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Finanziell und sozial nachhaltige Spiele | Brasilien | bpb.de

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Finanziell und sozial nachhaltige Spiele Zur Zukunft sportlicher Mega-Events II

Jens Sejer Andersen

/ 7 Minuten zu lesen

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi und die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien haben weltweit Bedenken hinsichtlich der finanziellen und sozialen Kosten sportlicher Großereignisse ausgelöst. Wird der internationale Sport, werden die Sportverbände in der Lage sein, angemessen auf die Massenproteste und die Mahnungen der Politik zu reagieren?

31.01.2018, Russland, Rosa Chutor. Blick auf das alpine Olympische Dorf der Winterspiele von Sotschi in Südrussland 2014. (© picture-alliance/dpa)

Brasiliens Staatsoberhaupt Dilma Rousseff hat einen Leitspruch, der gut in ihre Eröffnungsrede bei der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft passen würde: "Ich werde den Lärm der Demokratie immer der Begräbnisstille von Diktaturen vorziehen." Obwohl die Präsidentin wohl auf den Satz verzichten wird, um ihre Gäste vom Weltverband FIFA nicht zu verärgern, so haben ihre Landsleute doch einiges dafür getan, den Lärm der Demokratie in die Welt des Sports zu tragen – mehr als jede andere Gastgebernation eines solchen Events zuvor. Denn wenn Hunderttausende Brasilianer wie 2012 beim FIFA Konföderationen-Pokal lieber auf die Straße gehen, als eine Fußballparty zu feiern, dann sagt das viel über die schwindende öffentliche Unterstützung für Sportgroßereignisse und die Verbände, die dahinter stehen.

Nun kann die FIFA nicht für die Schwächen der brasilianischen Gesellschaft verantwortlich gemacht werden. Allerdings haben die Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft dazu beigetragen, ein Schlaglicht auf Probleme zu werfen, die die Öffentlichkeit empören. Dazu gehören der Druck (der FIFA) auf demokratisch gewählte Politiker, aus dem Ruder laufende Baukosten für WM-Stadien, weitverbreitete Korruption und stadtplanerische Eingriffe rund um die Stadien, die etwa zu einem massiven Anstieg von Mieten geführt haben. Es ist gut möglich, dass die Brasilianer erneut auf die Straßen gehen werden. Und sollte die Polizei dann mit Gewalt reagieren, würde die WM wohl wegen der Ereignisse außerhalb der Stadien in Erinnerung bleiben und nicht aufgrund spektakulärer Dribblings und Tore.

Doch selbst wenn die Fußball-Weltmeisterschaft Raum für großartigen Sport und friedliche Proteste bieten würde, wären die Probleme nicht gelöst. Im Gegenteil: Am Horizont zeichnen sich bereits die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro im Sommer 2016 ab, deren Vorbereitungen bereits heute dramatisch hinter den ursprünglichen Zeitplänen liegen. Und dieselben gesellschaftlichen Probleme wie im Rahmen der WM könnten dann erneut Massenproteste im Land auslösen. Wenn wir uns zudem vor Augen führen, dass sich erst unlängst Bürger in der Schweiz, Deutschland und Polen bei Volksentscheiden gegen die Ausrichtung Olympischer Winterspiele ausgesprochen haben, dann zeigt das die weltweit wachsende Bedenken im Zusammenhang mit derartigen Großereignissen.

"Unverhältnismäßig groß, unverhältnismäßig teuer"

Nun sind diese Bedenken nicht neu. Der ehemalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Jacques Rogge, schrieb in seinem ersten offiziellen Bericht nach seiner Wahl im Jahr 2001: Das IOC dürfe es nicht zulassen, dass das alle vier Jahre stattfindende Treffen der Jugend der Welt "unverhältnismäßig groß" werde. Zudem bezeichnete es Rogge als eine Priorität seiner Arbeit, "Kosten und Größe der Olympischen Spiele zu reduzieren". Es darf bezweifelt werden, dass Rogge seine Mission erfüllt hat, denn die jüngsten Winterspiele im russischen Sotschi waren mit Baukosten für Sportstätten und Infrastruktur in Höhe von rund 50 Milliarden US-Dollar (36,7 Milliarden Euro) die teuersten in der Geschichte der Olympischen Bewegung.

Ganz gleich welche Standards man anlegt: Die Spiele von Sotschi waren "unverhältnismäßig groß". Und die Korruption, die es mutmaßlich dabei gegeben hat, hat sicher auch nicht dazu beigetragen, "die Kosten zu reduzieren". Vor diesem Hintergrund tat Thomas Bach, der die IOC-Präsidentschaft im September 2013 von Rogge übernahm, gut daran, seine Amtszeit mit einer ähnlichen Botschaft wie sein Vorgänger einzuläuten. Vor den Delegierten der 126. IOC-Session in Sotschi versprach er ein "übergreifendes Konzept der Nachhaltigkeit". Bach sagte: "Wir müssen über die Neustrukturierung des Bewerbungsverfahrens sprechen und Kandidaten mehr Raum für Kreativität und Vielfalt geben, in dem wir unser Augenmerk von Anbeginn stärker auf Nachhaltigkeit und die möglichen Hinterlassenschaften (der Spiele) legen."

Olympischer Segen zum Missbrauch von Großereignissen

Allerdings verwässerte IOC-Chef Bach seine Botschaft gleich wieder, indem er die russischen Olympiaorganisatoren und Staatspräsident Wladimir Putin persönlich für deren Einsatz lobte, in der Region Sotschi ein gewaltiges Wintersportressort aus dem Boden gestampft zu haben. Noch 2007 war die Stadt am Schwarzen Meer ein verschlafener Kurort ohne Wintersportanlagen. Mit seiner Würdigung gab Bach den olympischen Segen für ein Projekt, dessen Vorbereitungen von Machtmissbrauch, Umweltzerstörung, der Missachtung von Arbeitnehmer- und Bürgerrechten sowie von massiver Korruption geprägt waren. Zudem gewährte Bach dem russischen Präsidenten ohne Vorbehalte all das, was dieser mit der Ausrichtung der Olympischen Spiele angestrebt hatte: Nationalstolz und persönliche Ehre.

Ungeachtet dessen sollte man hinhören, wenn ein neuer IOC-Präsident eine klare und ambitionierte Reformagenda ankündigt. Die Frage allerdings ist, ob sich diese Reformen letztendlich gegen die objektiven Interessen des IOC und die seiner einzelnen Mitglieder durchsetzen lassen. Bislang neigen diese nämlich dazu, den Prunk der Bescheidenheit und das große Geschäft den menschlichen Werten und dem Charme eines Bewerbers vorzuziehen.

Hinzu kommt, dass die IOC-Spitze daran gemessen wird, ob sie den wirtschaftlichen Erfolg fortsetzen kann, von dem der Sport seit 35 Jahren profitiert. Die Wirtschafts- und Finanzkrise mag zu etwas mehr Realismus beigetragen haben. Doch am Ende ist das IOC weiter von der Unterstützung multinationaler Konzerne und weltweit agierender Medienhäuser abhängig. Warum also sollte es einer bescheidenen Bewerbung den Vorzug geben, bei der Volksmusik und Gemeinschaftsgefühl im Mittelpunkt stehen, wenn es – wie in Peking, London und Sotschi – Teil eines gigantischen Stadtentwicklungsplans werden kann, bei dem es viel Geld zu verdienen gibt?

Auf individueller Ebene mag es durchaus den Willen zu Veränderungen geben, aber das Fleisch ist schwach. Die große Mehrheit der 115 IOC-Mitglieder gehört zur gesellschaftlichen Elite in ihren Heimatländern. Und deren Geschäftsinteresse oder das Streben nach politischem Einfluss mögen eine Rolle spiele, wenn sie ihre Stimme in geheimer Wahl für einen Bewerber abgeben. Für das IOC war es nie leicht, sich selbst glaubhafte Beschränkungen aufzuerlegen. So löste unter Jacques Rogge bereits der Versuch heftigen Widerstand aus, die olympischen Sportarten zu begrenzen, um so einen Beitrag zur Verkleinerung der Spiele zu leisten.

Nicht immer das schnelle Geld

Gleichwohl böte die olympische Geschäftskultur Freiräume, um die von Thomas Bach angeregten Veränderungen tatsächlich umzusetzen. Im Gegensatz zu den Sportverbänden, die den Inhalt der Spiele liefern, hat das IOC in der Vergangenheit nicht immer den Weg des schnellen Geldes gewählt, sondern oftmals Entscheidungen getroffen, die seine langfristigen Interessen schützen. So gibt es etwa bis heute keine Werbebanden in den olympischen Sportarenen, und dieser Puritanismus ist inzwischen sogar zu einem kommerziellen Vorteil geworden. In vielen Fällen hat das IOC zudem öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten gegenüber privaten Anbietern bei der Vergabe der Übertragungsrechte bevorzugt, obwohl die oft weitaus mehr Geld geboten hatten. Hintergrund ist die erheblich größere Reichweite der Öffentlich-Rechtlichen, was zur Stärkung der Marke Olympia beiträgt.

Darüber hinaus spricht es für Bachs Vorgänger Rogge, dass in dessen zwölfjähriger Amtszeit nur ein einziger umstrittener Olympia-Bewerber erfolgreich war: Wladimir Putins Sotschi. Die Sommerspiele in Peking 2008 waren 2001 noch kurz vor Rogges Amtsantritt vergeben worden. Danach bekamen London, Rio de Janeiro und Tokio die Sommerspiele, das kanadische Vancouver, Sotschi und Pyeongchang in Südkorea die Winterspiele. Diese Entscheidungen stehen der Annahme entgegen, dass heutzutage nur noch rohstoffreiche und autoritäre Regime derartige Großereignisse ausrichten können. Es ist zudem bemerkenswert, dass Doha (Katar) und Baku (Aserbaidschan) zweimal ihr Glück als Olympiabewerber versucht haben, vom IOC allerdings stets bereits vor den entscheidenden Abstimmungen diskret aussortiert wurden.

Regierungen verlangen Verantwortungsbewusstsein von Sportveranstaltern

Mit anderen Worten: Das IOC hat die Möglichkeit, Regeln für die Bewerbung und Ausrichtung Olympischer Spiele zu erlassen, die etwa die Ausgaben deckeln könnten. Das wiederum wäre ein starkes Signal für potenzielle Bewerber, dass soziale und finanzielle Nachhaltigkeit genauso wichtig wie der Umweltschutz sind, den das IOC seit vielen Jahren in seinen Verträgen mit den Ausrichterländern einfordert.

Das entspricht übrigens auch den Forderungen der internationale Gemeinschaft. Als sich im September 2013 Regierungsvertreter aus mehr als 125 Ländern zur 5. UNESCO-Weltsportministerkonferenz "MINEPS V" (externer LINK ) in Berlin trafen, sandten diese das unmissverständliche Signal an Verbände und Ausrichter großer Sportveranstaltungen aus, künftig verantwortungsvoller bei der Organisation von Großereignissen zu handeln. In der "Berliner Erklärung" rufen die Minister dazu auf:

  • Bereiche zu bestimmen, in denen sich die finanziellen, technischen und politischen Anforderungen an Sportgroßveranstaltungen absenken lassen, um Länder zur Abgabe von Angeboten zu ermutigen und mehr Länder in die Lage zu versetzen, Gastgeber für solche Veranstaltungen zu sein, ohne dafür ihre nationalen Prioritäten und Nachhaltigkeitsziele riskieren zu müssen;

  • für ein offenes, frei zugängliches und transparentes Verfahren bei der Bewerbung um und Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen zu sorgen, um die Verantwortlichkeit aller beteiligten Interessengruppen zu stärken;

  • durch Bewerbungsauflagen allen Aspekten der Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit während der gesamten Planung und Durchführung von Sportgroßveranstaltungen Priorität einzuräumen;

  • die Möglichkeiten für Länder zu verbessern, die sozioökonomischen Vorteile von Sportgroßveranstaltungen auszunutzen, insbesondere durch folgende Maßnahmen: (a) Kostenobergrenzen für Bewerbungen, (b) maximale Kapazitätsbeschränkungen für neue Sportstätten, (c) Beschränkung der finanziellen Haftung des Gastgeberlandes, einschließlich der Finanzgarantien, Investitionen und Risiken und Vermeidung von Nachteilen daraus für die wirtschaftliche Entwicklung des Gastgeberlandes oder der Gastgeberstadt, (d) Erhöhung der Transparenz durch die Veröffentlichung von maßgeblichen Kriterien für die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen durch alle internationalen Sportorganisationen, (e) bei der Beurteilung von Bewerbungen vorrangig Pläne von Bewerbern berücksichtigen, Umweltbelastungen zu senken, Folgekosten zu vermeiden und die soziale Entwicklung zu fördern.“

Die "Berliner Erklärung" ist ein höflicher Fingerzeig der Regierungen, der den demokratischen Lärm Straße ergänzt. Das IOC, die FIFA und der Weltsport haben deshalb keine andere Wahl, als endlich hinzuhören und darauf zu reagieren.

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Der dänische Journalist Jens Sejer Andersen ist Gründer und Direktor von "Play the Game", einer Initiative, die das Ziel hat, Demokratie, Transparenz und Meinungsfreiheit in der Welt des Sports zu fördern. "Play the Game" wurde 1997 ins Leben gerufen und ist heute Teil des Danish Institute for Sports Studies in Kopenhagen. Für weitere Informationen siehe Externer Link: Play the Game und die Website des Externer Link: Sportinstituts.