Eine der denkwürdigsten Botschaften an die Demonstranten in Brasilien wurde im sozialen Netzwerk Instagram gepostet. "Es wurden viele Investitionen versprochen", hatte zunächst der legendäre brasilianische Stürmerstar Ronaldo der Regierung öffentlich vorgeworfen, "aber nicht erbracht." Nur ein Drittel der Infrastruktur-Projekte werde bis zum WM-Anpfiff umgesetzt, weshalb er Verständnis für die Proteste habe. Vielen WM-Kritikern im sozialen Netzwerk war das zu wenig: Ronaldo verfehle den Kern: Die Milliarden wären im Sozialbereich besser aufgehoben gewesen.
An diesem Punkt griff die Exekutiv-Direktorin des Organisationskomitees für die Fußball-Weltmeisterschaft (COL) ein, für das auch Ronaldo arbeitet: Man möge doch bitte nicht das Fest verderben, postete sie in ihrem Profil. Sie jedenfalls werde kein Schwarz tragen. Ohnehin kämen die Proteste "zu spät". Denn: "Was immer auch investiert wurde – das Geld ist längst ausgegeben oder gestohlen."
Fußball als Familienunternehmen
Joana ist die Enkelin von João Havelange. Der ehemalige Olympia-Schwimmer (1936) und Olympia-Wasserballer (1952) war einer der Cäsaren des Weltsports. Sein Vermögen verdiente er auch mit Waffenverkäufen an den bolivianischen Diktator Hugo Banzer. Ein Vierteljahrhundert lang regierte der Patriarch den Fußball-Weltverband FIFA mit eiserner Faust, machte aus dem Sport ein lukratives Geschäft und übergab 1998 an Joseph "Sepp" Blatter. Auf Blatter sollte dann Havelanges einstiger Schwiegersohn Ricardo Teixeira folgen. Teixeira saß bis vor zwei Jahren im FIFA-Vorstand und war seit 1989 Präsident der Confederação Brasileira de Futebol (CBF), des brasilianischen Fußball-Verbandes – er ist der Vater von Joana.
Die 37-Jährige sollte 2015 die CBF in dritter Generation übernehmen. Inzwischen musste sie diese Familienplanung aufgeben. Ricardo Teixeira wartet derzeit im selbstgewählten Exil in Florida den Ausgang diverser Korruptions-Ermittlungen gegen ihn ab. 2012 trat er von seinen Ämtern im Sport zurück; "aus gesundheitlichen Gründen" wie es heißt. Auch João Havelange, inzwischen 98 Jahre alt, verabschiedete sich als Ehrenpräsident der FIFA und nach knapp 50 Jahren Mitgliedschaft aus dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), dessen Ethikkommission gegen ihn ermittelte.
Das war womöglich das Ende einer der einflussreichsten Familien-Dynastien im Weltsport. Das Ende der Korruptionskultur, die das milliardenschwere Unterhaltungsgewerbe Sport seit Jahrzehnten in Brasilien wie international verseucht, ist es nicht. Die Namen Teixeira und Havelange stehen symptomatisch auch dafür, wie Politiker über kriminelle Geschäfte der Sportfürsten hinwegsehen. Staatschefs zeigen sich gern mit Sportstars, sie treten gern als Gastgeber von Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften auf, weil das in der Regel PR für sie ist. Deshalb hofieren sie schillernde Figuren im Funktionärsanzug und akzeptieren zahlreiche Sonderregeln wie die Steuerbefreiung für die FIFA und ihre Sponsoren, die Analysten zufolge Brasilien um 2 Millionen Dollar Einnahmen aus der WM bringen wird.
Politik und Sport: Zwischen Allianz und Konflikt
Am Zuckerhut ist die Allianz zwischen Politik und Sport wohl am ehesten mit der Rolle des Nationalheiligtums Fußball zu erklären. Als Brasilien im Oktober 2007 von der FIFA den Zuschlag für die WM bekam, feierte auch Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva an der Seite von Ricardo Teixeira. Lula gehört der linken Arbeiterpartei PT an. Dass ausgerechnet er den Fußball-Paten stützte, nennt einer der profundesten Kenner des brasilianischen Fußballs, der Sportjournalist Juca Kfouri, bis heute "schizophren". Kfouri berichtet seit Jahren auf seinem Blog und für die Zeitung Folha de São Paulo über die Geschäfte der Cartolas: "Warum hat Lula nicht mit Teixeira gebrochen, obwohl er doch wusste, dass er dafür auf der Straße gefeiert werden würde?", fragte er kürzlich. "Selbst wenn Lula zum Pragmatismus gezwungen war, um die brasilianische Oberschicht nicht zu verschrecken, dafür, dass er nicht mit dem Fußballpack gebrochen hat, gibt es keine Entschuldigung."
Teixeiras Fußballverband CBF war schon in den Jahren 2000/2001 Gegenstand von zwei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Brasilia. Eigentlich wollten die Abgeordneten einem Ausrüstervertrag für die Nationalelf auf den Grund gehen. Spektakuläre 140 Millionen Dollar zahlte der US-Konzern Nike ab 1997 der CBF und ließ sich dafür von Teixeira immense Rechte bis hin zur Team-Aufstellung bei Spielen der Seleção einräumen. Drei Jahre später war der Verband bankrott. Wie das passieren konnte? Der brasilianische Bundessenat stieß auf gefälschte Verträge, auf Rechnungen für Luxuslimousinen und Restaurants in New York über mehrere tausend Dollar, auf komplizierte Geldgeschäfte über Steueroasen in der Karibik, bei denen Millionen verschwanden. "Das war nur die Spitze des Eisbergs", kommentierte ein Senator. Das Resümee des 1129 Seiten starken Untersuchungsberichts: Die CBF sei ein "Hort des Verbrechens, der Desorganisation, Anarchie, Inkompetenz und Verlogenheit".
Allerdings hatte Teixeira auch für seinen Schutz gesorgt: Einige Millionen Dollar waren in Kampagnen von Politikern geflossen, Richtern samt Ehefrauen spendierte die CBF Reisen zur WM nach Frankreich. Den Rest erledigte FIFA-Boss Sepp Blatter. Er brachte jenes Prinzip ins Spiel, das Sportfunktionäre immer dann besonders lautstark vertreten, wenn es darum geht, einen der ihren vor Staatsanwälten zu schützen: die so genannte Autonomie des Sports. Für den Fall, dass Teixeira angeklagt würde, drohte Blatter: "Brasilien wird von allen internationalen Aktivitäten suspendiert. Brasilien wird nicht an der WM 2002 teilnehmen und auch nicht an der U 21-WM, nicht an der U 17-WM, nicht an der Frauen-WM und auch nicht an der Futsal-WM in Guatemala."
Teixeira machte weiter wie bisher, beförderte sich selbst zum WM-Organisationschef und Tochter Joana auf den mit 50.000 Dollar Monatsgehalt dotierten Direktoren-Posten. Er blieb im Sattel, als ruchbar wurde, wie er die WM zur privaten Goldgrube umfunktionieren wollte: Als Präsident des COL schloss Teixeira einen Vertrag mit sich selbst als Präsident der CBF ab. An etwaigen Gewinnen aus dem Turnier sollte er zur Hälfte beteiligt werden, Verluste sollte der Verband allein tragen. Als Teixeira dann auch noch öffentlich kundtat, was er sich von der Heim-WM versprach, war das Maß für die Fußball-Fans voll: "Fora Teixeira" ("Raus mit Teixeira") hieß die Kampagne, für die zehntausende Unterschriften zusammenkamen. "2014 werde ich in der Lage sein, mit allem davon zu kommen", hatte Teixeira sich vor einer Journalistin des Magazins Piauí gebrüstet. "Mit den schlüpfrigsten, undenkbarsten, machiavellistischsten Sachen (...) Und wissen Sie, was? Gar nichts wird passieren."
Ein älterer Bestechungsskandal, der größte im Weltsport, brachte den Patron letztlich doch zu Fall – die so genannte ISL-Affäre. Mit der Marketingfirma International Sports and Leisure, einst von Adidas Gründer Horst Dassler aus der Taufe gehoben, hielt ein anrüchiges System des Gebens und Nehmens Einzug im Sport: Für Fernsehrechte an Großevents verteilte die ISL mindestens 140 Millionen Schweizer Franken Schmiergeld an Funktionäre in Weltverbänden und im IOC, bis sie 2001 bankrott ging. Die Mehrheit der Adressaten ist bis heute unbekannt. Teixeira und Havelange allerdings sind als Empfänger von mindestens 21,9 Millionen Franken aktenkundig, seit 2012 Klagen von Journalisten die FIFA zwangen, Gerichtsunterlagen zu dem Fall offenzulegen.
Teixeira folgte sein Stellvertreter José Maria Marin an die Spitze des brasilianischen Fußballs. Den 81-Jährigen nahm sich der Kongressabgeordnete Romario Ende 2012 bei einer Anhörung vor. Eigentlich ging es um Teixeiras Machenschaften, aber Romario, der einstige Rekordtorjäger der Seleção, schlug lieber den verbalen Haken zum aktuellen CBF-Boss: "Die Menschen halten mich auf der Straße an. Sie sagen, bringt Teixeira zurück, der Neue ist schlimmer."
Als Staatspräsidentin Dilma Rousseff im vergangenen Jahr beim Confederations-Cup mit Marin, dem Freund der Generäle, auf der Ehrentribüne erschien, hallten der Frau, die während der Diktatur selbst im Gefängnis gesessen hat, Pfiffe entgegen. Rousseff hat allein sechs Minister wegen Korruptionsverdacht in Verbindung mit den Geldflüssen für die Fußball-WM oder die Olympischen Spiele 2016 in Rio entlassen. Auch deshalb haben die Fans wenig Verständnis dafür, dass sie sich nicht deutlicher von den Cartolas distanziert. Aber ihre Regierung möchte wohl Ruhe vor dem heiklen WM-Turnier – wenn schon nicht auf den Straßen, dann wenigstens an der Skandalfront. Ein Gesetz, das die Amtszeiten für Sportfunktionäre begrenzen soll und Geschäftsberichte von den Verbänden verlangt, liegt jedoch vorerst auf Eis. Romario, der inzwischen den Sportausschuss im Kongress leitet, schrieb dazu auf seinem Blog: "Es ist inakzeptabel, dass die Regierung weiter Steuergelder an Verbände verteilt, in denen Präsidenten ihre Macht auf Ewigkeiten gepachtet haben. Leute, die sich außerhalb jeder Moral stellen und Privatinteressen vertreten, bringen Skandale hervor."
Nach der WM ist vor den Olympischen Spielen
Nicht nur Fußball-Patrone profitieren, auch Funktionäre anderer Sportarten. Vorerst letzter Name in der langen Liste: Ary Graça, Präsident der Volleyballer, des zweiten populären Sports im Lande. Als solcher nahm er im Frühjahr seinen Hut, nicht aber als Boss des Volleyball-Weltverbandes FIVB. Journalisten von ESPN Brazil hatten aufgedeckt, dass Graça aus einem Sponsorenvertrag mit dem Geldinstitut Banco do Brasil Millionen für sich abgezweigt hatte. Finanzprüfer von der Bundesbehörde Controladoria-Geral da União kündigten daraufhin an, die Bücher des Verbandes ganz genau zu durchleuchten – "so weit zurück, wie wir es für angemessen halten".
Falls es so kommt, könnte dieser Fall noch Brisanz entwickeln. Präsident bei den Volleyballern war einst der heute wichtigste Sportoffizielle im Land: das IOC-Mitglied Carlos Arthur Nuzman. Der 73-Jährige Anwalt und Immobilienmakler ist einer der ewigen Funktionäre; seit 20 Jahren steht er dem Nationalen Olympischen Komitee (NOK) vor. Als Rio den Zuschlag für die Sommerspiele 2016 bekam, setzte Nuzman sich prompt auch an die Spitze des Organisationskomitees für Rio. Eine Doppelrolle, die es international noch nie gegeben hatte. Bei den Brasilianern lässt sie wegen der problematischen Praktiken von Teixeira die Alarmglocken schrillen.
Jüngst attestierte ein Funktionärskollege Nuzman und seinem Organisationskomitee "Mangel an Integrität, Fähigkeiten und Know How". Deshalb sollten die Verzögerungen bei den Bauprojekten für Rio "niemanden überraschen", auch das Internationale Olympische Komitee nicht. In einem Offenen Brief behauptet Eric Walther Maleson, bis 2012 Mitglied im NOK Brasiliens, er habe dem IOC "harte Beweise für Korruption" vorgelegt. Allerdings sei dieses untätig geblieben.