Der Nationalkongress in der Hauptstadt Brasilia, erbaut zwischen 1958 und 1960. Dieses und viele andere öffentliche Gebäude der Stadt wurden von dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer entworfen. 1987 wurde das Bauwerk zum Weltkulturerbe erklärtNach 21 Jahren Militärdiktatur kehrte Brasilien ab 1985 zu demokratischen Spielregeln zurück, die bis heute in Kraft sind. Die Stabilität des politischen Systems ist, gerade auch verglichen mit manchem lateinamerikanischen Nachbarland, bemerkenswert. Brasilien hat in den vergangenen dreißig Jahren nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern auch innenpolitisch einen Lernprozeß absolviert. Seit dem Jahr 2000 wird zudem in Brasilien über elektronische Wahlmaschinen gewählt, Wahlfälschung ist dort gegenwärtig kein Thema mehr.
Institutionen
Brasilien ist ein föderativer Bundesstaat (26 Einzelstaaten und der Bundesdistrikt Brasília) mit einem präsidentiellen Regime. Der Präsident wird alle vier Jahre mit absoluter Mehrheit direkt gewählt, gegebenenfalls in einem zweiten Wahlgang. 2014 wird am 5. und 26. Oktober gewählt. Auch die Gouverneure der Einzelstaaten werden für vier Jahre direkt gewählt. Seit 1997 können Politiker in Exekutivämter wiedergewählt, was vorher wie in vielen lateinamerikanischen Staaten untersagt war.
Wahlberechtigt sind in Brasilien alle Personen ab 16 Jahren; zwischen dem 18. und dem 70. Lebensjahr besteht Wahlpflicht. Wer (mehrmals) nicht wählt, kann sein Wahlrecht einbüßen und Sanktionen erleiden.
Das brasilianische Parlament besteht aus zwei Kammern: dem Senat und dem Abgeordnetenhaus. Trotz des allgemeinen Wahlrechts ist das Gewicht der Wählerstimmen faktisch regional sehr unterschiedlich. Da jeder Bundesstaat, unabhängig von seiner Einwohnerzahl, drei Senatoren stellt, begünstigt das gegenwärtige Wahlsystem eindeutig die Wähler des (armen) Nordostens (z.B. Bahia) und Nordens gegenüber den dichtbesiedelten und bereits industrialisierten Regionen des Südostens (São Paulo, Rio de Janeiro) und Südens. Auch bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus bevorzugt die festgelegte Mindestzahl von Abgeordneten den Norden und Nordosten gegenüber den dicht besiedelten Staaten wie São Paulo. Die Mindestzahl von Abgeordneten für dünn besiedelte Einzelstaaten beträgt acht; die Höchstzahl je Einzelstaat ist 70.
Während Senatoren auf acht Jahre direkt gewählt werden, werden die Abgeordneten durch ein sogenanntes "personalistisches Verhältniswahlrecht" für vier Jahre bestimmt. Das bedeutet, Abgeordnete kandidieren auf der Liste einer Partei oder Parteienverbindung, und die Zahl der gewählten Abgeordneten bestimmt sich nach den kumulierten Stimmen für die jeweiligen Listen. Gewählt werden die Abgeordneten allerdings nicht nach ihrer Reihenfolge auf der Liste, sondern nach der jeweils persönlich erhaltenen Stimmenzahl. Der Kandidat wirbt also im Wahlkampf primär für sich und weniger für seine Partei.
Parteien
Das demokratische Parteiensystem Brasiliens nach 1985 hat keine fixe Struktur, in der sich ideologisch fundierte Gegner gegenüber stehen. Vielmehr ist alles "im Fluß": Politiker wechseln in Brasilien vor Wahlen immer noch die Parteien, neue Vereinigungen entstehen auch im Parlament. Auch dies gehört zur brasilianischen politischen Kultur. Hier dominiert nicht die ideologische Positionierung links oder rechts, hier werden in permanentem Networking vor allem sehr persönliche Interessen optimiert. Eine Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg zwischen Abgeordneten verschiedener Parteien ist üblich.
Das heutige Parteiensystem Brasiliens ist somit nicht sinnvoll in ein Links-Rechts-Schema einzuordnen. Die für die Benennung häufig gewählten Adjektive ("sozial", "sozialdemokratisch", "liberal", "demokratisch") führen einen an der mitteleuropäischen oder deutschen Parteienlandschaft orientierten Leser eher in die Irre. Wichtig ist: Alle Parteien sind für sich allein auf nationaler Ebene lediglich nicht regierungsfähige Minderheiten, selbst die größten Fraktionen im Abgeordnetenhaus stellen seit 2010 bestenfalls zwischen je 10 Prozent und knapp 20 Prozent der 513 Abgeordneten, mit bei den letzten Wahlen abnehmender Tendenz. Parteien, die nicht (mehr) an der Regierung und damit an der "Gesamtpfründe Staat" beteiligt sind, verlieren sofort an Abgeordneten. Jede "siegreiche" Partei wird deshalb auch nach den Wahlen von 2014 auf Koalitionspartner angewiesen sein.
Für die nationalen Wahlen im Oktober 2014 dürfen – nach heutigem Stand – 32 beim Wahlgericht registrierte Parteien antreten. Zwei davon (Solidariedade und Pros – Partido Republicano da Ordem Social) wurden erst Ende 2013 gegründet, durch "Überläufer" aus anderen Parteien. Ca. 10 Prozent der Abgeordneten und zwei Senatoren wechselten zu diesem Zeitpunkt ihre Partei. Der Grund ist nachvollziehbar: Die Pros-Anhänger positionierten sich bereits für den erwarteten Wahlsieg der jetzigen Präsidentin Dilma Rousseff 2014 und wandten sich von dem vermuteten Wahlverlierer Eduardo Campos von der PSB ab.
Im Folgenden die zurzeit wichtigsten, weil größten Parteien Brasiliens:
PT (Partido dos Trabalhadores)
Die Arbeiterpartei (PT) ist in Deutschland sicher die bekannteste politische Partei Brasiliens. Entstanden aus der sozialen Protestbewegung der späten 1970er-Jahre, verband sie damals Gewerkschaftler, Intellektuelle und katholische Politiker. Ihr populärster Vertreter ist seit dieser Zeit Lula da Silva, der dreimal vergeblich für das Präsidentenamt kandidierte (1989, 1994, 1998), aber dann 2002 gewann. Der PT stellt aber auch nur ca. 20 Prozent der Abgeordneten und ist daher zum Regieren auf eine Reihe von Koalitionspartnern angewiesen. Als Oppositionspartei stellte der PT 1998 nur 59 Abgeordnete, als Regierungspartei 2010 aber 86 – und damit die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus.
PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro)
Die Nachfolgepartei der als gleichsam "institutionalisierte Oppositionspartei" von den Militärs 1965 gegründeten Partei MDB (Movimento Democrático Brasileiro) erwies sich als wesentlich überlebensfähiger als die damalige "Regierungspartei" ARENA (Aliança Renovadora Nacional), die nach der Diktatur mehr und mehr zerfiel. Im weitgehend ideologiefreien PMDB versammeln sich traditionell die Politiker, die "auch dabei" sein wollen. Unter Dilma Rousseff stellen sie den Vizepräsidenten Michel Temer, den Präsidenten des Senats, Renan Calheiros, den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Henrique Eduardo Alves, und eine Vielzahl von Ministern, Gouverneuren und Bürgermeistern. Für die Präsidentschaft aber stellte die Partei gar keinen Kandidaten auf, ihre Vertreter sind mit dem weitgehenden Zugriff auf die staatlichen Ressourcen vollauf zufrieden. 78 Abgeordnete wurden 2010 für den PMDB gewählt, eine relativ stabile Größe über die letzten Jahrzehnte.
PSDB (Partido da Social–Democracia Brasileira)
Die "Sozialdemokraten" sind die 1988 als Abspaltung vom PMDB gegründete Partei Fernando Henrique Cardosos und stellten mit diesem für acht Jahre den Präsidenten. Sie verloren aber die letzten drei Präsidentschaftswahlen, weil der PMDB und sein Wählerklientel auf die Seite Lulas wechselten. Ihr Präsidentschaftskandidat für 2014, Aécio Neves aus Minas Gerais, liegt in allen Umfragen weit hinter Dilma Rousseff.
DEM (Demócratas, seit 2007; 1984-2007 PFL Partido da Frente Liberal)
Die konservative – und keineswegs liberale – Partei der Demócratas verlor in den letzten Jahren zunehmend an Wählern, Abgeordneten und Einfluß. Auch die Umbenennung der "Liberalen" in "Demokraten" stoppte diesen Prozess nicht. In der letzten Legislaturperiode spaltete sich ihre Fraktion.
PP (Partido Progressista)
Der PP entstand 1995 aus einer Fusion verschiedener Rechtsparteien, in Nachfolge von ARENA und PDS, den Parteien des Militärregimes. Bei der Wahl im Jahr 2010 erreichte der PP die Zahl von 44 Abgeordneten.
PR (Partido da República)
Die 2006 gegründete Partei entstand aus einer Fusion des Partido Liberal und von PRONA und sammelte ebenfalls versprengte Ex-Anhänger von ARENA ein. Die 41 Abgeordneten des PR kommen aus ganz Brasilien, mit den Schwerpunkten Minas Gerais und Rio de Janeiro.
Politische Spielregeln
Die innenpolitische Praxis Brasiliens erklärt sich aus den – durchaus sinnvollen, aber ungeschriebenen – Spielregeln politischer Kooperation. Weder die Parteien noch die Politiker stehen sich während der Legislaturperioden oder gar generell in festen ideologischen Lagern gegenüber. Fast jeder kann vielmehr mit jedem anderen irgendwie und zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten. Mehrheiten müssen deshalb von der Regierung immer neu gesichert werden. Ein Beispiel hierfür war der mensalão-Skandal (siehe unten). Die Vertretung persönlicher oder regionaler Interessen durch Abgeordnete gegenüber Fraktionsführung oder Regierung wird als legitim angesehen, die Grenze zur strafbaren Korruption bleibt fließend. Selbst offensichtliche Korruption wird nur selten von der Justiz verfolgt.
Die Prozesse des Interessen- und Machtausgleiches erfordern zudem generell viel Zeit: Gesamtstaatliche, einzelstaatliche und regionale Interessen müssen unter den wichtigen Akteuren "abgeglichen" werden. Viele unverzichtbare Mitspieler sind zudem nicht im Parlament vertreten: Milliardäre und Millionäre lassen meist "Politik machen", nur ganz wenige wirklich Reiche interessiert ein Sitz im Senat oder Abgeordnetenhaus oder gar ein Ministerium.
Politik in Brasilien ist somit ein permanenter Verhandlungsprozeß, der nur bedingt in der Öffentlichkeit von Parlamentsdebatten stattfindet. Wichtige Absprachen erfolgen lange vor der Wahl, in Industriellenklubs in São Paulo, mit Verbänden, in zivilen und – immer noch – in militärischen Zirkeln. Der Präsident hat in diesem System gewissermaßen die Funktion des Kaisers als poder moderador geerbt: Er muß ständig vermitteln, Mehrheiten sichern und Interessen ausgleichen. Es wäre also völlig falsch, das Amt des Präsidenten institutionell mit absoluter Machtausübung in Verbindung zu bringen.
Zu den Eigenheiten Brasiliens zählt auch, dass Wahlen nicht wesentlich über Printmedien beeinflußt werden können (überregionale Zeitungen und Zeitschriften haben eine sehr begrenzte Relevanz und Auflage), sondern über Fernseh- und Radiostationen. Hier kommen die Medienkonzerne ins Spiel, die es auf nationaler wie regionaler Ebene gibt, aber beispielsweise auch die Sender von Religionsgemeinschaften. Besonders das Medienimperium der neo-pfingstkirchlichen "Universalkirche" (Igreja Universal do Reino de Deus) von Bischof Edir Macedo sei hier genannt. Diese Kirche "unterhält" auch eine eigene Partei, den Partido Republicano Brasileiro, mit acht Abgeordneten.
Brasilien ist ein extrem Internet-affines Land, die Mittelschichten haben dieses Medium schon lange für sich entdeckt. Aber auch die Parteien nutzen es, um ihre Wähler in einem Territorium von 8,5 Millionen Quadratkilometern zu mobilisieren. Das Internet könnte somit im Wahlkampf 2014 erstmals eine relevante Rolle spielen.
Politologen und die politisch sehr aktiven Verfassungsjuristen Brasiliens versuchen seit Jahrzehnten, dieses politische System zu "optimieren", politische Zersplitterung zu minimieren und Entscheidungsabläufe zu rationalisieren. Eine Reform des politischen Systems steht permanent auf der Agenda, konnte bisher aber nie realisiert werden. Auch im Februar 2014 forderte Dilma Rousseff die Abgeordneten wieder auf, Reformen – als Antwort auf die Unruhen im Jahr 2013 – endlich voranzubringen. Nachdem dies seit 1946 diskutiert wird, ist eine Einigung in den nächsten Monaten aber völlig unwahrscheinlich.
Politische Korruption und mensalão
Wenigstens kurz soll hier noch auf den größten Korruptionsskandal Brasiliens in der Phase der Re-Demokratisierung eingegangen werden, den Versuch der PT, nach ihrer Regierungsübernahme 2003 die Korrumpierung von Abgeordneten "nachhaltig" und systematisch zu gestalten.
Demokratie in Brasilien ist teuer – jeder Abgeordnete muß seinen Wahlkampf irgendwie refinanzieren. Zudem hat er in einem klientelistischen System kaum vermeidbare Verpflichtungen gegenüber seinem Umfeld. Daraus folgt: Fast jeder Abgeordnete ist anfällig für monetäre Anreize. Die geniale Idee der Führung des PT nach dem Wahlsieg 2002 war, die (in ihren Augen) unvermeidlichen Bestechungsprozesse zur Stabilisierung des Abstimmungsverhaltens in beiden Kammern zu systematisieren und zu rationalisieren. PT-Führer José Dirceu erfand gewissermaßen die "nachhaltige" Korrumpierung. Und er hatte drei Jahre lang damit beste Erfolge und die Regierung Lula da Silva konnte in dieser Zeit einige Strukturreformen durch das Parlament bringen. Konkret bedeutet das, dass dem einzelnen Abgeordneten monatlich (deshalb mensalão) umgerechnet etwa 11.000 Euro gezahlt wurden, um verläßlich für die Regierung zu stimmen. Das Geld wurde über verschiedene Kanäle "organisiert" und im Finanzsektor "gewaschen"..
Der Hauptverantwortliche des Unternehmens, José Dirceu war sein ganzes Leben ein militanter Vertreter der brasilianischen Linken gewesen. In der Regierung Lula da Silva war er Chef der Casa Civil, gewissermaßen des brasilianischen Kanzleramtes. Nachdem der Abgeordnete Roberto Jefferson im Juni 2005 das Bestechungssystem mensalão aufgedeckt hatte, mußte nach und nach fast die komplette Führungsriege des PT zurücktreten. Lediglich Präsident Lula da Silva blieb auf wundersame Weise vom ganzen Vorgang unberührt – und gewann die Wahl 2006.
Von anfänglich 38 Angeklagten im mensalão-Prozeß wurden 25 verurteilt: Politiker des PT, Politiker diverser anderer Parteien und die Manager der Geldwäsche aus dem Finanzsektor. Der Prozeß fand erst 2012 statt, und endete am 12. November 2012 zur allgemeinen Überraschung mit sehr harten Urteilen gegen die Angeklagten. Im Falle Dirceu verhängte Richter Barbosa, der zum Nationalhelden wurde, eine Gesamtstrafe von zehn Jahren und zehn Monaten Gefängnis.
Ist mit dieser spektakulären Verurteilung der Angeklagten Brasilien nun frei von politischer Korruption? Sicher nicht. Straflosigkeit ist nicht mehr garantiert, aber Brasilien steht weiterhin auf Platz 72 im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International.
Vergleichbares und Unterscheidbares: Deutschland, Bayern und Brasilien
Das Parteienspektrum Brasiliens läßt sich nicht sinnvoll mit dem deutschen Parteiensystem in Relation setzen. Aussagen wie PSDB = SPD oder DEM = FDP hätten wenig Substanz. Bis auf den PT, der eine Programmpartei ist, wäre bei allen anderen Parteien, mit Ausnahme der bereits 1922 gegründeten Kommunisten (PC do B), eine Analyse von Parteiprogramm und Ideologie auf Ähnlichkeiten mit mitteleuropäischen Parteien wenig sinnvoll und nicht zielführend. Brasilien ist keine parlamentarische Demokratie, sondern ein Präsidialregime. Mehrheiten bilden sich nicht per Koalitionsvertrag für eine Legislaturperiode, sondern zuweilen jeden Tag neu. Trotz aller Versuche der Obersten Gerichte, den Parteiwechsel von Abgeordneten oder Senatoren konsequent zu sanktionieren, haben auch Ende 2013 gerade wieder 10 Prozent der Abgeordneten ihre bisherige Partei verlassen und neue Parteien gegründet. (Gut, vor drei Legislaturperioden waren es mehr als 40 Prozent!) Fakt ist, nach der Wahl von 1998 gab es 18 Parteien im Abgeordnetenhaus (davon neun mit Abgeordnetenzahlen im einstelligen Bereich), nach der Wahl 2010 aber schon 22 (davon wiederum neun mit weniger als zehn Abgeordneten) – und gegenwärtig kandidieren 32 Parteien für die Wahl 2014. Das belegt noch keinen besonders eindrucksvollen Konzentrationsprozess im Parteienspektrum.
Verglichen mit dem System und der politischen Praxis der Bundesrepublik Deutschland wirkt in Brasilien sicher manches exotisch. Für den Verfasser, einen im Freistaat Bayern lebenden Franken, erscheint dagegen manches auch schon wieder fast vertraut. Es gibt durchaus Schnittmengen in der politischen Kultur: Die geringen Hemmungen von Politikern und Abgeordneten gegenüber der Versuchung persönlicher Bereicherung werden bei uns ja schon sprachlich unter "Amigo-Affären" subsumiert (in Bayern z.B. Amigo-Affäre 1994, Familien-Affäre 2013, Landrat Kreidl-Affäre 2014).
Auch fehlt in beiden Fällen, in Deutschland wie in Brasilien, eine konsequente Sanktionierung korrupter Politiker durch den Wähler. In Brasilien wurde der langjährige Abgeordnete Paulo Maluf aus São Paulo trotz all seiner Korruptionsskandale landesweit mit der höchsten persönlichen Stimmenzahl gewählt. Begründung der Wähler: "Maluf rouba, mas faz!" (Er klaut, aber er realisiert auch etwas!) Dass die meisten der von der "Familien-Affäre" des Bayerischen Landtags 2013 betroffenen MdL direkt wieder gewählt wurden, muß hier wohl nicht extra anmerken. In Bayern heißt es an den Stammtischen: "Hund samma scho!" Und in Brasilien ist man immer für einen "jeitinho" offen.
Eine weitere erstaunliche Parallele gibt es zwischen den politischen Systemen in Deutschland und Brasilien: In beiden Ländern werden zunehmend wichtige Richtungsentscheidungen von den höchsten Gerichten gefällt, in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht, in Brasilien vom Obersten Bundesgerichtshof (STF – Supremo Tribunal Federal) und vom Obersten Wahlgericht (TSE – Tribunal Superior Eleitoral). Dieses hat im Februar 2014 gerade verschiedene Bestimmungen für die Wahl 2014 konkretisiert und verschärft (Beschränkung der Wahlkampffinanzierung, der Telewerbung sowie des Austausches von Kandidaten auf den Listen kurz vor der Wahl). Diese Verlagerung politischer Entscheidungen auf die Judikative spricht aber eher für eine systemische Schwäche Brasiliens als für die Stärke der Judikative.
Die Praxis politischer Kooptationsprozesse, die Ermöglichung immer neuer Koalitionen und die Bereitschaft zu Kompromissen zwischen Regionen und Eliten prägen das politische Spiel Brasiliens nun seit über hundert Jahren. Für einen externen Beobachter mögen hier die Grenzen zwischen Pragmatismus und Opportunismus oft verschwimmen. Aber gerade die lange Erfahrung Brasiliens mit diesem politischen Bargaining sollte die Gewähr bieten, dass trotz der sozialen Unruhen des letzten Jahres die Tradition der Reformen von oben weitergehen wird und kein revolutionärer Bruch mit dem Bestehenden droht.
Der Anspruch der politischen Elite Brasiliens, ein ernst zu nehmender Akteur auf der globalen Bühne zu sein, erfordert zudem inzwischen unbedingt die demokratische Legitimierung der jeweiligen Regierung. Und dieser außenpolitische Anspruch bedingt damit nicht nur eine formale Demokratisierung, sondern die ständige Legitimierung des Regimes durch saubere Wahlen. "Ordnung und Fortschritt" stand seit der republikanischen und positivistischen Revolution von 1889 auf dem Banner aller Regierungen Brasiliens. Ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich ist seit den 1990er-Jahren als unverzichtbar hinzugekommen.