Im April 2013 schien der Fußball-Weltverband FIFA nur wenig Grund zur Beschwerde über den WM-Gastgeber Brasilien zu haben. Zwar lagen Bauprojekte hinter dem Zeitplan, vereinzelt agierten Protestgruppen gegen die Weltmeisterschaft, aber dass im Fußball liebenden Brasilien zwei Monate später, während des Konföderationen-Pokals, die größten Proteste stattfinden würden, die das Land in Jahrzehnten gesehen hatte, war noch nicht absehbar.
Dennoch sinnierte Jérôme Valcke, FIFA-Generalsekretär, bei einem Symposium öffentlich über die Nachteile in einem Ausrichterland wie Brasilien: "Das mag jetzt vielleicht verrückt klingen, aber manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser. Wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, vielleicht wie Putin sie 2018 hat, ist es für uns Organisatoren leichter." Auch FIFA-Präsident Sepp Blatter machte seine Präferenzen deutlich. Für eine Äußerung zur Heilkraft des Fußballs wählte er ausgerechnet die Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien als Muster: "Zwischen der Bevölkerung und dem politischen System hat es eine Art Aussöhnung gegeben."
Das war eine einigermaßen schockierende Wertung: Die 78er WM wird heute in den Geschichtsbüchern ähnlich eingeordnet wie die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. In Argentinien herrschte von 1976 bis 1983 eine Militärjunta unter Jorge Videla, in der an die 30.000 Menschen verschleppt, gefoltert und umgebracht wurden. Der Gastgeber holte den Titel. Dass der Diktator den Sieg erkauft hatte, war bereits belegt, als Blatter und Valcke ihre Vorliebe für Autokraten kundtaten.
Demokratiedefizite als Standortvorteil?
Wer Havelange für ein Relikt aus einer vergangenen Ära hielt, war spätestens mit dem Konferenzauftritt des Duos Blatter/Valcke eines Besseren belehrt worden. Dies zeichnete sich bereits durch die Vergabe der WM an Russland (2018) und Katar (2022) ab, Länder, in denen sich "starke Staatsoberhäupter" nicht nur aufs Organisieren verstehen, sondern auch darauf, Proteste zu unterdrücken. Bei Sportfunktionären haben störungsfreie Abläufe und exquisite Stadien Priorität. Mindestens im Fall Katar ist die Turniervergabe an ein Wüstensprengel ohne Fußball-Tradition und mit Gastarbeitern, die zu Hunderten auf den WM-Baustellen sterben, noch dazu mit vielen Millionen Bestechungsgeldern an Verbandsfürsten zu erklären.
Die Frage, ob Demokratiedefizite Vorteile im Wettbewerb um die Ausrichtung globaler Mega-Events bringen, wird oft gestellt. Häufig geschieht das allerdings vor dem Hintergrund ausufernder Kosten, wie sie jetzt in Brasilien zu konstatieren sind. Für Olympische Spiele markierte Sotschi einen Rekordwert: Rund 50 Milliarden Dollar ließ sich der russische Präsident Wladimir Putin das Sportfest kosten, mehr als alle bisherigen Winterspiele zusammen.
Wiegt der Nutzen der mit den Sportfesten verbundenen Eigenwerbung die Ausgaben bald nur noch für Despoten auf, die sich um den Bürgerwillen nicht scheren? Das Kandidatensterben für die Winterspiele im Jahr 2022 ist ein Indiz dafür: München, St. Moritz/Davos und Krakau zogen ihre Bewerbungen nach negativen Bürgervoten zurück. In Stockholm sagte das Stadtparlament Nein. Olso steht auf der Kippe, weil die norwegische Regierung bisher keine Garantieerklärung abgegeben hat, wie sie das Internationale Olympische Komitee (IOC) verlangt. "Be happy and pay the deficit" – nach diesem Muster sind die Verträge mit den Ausrichtern gestaltet. Verluste tragen sie allein, Gewinn macht das IOC. "Die Spiele, die keiner will", spöttelte die britische Zeitung Guardian über die Planungen für 2022. Zu den Favoriten Almaty (Kasachstan) und Peking (China) merkte das Blatt an: "Das muss man ihnen lassen: Was ihnen an grundlegenden Demokratie- und Menschenrechtsstandards fehlt, machen sie sicher wett – als die zwei einzigen Länder in der Welt, die wirklich olympische Winterspiele ausrichten wollen."
Dabei gilt Peking als Streichkandidat – das IOC wird nach 2018 (Pyeongchang) und 2020 (Tokio) sein Premiumprodukt kaum erneut nach Ostasien schicken. Also Almaty, das als Bewerber schon zweimal scheiterte? Dort gibt es Erdöl und mit Nursultan Nasarbajew, dem ersten und einzigen Präsidenten, einen Diktator – die Kombination, die nicht nur finanziell "stabile" Verhältnisse garantiert.
Auch bei schwindender Kandidatenzahl müsste sich das IOC ums Geld erst einmal keine Sorgen machen. Ebenso wie fast alle Weltverbände ist es in der Schweiz als Verein registriert und genießt nahezu komplette Steuerfreiheit. Das IOC prosperiert dank stetig steigender Sponsoren- und TV-Einnahmen. Im laufenden Olympiazyklus (bis 2016) gaben die Sponsoren erstmals mehr als eine Milliarde. Für die TV-Rechte schlossen die "Herren der Ringe" im Mai einen neuen Rekordvertrag ab. Für den Zeitraum von 2021 bis 2032 zahlt allein der amerikanische Sender NBC 7,6 Milliarden Dollar.
Allerdings: Dem Ansehen der Olympischen Spiele in der westlichen Welt wäre der Ausrichter Almaty so wenig zuträglich wie Sotschi. Die Krim-Annexion im Schatten des Sportfestes hat das IOC noch nachträglich desavouiert. Putin habe Olympia "missbraucht", konzedieren selbst manche Funktionäre. Doch das ist höchstens die halbe Wahrheit. Der Sport wird nicht in Allianzen mit bestimmten Ausrichtern gezwungen – er wählt sie sich. Politiker umschreiben Schurkenstaaten, mit denen sie kooperieren, oft als "schwierige Partner". Sportoffizielle nehmen solche Distanzierungen eher nicht vor.
Funktionäre kannten selten Berührungsängste gegenüber autoritären Herrschern, viel öfter waren sie ihnen durch gemeinsame Weltsicht verbunden. Etwa Avery Brundage: Als Vorsitzender des Olympischen Komitees der USA wurde er 1934 nach einem Besuch in Berlin zum stärksten Anwalt für die Nazi-Spiele. Boykottversuche tat er als "jüdisch-kommunistische Verschwörung" ab.
Mehr als die Hälfte der derzeit 135 Mitglieder des IOC wurde unter Samaranch berufen. Sie sind keine Delegierten ihrer Heimatländer. Der kleine, elitäre Kreis, dem auch einige Adlige und Scheichs angehören, rekrutiert sich selbst. Nach welchen Kriterien, ist unklar. Das gilt auch für die geheimen Abstimmungen zur Vergabe der Spiele. Transparenz und öffentliche Kontrolle sind nichts, was die Sportkonzerne mögen. Auch das verbindet sie mit den Autokratien dieser Welt.
Eine neue Agenda für die Olympischen Spiele?
Kann sich das ändern unter dem Deutschen Thomas Bach, dem neuen IOC-Präsidenten, Fecht-Olympiasieger und Zögling von Samaranch? Aus seiner Nähe zu Golf-Potentaten hat Bach, ein erfahrener Funktionär und Wirtschaftslobbyist, nie ein Geheimnis gemacht. Sein wichtigster Wahlkampfhelfer war ein kuwaitischer Scheich. Ahmad al-Sabah, in seiner Heimat wie im Sport schon in einige Korruptionsaffären verstrickt, wirkt im IOC als Präsident der Vereinigung aller 204 Olympiakomitees. Entgegen den IOC-Ethikregeln, die öffentliche Parteinahme verbieten, warb er ungeniert für den Deutschen.
Wer erwartet hatte, dass Bach auf Abstand zu Putin gehen würde, wurde nicht erst in Sotschi korrigiert, sondern schon im Sommer 2013. Ohne Not verschickte da der Deutsche Olympische Sportbund, dem Bach noch vorstand, eine Erklärung zu umstrittenen russischen Gesetz gegen "Homosexuellen-Propaganda". Auch kleinste Zeichen von Athleten-Solidarität mit verfolgten Homosexuellen – wie die in den Regenbogenfarben lackierten Fingernägel der schwedischen Hochspringerin Emma Tregaro bei der Leichtathletik-WM in Moskau – wertete der Bach-Verband mit Blick auf Sotschi als Verstöße gegen die Olympische Charta. Er sah die "politische Neutralität" gefährdet.
Glaubt man dem russischen Oppositionellen Boris Nemzow, war Putin allerdings vor allem verantwortlich für ein ungeheures Ausmaß an Korruption beim Umbau des subtropischen Kurorts: In seinem Sotschi-Bericht war nachzulesen, wie rund 25 Milliarden Dollar versickert sind und die meisten Aufträge ohne Ausschreibung vergeben wurden, ein Großteil davon an Putins Oligarchenfreunde. Einer davon, Arkadi Rotenberg, bekam Aufträge über sieben Milliarden Dollar – das war mehr, als die Winterspiele 2010 in Vancouver insgesamt kosteten. Rotenberg setzten die Amerikaner wegen der Ukraine-Ereignisse auf ihre Sanktionsliste. Im Sport bleibt er wichtig – als Vorständler im Judo-Weltverband.
Den Weltverbänden sind bisher die politischen Implikationen ihrer "Neutralität", die erfahrungsgemäß dazu dient, umstrittenen Herrschern eine Bühne zur Selbstinszenierung zu geben, gleichgültig. Davon zeugt die wachsende Zahl von internationalen Turnieren in den Reichen diverser Auto- und Kleptokraten. Einer von ihnen darf im nächsten Jahr sogar eine Premiere veranstalten, die ersten "Europäischen Spiele" in Baku. Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev wird regelmäßig in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen getadelt.
Der Deutsche hat inzwischen mit der Agenda 2020 für das IOC eine Art Reform angestoßen. Sie soll Ende des Jahres verabschiedet werden. Hickey darf in der Arbeitsgruppe "Good Governance und Autonomie des Sports" mitwirken. Ein wichtiges Gremium für Transparenz und Glaubwürdigkeit der olympischen Bewegung. Bisher sind beispielsweise die Weltverbände weitgehend autonom. Einige werden von Präsidenten regiert, die sich wie Despoten agieren: sie bestimmen ihren Vorstand selbst, veröffentlichen keine Bilanzen, haben keinen Ethik-Code. Oft sind das die, die gern bei den echten Autokraten zu Gast sind. Immerhin, der Arbeitsgruppe gehört als Expertin auch die Vorsitzende von Transparency International an.
Dass Bachs Pläne ausreichen, um das Ansehen der Sportorganisationen in der westlichen Welt zu verbessern, bezweifeln aber selbst Insider. "Es ist frustrierend", überschrieb kürzlich Terence Burns einen Beitrag zur Agenda 2020. Der Amerikaner hat für zahlreiche Olympiabewerbungen gearbeitet, für Peking, Sotschi oder Pyeongchang. "Es sind nicht die Bewerbungskosten, die Städte abhalten; es sind die vermuteten Kosten der Spiele, die dubiose Planung von Vermächtnissen und das Image des IOC selbst." Dieses könne sich nicht länger erlauben zu sagen, dass der Sport großartig und Spiele deshalb ein Erfolg waren. "Es ist komplexer als das. Es sind viel mehr Variablen im Spiel."
Die Rolle der Politik
Parlamente und Regierungen sind eine dieser Variablen. Das Mantra der Sportorganisationen, Politiker hätten dem autonomen Sport nicht reinzureden, ist mit den vielen Olympia-Absagen obsolet. In Deutschland hat sich Bündnis 90/Die Grünen mit der Sinnhaftigkeit von Mega-Events befasst. Vor zwei Jahren legten sie im Bundestag dazu einen Antrag vor. Er regte an, gemeinsam mit dem Sport und NGOs über transparente Vergabekriterien für Großspektakel nachzudenken. Ziele: weniger Gigantismus und mehr Nachhaltigkeit, Beachtung von Menschenrechten. Der Antrag fiel damals im Parlament durch. Für das Verständnis der Zustände bei Olympia-Ausrichtern ist er weiterhin aktuell: Er benennt, warum in vielen Ländern zwar die Athleten willkommen sind, nicht aber der Begleittross aus Funktionären und Sponsoren. Die Mängelliste reicht von intransparenten Auftragsvergaben für Sportbauten über Zwangsräumungen zu überhöhten Preisen in Ausrichterstädten. Sportgroßveranstaltungen, wird eher zurückhaltend und mit Bezug auf Peking festgestellt, "tragen nicht notwendigerweise zu einer verbesserten Menschenrechtslage bei."
Der Journalist Dave Zirin, ein Begleiter vieler Olympischer Spiele, hat ein Buch mit dem bezeichnenden Titel "Brasiliens Tanz mit dem Teufel" vorgelegt. Es basiert auf Recherchen vor allem in Rio, Austragungsort für das WM-Finale und der Sommerspiele 2016. Für ihn laufen Events wie Olympia mit ihren Sicherheitsmaßnahmen und Sondergesetzen, ob sie nun in einer Demokratie oder bei Autokraten ausgerichtet werden, auf denselben Kern hinaus: "Bei den Olympischen Spielen geht es ebenso wenig um Sport, wie es beim Irak-Krieg um Demokratie gegangen ist. Es geht nicht um die Athleten. Und es geht definitiv nicht darum, die 'Gemeinschaft der Nationen' zusammenzubringen. Sie sind neoliberale Trojanische Pferde, die darauf zielen, Geschäften den Weg zu bereiten und die grundlegendsten bürgerlichen Freiheiten zurückzudrehen."