Gebietsforderungen, gewalttätige Auseinandersetzungen oder die umstrittene Anerkennung bestimmter Ethnien – das Thema "Indigene Völker" ist seit Langem Gegenstand öffentlicher Diskussionen in Brasilien. Dabei geht es vor allem um die Stellung der indigenen Völker in der Gesellschaft unseres Landes.
Eine entscheidende Frage lautet deshalb: Was ist eigentlich heute indigene Kultur? Zunächst einmal ein Begriff, der oft genug willkürlich von Wissenschaftlern festgelegt oder subjektiv in die Formeln juristischer Texte gepresst wurde. In diesem Zusammenhang sollte man dringend darauf hören, was die Betroffenen selbst dazu sagen. Die Meinung der unbekannten Angehörigen dieser Gruppen, die den Alltag in ihren Gemeinschaften gestalten, ist dabei mindestens genauso wichtig, wie die der offiziellen Vertreter indigener Völker. Wer nach welchen Kriterien zu einer indigenen Organisation oder Gemeinschaft gehört – darüber gehen die Meinungen auseinander.
Bei meiner Arbeit mit den indigenen Interessenvertretern Brasiliens sind mir drei verschiedene Definitionen begegnet. Spricht man mit den Vertretern der einzelnen indigenen Gruppen, den Xavantes, den Tapebas oder den Fulni-ô, wird man unterschiedliche Sichtweisen im Hinblick auf ihre Identität feststellen.
Nach Ansicht der Xavantes aus Mato Grosso muss man, um dem Volk anzugehören, nicht nur in einem ihrer Dörfer geboren sein, sondern sich vor allem einer Reihe sozialer Normen und Einschränkungen unterwerfen. Der Einzelne ist in das statische Netzwerk von Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden und sein Leben richtet sich nach im Kalender festgelegten rituellen Abläufen. Er heiratet dann, wenn der Stamm es für ihn vorgesehen hat.
Die Tapebas-Indios aus Caucaia, eine dicht besiedelte städtische Region im nördlichen Bundesstaat Ceará, definieren ihre Identität durch den brasilianischen Indigenismus. Er steht für die Wertschätzung indigener Kultur. Besonders wichtig ist den Tapebas-Indios das Engagement für die verlorenen Gebiete, die ihnen während der portugiesischen Kolonialzeit weggenommen wurden und die sie wiedererlangen wollen.
Ich gehöre den Fulni-ô an, einem indigenen Volk, das im Nordosten Brasiliens zu Hause ist. Das Wissen über die Symbole der indigenen Schöpfungsgeschichte ist für sie unabdinglich. Sie üben spezielle Rituale aus, die Teil einer geheimen Offenbarungslehre sind. Die Identität der Fulni-ô-Gruppe basiert damit im Wesentlichen auf dem Wissen über die Entstehung der Welt.
Aus den Gesprächen mit indigenen Völkern, die in verschiedenen geografischen Regionen leben und daher im Laufe ihrer Geschichte unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, wird deutlich, dass die Definition dessen, was "indigen" bedeutet, eng mit der jeweiligen Kultur verknüpft ist.
Das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik nennt "Selbstidentifizierung" als wichtigstes Kriterium dafür, wer zur Kategorie "indigen" gehört. Bei der letzten Volkszählung 2010 ist diese Gruppe größer geworden, sogar in den Großstädten. Es gibt demnach 896.917 Indigene in Brasilien.
Unter Berücksichtigung all dieser Tatsachen sollte die Frage "Wer sind die Indigenen in diesem Land?" nicht vom Staat, sondern von den indigenen Völkern selbst beantwortet werden. Hier müssen besonders die "cidadanias indígenas" gefördert werden, so lautet der Name einer Bürgerbewegung, die stärkere Beteiligung Indigener an Verwaltungs- und Entscheidungsprozessen vor Ort fordert.
Ich glaube, dass sich die indigenen Einwohner Brasiliens immer lautstärker und aktiver am Aufbau von "cidadanias indígenas" beteiligen, ohne dabei ihre eigenen Traditionen und Gebräuche zu vernachlässigen. Ein Beispiel dafür sind die politisch engagierten Angehörigen indigener Völker, die wie ich zur ersten Generation junger Indigener zählen, die eine Universität besucht haben. Viele von ihnen leben derzeit im Regenwald und unterstützen aktiv ihre jeweiligen Gemeinschaften mit den außerhalb der Dörfer gewonnenen Erfahrungen.
Aus dem Portugiesischen von Kirsten Brandt