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"Das Jahrhundert des brasilianischen Fußballs ist vorbei" | Brasilien | bpb.de

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"Das Jahrhundert des brasilianischen Fußballs ist vorbei" Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht

Hans Ulrich Gumbrecht

/ 5 Minuten zu lesen

Die Wirtschaft boomt, der Nationalsport schwächelt – wie konnte das passieren? Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht

Fußball wird in Brasilien überall gespielt, wie hier am Strand von Pinheira im Bundesstaat Santa Catarina (© picture alliance /AFP Creative)

Rosa Gosch: Herr Gumbrecht, wie ist Ihr jüngster Eindruck von Brasilien?

Hans Ulrich Gumbrecht: Ich bin seit 1977 jedes Jahr mindestens einmal in Brasilien gewesen. Der dominante Eindruck ist, dass man von den Ereignissen, die ihre Schatten vorauswerfen sollten, den Olympischen Spielen und der Fußball-Weltmeisterschaft, eigentlich wenig merkt. In Rio hat das auch damit zu tun, dass das Olympiafeld in Barra da Tijuca gebaut wird – eher außerhalb der Zone, in der man sich normalerweise als Tourist bewegt. Auch die pessimistischen Kommentare über die eigene Fußball-Nationalmannschaft nehmen zu. Es wäre furchtbar für die Brasilianer, als Gastgeber zu Hause nicht zu gewinnen. Es droht ein Trauma wie 1950, als Brasilien das erste Mal die WM organisierte und dann gegen Uruguay verlor. Das sitzt tief – wie ein Merkmal nationaler Schande.

Welche Rolle spielt der Fußball in Brasilien heute?

Das Land befindet sich in einer eigenartigen Fußball-Halbdepression. Zwischen 1958, als Brasilien zum ersten Mal Weltmeister wurde, und der WM 2006 in Deutschland hat Brasilien fast die Hälfte aller Weltmeisterschaften gewonnen, nämlich fünf von zwölf. Eigentlich war Brasilien permanent die potenziell beste Nationalmannschaft. Wenn Sie in diesen fünfzig Jahren fragten, wer die fünf besten Spieler der Welt seien, waren immer zwei oder drei Brasilianer dabei. Seit 2006 ist das nicht mehr so. Brasilien hat heute einen Status wie Holland oder Italien, sicher nicht wie Spanien, wahrscheinlich nicht einmal wie Deutschland. Brasilien ist weiterhin eine der großen Fußballnationen, aber das ganz dominante halbe Jahrhundert ist vorbei.

Dabei ist das Land ansonsten gerade so erfolgreich. Wie passt das zusammen?

Im Gegensatz zur brasilianischen Wirtschaft oder auch zum Universitätssystem hat sich der Fußball kaum entwickelt. Es gibt heute in jeder mittleren und größeren Stadt in Brasilien eine Universität, die vom nationalen Kultusministerium gefördert wird. Diese Bundesuniversitäten bilden mit Sicherheit eines der besten Universitätssysteme der Welt. Es ist ähnlich wie in Deutschland: Keine Universität ist schlecht, keine ist überragend, aber viele sind sehr gut. Auch die Wirtschaft des Landes hat sich erstaunlich entwickelt, nur der Fußball nicht. Dies betrifft sowohl den brasilianischen Fußballbund, der immer noch in der Hand der Familie des ehemaligen FIFA-Präsidenten João Havelange und enorm korrupt ist, als auch die Qualität der Trainer und das professionelle Nachdenken über Fußball.

Woran liegt das?

Brasilien ist in vielerlei Hinsicht ein Erste-Welt- Land geworden. Deshalb kann man die Hypothese anbringen, dass für die Armen in Brasilien früher die einzige Chance auf ein angenehmes Leben im Fußball lag – der Mythos von den unendlich talentierten Jungen, die am Stand spielen und dann entdeckt werden. In dem stark sozialdemokratischen Brasilien von heute, wo in den letzten acht Jahren über 30 Millionen Menschen aus der absoluten Armutszone geholt wurden, mögen Motivationsressourcen verloren gegangen sein – zumindest im Bereich des Fußballs. Das Brasilien von heute ist eben nicht mehr das Brasilien des mythischen sozialen Aufstiegs.

Wirkt sich diese Entwicklung auf das Selbstbild der Brasilianer aus?

Auf der einen Seite sind die Menschen stolz auf die Erfolge ihres Landes in den letzten 15 Jahren; auf der anderen Seite haben die Brasilianer immer ein nostalgisches, romantisches, auch exzentrisches Selbstbild kultiviert. Viele Brasilianer glauben, sie "seien Natur": ursprünglich, kraftvoll, unwiderstehlich. Für viele hat das nie gestimmt. Die Kleinbürger der brasilianischen Mittelschicht sind genauso geizig und ehrgeizig wie die in Leipzig oder Wolfsburg, aber diese Selbstromantisierung gibt es trotzdem und sie ist einer der Gründe dafür, warum die Menschen trotz des wirtschaftlichen Aufstiegs einen ambivalenten Umgang mit dem neuen Brasilianer, der kompetent ist und kompetent sein will, haben. Der Fußball fällt allem Anschein nach irgendwo zwischen diese beiden Positionen.

Welchen Einfluss haben Kultur und Medien auf dieses Bild?

Die Telenovelas haben einen sehr starken Einfluss auf das kollektive Selbstbild. Gerade das Fernsehen ist in Brasilien ein starkes Medium, wohl stärker noch als in Europa und Nordamerika. Was in den Sendern von Rede Globo, der zweitgrößten Fernsehgesellschaft der Welt, läuft, wird überall gesehen. Gelesen wird eher wenig. Dennoch hat auch die Literatur das Selbstbild der Brasilianer geprägt.

Welche Werke besonders?

Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts entstand nach einem Roman von José de Alencar ein nationaler Mythos, der "Iracema" heißt. Das Buch ist außerordentlich langweilig: eine Allegorie von Brasilien mit einem weißen Mann und einer Eingeborenen, die sich verlieben und ein Kind bekommen, das die Verkörperung des neuen Brasilien ist. Den Roman kennen aber alle. Solche Mythen überschatten in gewisser Weise die brasilianische Tradition.

Und im 20. Jahrhundert?

In den späten 1920er-Jahren schrieb Oswald de Andrade das Manifest der Anthropophagie, das Manifest der Menschenfresserei. Das lieben alle brasilianischen Intellektuellen. Ich selbst halte den Text eher für mittelmäßig – mit all diesen Topoi der Wildheit, der Natürlichkeit. Auf der anderen Seite gehören die Werke von João Guimarães
Rosa, etwa sein Epos über die Grande Sertão, die wüstenartige Hochebene im Zentrum des Landes, zur wirklich großen Literatur. Diese Identifikation des Landes mit der Natur wird darin auf einer sehr hohen Ebene gefeiert. Dann gibt es den klassischen Autor Joaquim Maria Machado de Assis aus dem späten 19. Jahrhundert. Bei ihm spielt weniger die Natur als Rio de Janeiro als Stadt und ihre Großbourgeoisie die Hauptrolle. Auch bei ihm gibt es diese exzentrischen Typen, die eine Variante der romantischen Selbstverliebtheit sind.

Zeigt sich das auch in der Politik?

Die Präsidentin Dilma Rousseff ist eher eine Art brasilianische Angela Merkel – eine Politikerin, die sich wenig stilisiert. Ihr Vorgänger Lula war ein sehr charismatischer Politiker und verkörperte die Geschichte eines romantischen Aufstiegs. Er war sicher eine der erstaunlichsten politischen Figuren des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Dilma verkörpert hingegen das neue Brasilien, auch etwas kompromissloser und erfolgreicher, nur ist sie nicht so populär. Ich glaube, in dieser Spannung zwischen politisch erfolgreich einerseits und populär andererseits spiegelt sich auch die Selbstambivalenz der Brasilianer.

Noch einmal zurück zum brasilianischen Fußball: Welche Zukunft sehen Sie für ihn?

Nationalmannschaften spielen im eigenen Land meistens stark. Ich schließe nicht aus, dass Brasilien die nächste WM gewinnt, aber halte es für unwahrscheinlich. Brasilien hat lange Zeit einen Fußballstil gespielt, den man als Ausdruck eines romantischen nationalen Selbstbildes ansehen konnte. Der technisch virtuose, etwas barocke Fußball, der die Spieler so genial aussehen ließ, als ob sie gar nicht viel trainieren müssten, war etwas, womit sich die Brasilianer identifiziert haben. Aber so, wie sich der Fußball in den letzten 15 Jahren entwickelt hat, zum One Touch Soccer, zum immer athletischeren Fußball, ist Brasilien zurückgeblieben. Das ist ja nicht tragisch. Ich denke nicht, dass es ein Gesetz gibt, das besagt, dass die Welt nur dann in Ordnung ist, wenn Brasilien Nummer eins im Fußball ist. Ich liebe dieses Land sehr und bin nicht schadenfroh. Selbst wenn die Trainer besser werden und die Familie Havelange nicht mehr die Organisation des brasilianischen Fußballs kontrolliert, muss nicht alles perfekt aussehen. Ich glaube, es gibt kein Zurück zu den fünfzig Jahren der absoluten Ausnahmestellung Brasiliens im Fußball.

Das Interview führte Rosa Gosch

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geboren 1948 in Würzburg, ist Literaturwissenschaftler und Sportfan. Seit 1989 ist
er Professor für Komparatistik an der Universität Stanford. Er schreibt regelmäßig für
die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Merkur. Gumbrecht l