistungsstarken (Level 5 und 6) seit zehn Jahren praktisch nichts bewegt, Anlass zur Besorgnis. In Mathematik liegt deren Anteil unverändert bei ca. 1 Prozent und damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 13 Prozent. Bei der Lese-Kompetenz und in Naturwissenschaften ist die Lage eher noch schlechter. Diese internationalen Befunde stimmen weitgehend mit den Resultaten nationaler Untersuchungen überein: Das Niveau ist nach wie vor prekär, aber die bildungspolitischen Maßnahmen der letzten Jahre, die Steigerung des Anteils der Bildungsausgaben auf circa 5,3 Prozent des BIP, die Implementierung eines Nationalen Bildungsplans und ein gut strukturiertes Evaluationssystem zeigen zumindest erste positive Wirkungen. Die vom Institut Paulo Montenegro seit 2001 regelmäßig durchgeführten Untersuchungen zum Alphabetisierungsniveau, die nicht nur Lese- und Schreibfähigkeiten einbeziehen sondern auch Mathematikkenntnisse, zeigen, dass der Anteil der Analphabeten (komplette oder funktionale) zwischen 15 und 64 Jahren in der vergangenen Dekade von 39 Prozent auf 27 Prozent zurückgegangen ist. Auch hier ist jedoch auffallend, dass der Anteil der Bevölkerung in der obersten der vier Kompetenzstufen seit zehn Jahren unverändert bei etwa 25 Prozent liegt
Bei den wichtigsten nationalen Lernstandserhebungen (Prova Brasil, Sistema de Avaliação da Educação Básica – SAEB) sind nach Phasen rückläufiger Leistungen erste Anzeichen einer Trendwende zu erkennen. Seit 2005 steigt der Anteil der Probanden, deren Leistungen in Mathematik und Lesen ein altersgemäßes Niveaus aufweisen, kontinuierlich
Zusammenfassend lässt sich somit man sagen, dass die Richtung stimmt; angesichts der eher geringen Entwicklungsdynamik ist allerdings zweifelhaft, ob das von der Regierung gesetzte Ziel, bis 2022 OECD-Niveau zu erreichen, realistisch ist.
Bildungschancen
Die Probleme der Bildungsqualität in Brasilien werden dadurch verschärft, dass bei den Bildungschancen gravierende regionale, soziale, ökonomische und ethnische Unterschiede auftreten. Zwar haben sich durch gezielte bildungspolitische Maßnahmen diese Chancenunterschiede verringert, sie existieren aber nach wie vor. Einige Beispiele
Der Anteil der Schüler mit mangelnder Lesekompetenz varriert je nach Bundesland zwischen 74 Prozent und 32 Prozent.
Die Analphabetenrate von Schwarzen ist mit 13,4 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die der Weißen (5,9 Prozent), ihre Nettoeinschulungsrate (die Anzahl der in einer Bildungsstufe eingeschulten Personen in Prozent der Bevölkerung) in der Sekundarstufe beträgt 43,5 Prozent, die von Weißen 60,3 Prozent .
Auch die schulischen Leistungen der unterschiedlichen ethnischen Gruppen (Weiße, Mischlinge, Schwarze, Sonstige) weichen deutlich voneinander ab.
Diese Unterschiede sind, neben anderen Faktoren, auch das Ergebnis der Verteilung des Zugangs zu materiellen und pädagogischen Ressourcen. Dies wird deutlich anhand der Leistungsunterschiede zwischen den Schülern des öffentlichen, gebührenfreien Sektors und des durch Schulgebühren finanzierten privaten Sektors. Letzterer ist im Durchschnitt materiell und personell besser ausgestattet, verfügt über effizienter gestaltete pädagogische Prozesse und wird überwiegend von Jugendlichen aus kulturell und ökonomisch gehobenen Schichten besucht, die in der Lage und bereit sind, die monatlichen Schulgebühren zwischen 100 und 400 Euro zu bezahlen.
Es kann daher nicht überraschen, dass die PISA Punktwerte der brasilianischen Privatschulen 2012 um ca. 23 Prozent über denen der öffentliche Schulen lagen. Diese Differenz war in den früheren PISA-Untersuchungen allerdings noch deutlich höher. Ihre Verringerung ist zum größten Teil einer Verschlechterung der Leistung der Privatschulen zuzuschreiben; die Gründe für diesen Niedergang sind bis dato unklar.
Hochschulen zwischen Markt und Staat
Die an die Grundbildung anschließende Höhere Bildung hat sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem vertikal und institutionell äußerst diversifizierten und segmentierten System entwickelt
Insgesamt zeigen die zum Zweck der Qualitätssicherung regelmäßig durch geführten Evaluationen (Sistema Nacional de Avaliação da Educação Superior – SINAES), dass das Leistungsniveau, mit Ausnahme einiger Spitzenuniversitaten, die sich international auf Augenhöhe befinden, eher mäßig ist, wobei die Qualität der gebührenfreien öffentlichen Hochschulen im Durchschnitt besser ist.
Da die Nachfrage nach den gebührenfreien Studienplätzen an den öffentlichen Hochschulen trotz deren massiven Ausbaus in den letzten Jahren das Angebot bei weitem übersteigt (1:8) wird der Zugang über die in Aufnahmeprüfungen (Examen Nacional do Ensino Médio – ENEM, Vestibular) erzielten Ergebnisse gesteuert. Dabei hatten in der Vergangenheit die Absolventen teurer Privatschulen die deutlich besseren Karten, was dem Ziel der Gleichheit widerspricht und schlecht für das soziale Gefüge ist. Um dieser Entwicklung entgegen zu steuern, wurde 2012 ein Quotengesetz verabschiedet, das bestimmt, dass an den Bundesuniversitäten die Hälfte der Studienplätze für Kandidaten reserviert werden, die durchgehend öffentliche Schulen besucht haben. Innerhalb dieser Gruppen sollen dann weitere Quotierungen nach ethnisch-rassischen und sozio-ökonomischen Kriterien angesetzt werden. Ob diese Regelung zu mehr sozialer Gerechtigkeit oder zu einem Qualitätsverlust in der akademischen Bildung führt, wird die Zukunft zeigen.
Schlussbetrachtungen
Das trotz beachtlicher Anstrengungen und mancher Fortschritte nach wie vor vergleichsweise niedrige Bildungsniveau Brasiliens beeinträchtigt die internationale Wettbewerbsfähigkeit und eine nachhaltige wirtschaftliche sowie sozial ausgewogene Entwicklung des Landes. Im Global Competitiveness Index 2012/13 des World Economic Forum belegt Brasilien unter 148 Ländern Rang 56; in der Komponente weiterführende Bildung (Sekundarstufe, Berufsbildung, Hochschule, Fort- und Weiterbildung) jedoch nur Rang 72
Da Bildung stets ein Langzeitprojekt ist, kann sich diese Lage nur mittel- bis langfristig zum Besseren wenden. Voraussetzungen hierfür ist, neben der geplanten schrittweisen Steigerung der Bildungsausgaben, insbesondere eine effizientere Zuweisung und Verwendung der Mittel, der systematische Ausbau eines leistungsstarken Berufsbildungssektors, eine Verbesserung der Lehrerausbildung, die Konsolidierung des Hochschulbereichs und eine Modernisierung der Lehrsysteme.