Korruption ist das Erste, was vielen in Bezug auf die politische Kultur Brasiliens in den Sinn kommt. Tatsächlich schneidet das Land im Korruptionswahrnehmungsindex 2013 von Transparency International mit 42 von 100 Punkten denkbar schlecht ab. Doch wer glaubt, dass den Brasilianern das gleichgültig ist, hat die neuen Formen von Bürgersinn noch nicht erkannt.
Während sich die Menschen früher den zentralistischen und autoritären staatlichen Prozessen gegenüber ohnmächtig fühlten, herrscht heute ein immer stärkeres Bewusstsein, dass man sich in Regierungsentscheidungen einmischen und korrupte Politiker absetzen kann. Das liegt zu einem großen Teil am Aktivismus im Internet, wie ein Beispiel aus der Gemeinde Januária im Bundesstaat Minas Gerais zeigt. In der kleinen Stadt mit wenig mehr als 65.000 Einwohnern hat keine öffentliche Einrichtung oder die Presse die illegalen Machenschaften der Lokalmacht entlarvt, sondern die Bürger. 2004 gründete der Journalist Fábio Oliva den Verein der Freunde von Januária – Asajan –, der sich für mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht der Behörden einsetzt. Der Verein veranstaltet Kampagnen und Workshops, in denen gezeigt wird, wie man Blogs erstellt, Daten zum öffentlichen Haushalt aus dem Internet abruft und Anfragen an staatliche Institutionen richtet. Diese Überprüfung der öffentlichen Finanzen trug dazu bei, dass in Januária Korruptionsfälle ans Licht kamen, die zu Anklagen und zum Fall von sieben Bürgermeistern in nur sechs Jahren führte.
Ein anderes Beispiel ist Transparência Hacker. Die Gruppe zählt heute mehr als tausend Mitglieder – Netzaktivisten, Wissenschaftler, Journalisten, Beamte –, die begeistert "die Politik hacken". Sie setzen sich ebenfalls für die Transparenz öffentlicher Daten ein und entwickeln Anwendungen, mit denen die Nutzung dieser Daten erleichtert wird. Eine davon ist die Webseite "Otoridades": Sie ermöglicht es, Fälle von Machtmissbrauch der staatlichen Behörden zu melden und so öffentlich zu machen. Ein weiteres Projekt ist "Queremos Saber" (Wir wollen wissen): Auf der Webseite kann man Informationsanfragen an öffentliche Institutionen stellen. Die Anfragen werden in der Datenbank archiviert und als E-Mail an die betreffenden staatlichen Stellen weitergeleitet. Die Antwort wird dann automatisch auf der Webseite gepostet. Das erleichtert Bürgeranfragen und macht sie öffentlich.
Das seit Mai 2012 gültige Gesetz über den Zugang zu Informationen ist ein weiterer Fortschritt – auch im internationalen Vergleich: Im Global Right to Information Rating liegt Brasilien damit auf Platz 14 von 93 Ländern. Es soll garantieren, dass die Offenlegung von Handlungen der Behörden die Regel und Geheimhaltung die Ausnahme ist, auch wenn es bei der Umsetzung noch Schwierigkeiten gibt. Es fehlen in einigen Bundesstaaten und Gemeinden Regelungen und eine ausgewiesene Behörde, die für die Umsetzung und Kontrolle des Zugangs zu Informationen verantwortlich ist. In den ersten sechs Monaten nach der Einführung gab es aber allein an die Exekutivmacht auf Bundesebene mehr als 47.000 Informationsanfragen. 94,14 Prozent davon wurden laut Regierungsangaben beantwortet. Das Verlangen der brasilianischen Gesellschaft nach mehr Teilhabe, Transparenz und Ethik in der Politik kommt auch in der Verurteilung des sogenannten Mensalão-Skandals zum Ausdruck. Zum ersten Mal machte das Oberste Gericht einflussreichen Vertretern der regierenden Arbeiterpartei (PT) den Prozess und verurteilte sie wegen Korruption zu Gefängnisstrafen. Dies ist ein beachtlicher Präzedenzfall, dessen revolutionäres Potenzial noch größer wäre, wenn die Diskussionen über die Ursprünge des Mensalão – wie die monatlich gezahlten Bestechungsgelder genannt werden, die nicht nur bei der PT an der Tagesordnung sind – auch die dringende notwendigen politischen Reformen vorantreiben würden.
Aus dem Internet auf die Straßen
Der Unmut vieler Brasilianer über die politische Korruption und die mangelnde Transparenz der Regierungsarbeit sowie die miserablen öffentlichen Verkehrsmitteln und hohen Lebenserhaltungskosten entlud sich im Sommer 2013 auf den Straßen. Organisiert und mobilisiert durch soziale Netzwerke im Internet erlebte das Land die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten – mit teils bis zu einer Million Teilnehmer. Die Proteste entzündeten sich als Reaktion auf die Erhöhung der Busfahrpreise in den großen Städten und wurden durch das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte weiter angeheizt. Es zeigte sich, dass die Demonstrationen Ausdruck von viel tiefer sitzenden Sorgen waren: die seit langem bestehende Frustration über die anhaltende soziale Ungleichheit in Brasilien und das Versagen der politischen Führung, die Erwartungen der Öffentlichkeit zu erfüllen.
Die skandalösen Ausgaben für den Bau der Stadien und Veranstaltungsorte für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiel 2016 gossen noch mehr Öl ins Feuer. Viele Bürger begannen sich zu fragen, was die brasilianische Gesellschaft von den Megaevents wirklich hat. Es gründeten sich Initiativen wie "Jogos Limpos" (Saubere Spiele), die sich für mehr Transparenz, Rechtschaffenheit und öffentliche Kontrolle der Gelder für den Bau der WM- und Olympiainfrastruktur einsetzen. Während der Termin für diese Großereignisse näher rückt, lässt auch der Protest im Internet und auf den Straßen nicht nach. Die unterschiedlichen Initiativen der politischen Teilhabe zeigen, dass die brasilianische Demokratie, wenn auch erst seit Kurzem, Reife erlangt hat. Zwar finden sich immer noch starke Spuren aus einer Zeit, in der das System der gegenseitigen Vorteilnahme der Eliten das Funktionieren der öffentlichen und privaten Bereiche bestimmte, doch das Bewusstsein der "Massenvernetzung" tritt immer mehr zutage. Das reinigt die archaischen Machtstrukturen des Landes.
Aus dem Portugiesischen von Niki Graça
Aus dem Englischen von Rosa Gosch