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Mehr Demokratie wagen Rechtsstaat und staatliche Ordnung in Brasilien

Dr. Peter Thiery

/ 9 Minuten zu lesen

Rund drei Jahrzehnte nach der Militärdiktatur gilt Brasiliens Demokratie heute als gefestigt und hat Aussichten, sich durch gute Regierungsführung weiter zu stabilisieren. Doch besonders bei der staatlichen Ordnung und der Durchsetzung des Rechtsstaats gibt es massive Probleme

Fernando Collor de Mello (rechts) war der erste direkt gewählte demokratische Präsident Brasiliens nach der Militärdiktatur. Hier bei einem Deutschlandbesuch 1989 mit dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. (© picture-alliance)

Brasilien hat sich in den vergangenen dreißig Jahren in kleinen Schritten zu einer relativ stabilen Demokratie entwickelt, doch sind gravierende Funktionsprobleme vor allem in der staatlichen Ordnung und dem Rechtsstaat geblieben. Sie schmälern nicht nur die Qualität der Demokratie selbst, sondern auch deren weiteren Konsolidierungsaussichten. Allerdings besteht zu Pessimismus vorerst kein Anlass: Das Entstehen neuer Mittelschichten in den letzten zehn Jahren hat – wenngleich bis dato noch unzureichend – die große soziale Ungleichheit abgebaut und damit neue soziale und politische Partizipationschancen eröffnet. Auch die massiven Proteste seit dem FIFA-Konföderationen-Pokal im Juni 2013 sind nicht negativ zu bewerten. Vielmehr deuten sie darauf hin, dass die brasilianische Bürgergesellschaft lebhafter geworden ist und von den Regierenden stärker die Bereitschaft einfordert, die Wünsche und Interessen der Bürger zu berücksichtigen.

1. Entwicklungslinien: Von der Diktatur zur Demokratie heute

Der Übergang zur Demokratie wurde in Brasilien von den Militärmachthabern schon in den 1970er-Jahren mit Maßnahmen zur Liberalisierung des autoritären Regimes (1964-85) eingeleitet und von ihnen stark gelenkt. In ihrer über 20-jährigen Regierungszeit griffen die brasilianischen Militärs zwar auch auf Repression zurück, doch anders als die Militärregime in Argentinien und Chile ließen sie sich nicht derart schwere Menschenrechtsverletzungen zuschulde kommen. Auch aufgrund ihrer halbwegs passablen Wirtschaftsbilanz waren sie deshalb am Ende ihres Regimes nicht so diskreditiert wie die meisten anderen Militärdiktaturen in der Region. Nachdem seit Ende der 1970er-Jahre erste Forderungen nach freien Wahlen aufgekommen waren, wurden schließlich unter Präsident Figueiredo (1979-85) die letzten Schritte der Demokratisierung eingeleitet. Die Militärs, die ein großes Misstrauen gegenüber politischen Parteien hegten, wollten diesen Prozess kontrollieren und setzten deshalb auf eine indirekte Wahl des ersten zivilen Präsidenten nach ihrer Zeit. Dies führte im Jahr 1984 zur Kampagne für die Durchführung der Direktwahl eines demokratischen Präsidenten, die bis dahin erste – und für lange Zeit letzte – Massenmobilisierung in Brasilien. Allerdings blieb sie ohne Erfolg.

Im Januar 1985 gewann Tancredo Neves die Wahlen durch ein Wahlmännergremium, verstarb jedoch noch vor Amtsantritt; an seiner Stelle übernahm der gewählte Vizepräsident José Sarney das Amt. Seine Regierung (1985-90) hatte aber nur wenig Handlungsspielraum gegenüber den Militärs, die sich überdies während der Ausarbeitung der neuen Verfassung erfolgreich gegen eine substanzielle Beschränkung ihrer Autonomie wehren konnten. Andererseits führte die lebhafte Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen während der Ausarbeitung der Verfassung dazu, dass ein breites Spektrum an Sozial- und Partizipationsrechten in der Verfassung verankert wurde, weshalb sie auch als "Bürgerverfassung" bezeichnet wird.

Der Übergang zur Demokratie endete mit dem Amtsantritt des ersten direkt gewählten demokratischen Präsidenten, Fernando Collor de Mello, im März 1990. Collors Amtszeit war von Beginn an durch eine schwere Wirtschaftskrise gekennzeichnet, die sich aus der Erschöpfung des alten lateinamerikanischen Entwicklungsmodells der importsubstituierenden Industrialisierung ergab und zu wachsender Arbeitslosigkeit, steigenden Inflationsraten, hoher Auslandsverschuldung und wachsenden Haushaltsdefiziten führte. Ohne eigene Mehrheit im Parlament setzte Collor deshalb für seine umfangreichen Reformvorhaben auf einen unilateralen und populistischen Regierungsstil, der ihn alsbald in Konfrontation zum Kongress brachte. Inmitten politischer und wirtschaftlicher Wirren trat der Präsident schließlich im Jahr 1992 zurück, nachdem das Parlament gegen ihn ein Impeachment-Verfahren wegen Korruption eingeleitete hatte. Die Amtsgeschäfte übernahm der gewählte Vizepräsident Itamar Franco, der bis zum Ende der Wahlperiode 1994 regierte. Unter Franco begann dessen Finanzminister, der international renommierte Soziologe Fernando Henrique Cardoso, mit grundlegenden Wirtschaftsreformen, die die brasilianische Volkswirtschaft nach mehreren gescheiterten Anläufen allmählich wieder stabilisierten.

Sowohl Franco als auch Cardoso, der 1994 zum Präsidenten gewählt und – nach einer entsprechenden Verfassungsänderung – im Jahr 1998 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde, pflegten gegenüber dem Kongress einen weitaus kooperativeren Regierungsstil ("Koalitionspräsidentialismus"). Dies trug dazu bei, dass auch die politische Stabilität zunahm und sich die Demokratie als Staats- und Regierungsform festigte. Sie überstand einige Stürme wie die Finanzkrise 1999 ("Brasilienkrise") und war auch durch die anhaltende soziale Schieflage nicht zu erschüttern. Allerdings wurden zunehmend zivilgesellschaftliche Gruppen aktiv wie etwa die Bewegung der Landlosen (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST), die auch auf Landbesetzungen zurückgriff.

Hoffnung und Besorgnis gleichermaßen weckte im Jahr 2002 die Wahl von Luiz Inácio "Lula" da Silva, dem ehemaligen Gewerkschaftsführer und Vorsitzenden der Arbeiterpartei (PT), zum Präsidenten. Für die Demokratieentwicklung Brasiliens war erstens von Bedeutung, dass zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Mann aus dem Volk, sprich einer der Unterprivilegierten, an die Staatsmacht gelangte. Zweitens zeigte sich nach kurzfristigen Börsenturbulenzen, dass die noch junge Demokratie auch einen solchen sozio-politischen Richtungswechsel vertrug. Drittens packte Lula nun auch soziale Reformen an, um Armut und Ungleichheit systematischer zu bekämpfen, die den Unterbau jeglicher Demokratie gefährden. Getragen vom Wirtschaftsboom der 2000er-Jahre und der nach wie vor großen Unterstützung seiner Politik führte dies nicht nur zu seiner Wiederwahl, sondern auch zur Wahl seiner designierten Nachfolgerin Dilma Rousseff.

2. Zum Stand der Demokratie-Qualität

Vor 1985 hatte in Brasilien keine wirkliche Demokratisierung stattgefunden. Ein demokratisches Erbe wie etwa in Chile und Uruguay, auf dem das Land hätte aufbauen können, war nicht vorhanden. Zusätzlich belasteten anfangs die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen bis 1992/1993 die noch junge Demokratie. In den zwanzig Jahren seither ist die Qualität der Demokratie langsam, aber stetig gewachsen. Dennoch wird Brasilien noch immer als "defekte Demokratie" eingestuft. Mit den meisten anderen Ländern Lateinamerikas – ausgenommen die als liberale Demokratien geltenden Länder Uruguay, Costa Rica und Chile – teilt sie ein bestimmtes Regime-Muster: Neben einer teils ungefestigten Staatlichkeit besteht insbesondere eine Kluft zwischen Partizipation und Rechtsstaat. So sind auf der einen Seite die politischen Freiheiten weitgehend gesichert: freie und faire Wahlen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene; reger und nicht beschränkter politischer Wettbewerb zwischen den Parteien; breite Partizipationsmöglichkeiten auch für die Zivilgesellschaft und eine lebhafte Medienlandschaft. Auf der anderen Seite ist es aber bislang nicht gelungen, die rechtsstaatlichen Sicherungen gegen Machtmissbrauch bzw. Garantien für die Rechte der Bürger hinreichend zu verankern. Letzteres ist auch mit der noch immer sehr hohen sozialen Ungleichheit verknüpft.

Im Rückblick ist freilich zunächst festzuhalten, dass Brasilien beträchtliche demokratische Fortschritte erzielt hat. Die Kontrolle über die Demokratisierung hatte es den Militärs zunächst ermöglicht, viele Privilegien zu bewahren und sie durch Einflussnahme auf die Verfassungsgebung sogar formal festschreiben zu lassen. Präsident Collor de Mello (1989-1992) konnte diese Vorrechte zwar brechen – heute spielen die Militärs keine Rolle mehr als Veto-Macht im politischen System. Allerdings sorgte er selbst mit seinem Regierungsstil für eine Aushöhlung der Gewaltenteilung, wie sie etwa auch die peronistischen Regierungen in Argentinien, Präsident Fujimori in Peru oder später Hugo Chávez in Venezuela praktizierten. Gestützt auf die direkte Legitimation durch die Wähler und die in der Verfassung vorgezeichnete Machtfülle des brasilianischen Präsidenten war Collor überzeugt, mit Dekreten auch gegen Parteien und Kongress regieren zu können, in dem seine Partei nur über acht Prozent der Sitze verfügte. Der Widerstand des Kongresses brachte Collor zwar dazu, seinen Regierungsstil zu ändern und durch Verhandlungen Unterstützung im Parlament zu suchen. Schließlich aber stolperte er über den horrenden Machtmissbrauch durch Korruption – eine weitere Schattenseite der meisten lateinamerikanischen Rechtsstaaten.

Die Überwindung dieser Fehlentwicklungen – von der Korruption abgesehen – hat zusammen mit der gelungenen Wirtschaftsstabilisierung unter Präsident Cardoso dazu beigetragen, dass sich die demokratischen Institutionen und Verfahren zunehmend stabilisierten und mit mehr Leben gefüllt werden konnten. Dies hat sich unter den Präsidentschaften von "Lula" da Silva, der dezidiert die Partizipation der Zivilgesellschaft förderte, sowie Dilma Rousseff fortgesetzt. Hervorzuheben sind auch neue Formen der Bürgerbeteiligung wie die "partizipativen Bürgerhaushalte", auch wenn deren Wurzeln bis in die 1980er-Jahre zurückreichen und nicht selten altbekannte informelle Praktiken wie Klientelismus, Patronage und Korruption die Fortschritte beeinträchtigen. Weitere Probleme auf der Seite der von Wahlen und politischen Freiheiten geprägten Demokratiedimension betreffen etwa das nach wie vor stark fragmentierte Parteiensystem, das Koalitionsbildungen und damit ein stabiles Regieren erschwert, die mangelnde Transparenz der Parteien- und Wahlkampffinanzierung oder die oligopolistische – in einigen Bundesstaaten gar monopolistische – Struktur der Massenmedien.

Die eigentlichen Schattenseiten der brasilianischen Demokratie liegen freilich in den Bereichen Staat und Rechtsstaat. Während die Gewaltenteilung mittlerweile – zumindest auf Bundes-Ebene – gut funktioniert und von den politischen Eliten nicht in Frage gestellt wird, schmälern mangelnde Rechtsdurchsetzung und Gesetzesbefolgung, Korruption sowie die ungleiche Garantie von Bürgerrechten den Wert der Demokratie. Diese Probleme sind freilich struktureller Natur und lassen sich – sofern man nicht alleine auf den Zahn der Zeit durch gesellschaftliche Modernisierung setzen möchte – nur mit starkem politischem Reformwillen oder eben durch gesellschaftlichen Druck verändern. Doch selbst dann sind die Widerstände seitens etablierter Machtgruppen noch beträchtlich.

Die Schwächen des Rechtsstaats sind dabei eng mit Problemen der Staatlichkeit verwoben. Der brasilianische Staat ist zwar bemüht, das staatliche Gewaltmonopol landesweit durchzusetzen, doch ist ihm dies bis heute nicht vollständig gelungen. Zwar ist die staatliche Ordnung nicht derart unter Druck wie in Zentralamerika oder Mexiko, die auf der Transitroute des Drogenhandels nach Nordamerika liegen. Dennoch sind die Defizite in Teilen des Landes beziehungsweise in einigen Bereichen als gravierend anzusehen. Hierzu zählen etwa die Verhältnisse in den Slums der Großstädte, in denen rechtsfreie Räume existieren und in die sich bis vor kurzem die Polizei bestenfalls zu Blitzrazzien wagte. Fraglich ist, ob die im Hinblick auf Fußball-Weltmeisterschaft und Olympia 2016 gestarteten Befriedungsversuche – von manchen als "Säuberungen" angeprangert – zu einer dauerhaften Lösung für die Bewohner führen werden.

Rechtsfreie Räume existieren auch im weiten Landesinneren, wo es wiederholt zu massiven Menschenrechtsverstößen bis hin zu sklavenähnlichen Zuständen kommt. Hier hat die Regierung in den letzten Jahren mit verschärften Razzien reagiert; eine Verfassungsänderung soll zudem die Enteignung von Landbesitzern wegen Sklaverei erlauben. Gerade Im Zusammenhang mit Landkonflikten oder illegalen Rodungen im Regenwald gibt es nach wie vor Übergriffe bis hin zu Morden an Aktivisten durch Auftragskiller, die in einigen Regionen mit der stillschweigenden Duldung der Polizei und der örtlichen Behörden operieren können. Hinzu kommt die insgesamt hohe Kriminalität, die einerseits jene Bevölkerungsschichten besonders trifft, die sich keine privaten Sicherheitsdienste leisten können. Andererseits mündete die Gegenreaktion des Staates wiederholt in exzessiver Polizeigewalt – eine Situation, wie sie etwa der Film "Tropa de Elite" einschließlich der Verquickung mit Drogenmafia und Korruption verdeutlicht hat. Gemessen an der absoluten Zahl an Morden ist Brasilien schon Weltmeister – zwischen 40.000 und 50.000 jährlich, etwa eine Million seit Beginn des Demokratisierungsprozesses 1985.

3. Hindernisse der Demokratie: Ungleichheit und mangelnde Entwicklungsdynamik

Die Ursachen der Demokratie-Probleme Brasiliens sind vielschichtig, und manche von ihnen scheinen wie in einem Teufelskreis zusammenzuwirken. Als tiefere Ursachen für mangelnde Demokratiequalität gelten strukturelle Faktoren an, die sich unter anderem aus dem Entwicklungsniveau ergeben. Brasilien hat als Land mit mittlerem Einkommen und durch den deutlichen Entwicklungsschub der letzten zehn Jahre zwar tendenziell gute Voraussetzungen für eine weitere Konsolidierung, doch trüben mehrere Elemente diese Aussichten. Hierzu zählt neben den immensen regionalen Unterschieden die nach wie vor hohe soziale Ungleichheit. In Brasilien haben die Boomjahre der 2000er-Jahre zusammen mit den sozialpolitischen Maßnahmen unter Lula und Rousseff zwar zum Entstehen neuer Mittelschichten und auch zum Abbau von Ungleichheit geführt. Allerdings ist das Niveau der Ungleichheit im internationalen Maßstab nach wie vor sehr hoch. Selbst in Lateinamerika, der "ungleichsten Weltregion", zählt Brasilien zu den Spitzenreitern.

Als besonderen Engpass sehen Entwicklungsexperten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL neben regressiven Steuerstrukturen das Bildungssystem an, wo vor allem Jugendlichen aus unteren Schichten der Übergang von der Sekundär- zur Tertiärbildung nicht gelingt und so Ungleichheit weiter verfestigt wird. Hinzu kommt, was Experten als "middle income trap" bezeichnen: Länder wie Brasilien, Mexiko, eventuell aber auch China, erreichen demnach zwar das Niveau von Ländern mittleren Einkommens, können aber nicht mit den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und nicht mehr mit den Niedriglohn-Ländern konkurrieren. Um dieser Falle zu entkommen sind insbesondere Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie vonnöten – eine Herausforderung, der sich Brasiliens Regierungen bis dato nur unzureichend gestellt haben.

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ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Heidelberg.