Herr Hehl, was interessiert Sie an der Architektur von Favelas?
Interessant ist weniger die Architektur der Favelas, sondern vielmehr die Komplexität und Kleinteiligkeit selbstwachsender Stadtstrukturen. Diese informelle Stadt, wie sie genannt wird, ist vielschichtiger und heterogener als Städte, die wir kennen. Lange Zeit wurden die Favelas als Schattenwelt betrachtet, als marginale Siedlungen, denen man helfen muss. Schon jetzt wohnt ein Drittel der Weltbevölkerung in Slums und laut Prognosen wird in zwanzig Jahren die Hälfte aller städtischen Bewohner in informellen Siedlungen leben. Favelas lassen sich also nicht mehr vom Gesamtsystem der Stadt trennen.
Können Sie ein Beispiel für aktuelle Entwicklungen nennen?
Wir haben uns mit der "Cidade de Deus" beschäftigt, die Gegend gehörte bis vor einigen Jahren zu den gefährlichsten Gebieten Rio de Janeiros. Nun ist sie "befriedet" und die Menschen dort leben erstmals sicher vor der Drogenmafia. Die Grundstückspreise steigen deshalb um 300 bis 400 Prozent und die Leute erkennen, dass diese Gebiete, sobald sie sicher sind, ein großes Entwicklungspotenzial haben. Plötzlich entstehen Kleinunternehmen, lokaler Handel, es gibt mehr Geschäfte und es wurde sogar eine neue lokale Währung eingeführt. Allmählich eröffnen auch große Supermarktketten dort Filialen.
Das Kennzeichen von Slums war bisher das Fehlen von öffentlicher Versorgung. Passiert hier auch etwas?
Ja, es gibt in den meisten Häusern fließendes Wasser, zum Großteil auch Abwassersysteme und befestigte Straßen. Natürlich besteht immer noch ein großer Unterschied zwischen den offiziellen Stadtvierteln und den informellen Stadtgebieten, zum Beispiel herrscht immer noch ein Mangel an Erziehungseinrichtungen oder Bibliotheken.
Was zeichnet die Favela im Vergleich zur formellen Stadt aus?
Sobald die Leute auf engerem Raum wohnen, müssen sie sich stärker gemeinsam organisieren. Solche Gebiete sind von traditionellen Lebensformen geprägt. Menschen, die in die Stadt kommen, weil sie auf dem Land keine Perspektive mehr sehen, kennen Verwandte in der Favela, die sie erst einmal aufnehmen, dann versuchen sie, sich eine Existenz aufzubauen. Soziale Netzwerke sind absolut wichtig. Allerdings darf man das nicht romantisieren: Auch die Favelas werden anonymer und es gibt Single-Haushalte und Alleinerziehende wie in jeder Großstadt. So nähert sich die Bevölkerungsstruktur der Favelas derjenigen der offiziellen Stadt an.
Inwiefern könnte die Favela ein Modell für zukünftige Städte sein?
Eine informelle Stadt entwickelt sich ohne Planung, sie entsteht einfach. In Brasilien sind trotzdem viele informelle Stadtgebiete erstaunlich gut selbst organisiert. Paraisopolis ist mit 60.000 Einwohnern die zweitgrößte Favela in São Paulo und besitzt eine gut aufgestellte Gemeindeverwaltung. Die Bevölkerungsdichte ist zum Teil neun- bis zehnmal höher als der Stadtdurchschnitt: Es wird also viel weniger Fläche pro Einwohner verbraucht. Außerdem ist die Favela eine offene, kompakte Fußgängerstadt und sie bietet öffentlichen Raum, jedenfalls sobald sie sicher ist. Das sind Eigenschaften, die wir eigentlich mit der nachhaltigen Stadt in Verbindung bringen. So wird die Favela von einem Problemgebiet zu einem zukünftigen Stadtmodell. Natürlich entstehen bei dieser Selbstorganisation üblicherweise auch große Mängel, vor allem was Angelegenheiten wie die öffentliche Müllentsorgung anbelangt, daher stellt sich die Frage, wie man nachträglich intervenieren kann.
Welche Projekte kann man in Favelas durchführen?
Früher wollte man die Favelas einfach nur abreißen, heute greift man punktuell in die bestehenden Siedlungen ein. Wir kümmern uns zum Beispiel um Dinge wie Luftzirkulation oder Sonneneinstrahlungen, damit es überall natürliches Licht gibt. Dabei ist es wichtig, die Bewohner in die Planungen einzubeziehen. Konventionelle Planung kann von den Favelas lernen: Die Stadt entsteht als komplexes Produkt unter Beteiligung aller Akteure.
Das Interview führten Laura Wesseler und Timo Berger.