Alles mit rechten Dingen zugegangen? Der damalige brasilianische Präsident Lula da Silva (Bildmitte) nimmt am 2.10.2009 die Glückwünsche von IOC Präsident Jacques Rogge zur Vergabe der Olympischen Spiele an Rio de Janeiro entgegen.Es ist ein Dauerthema im Weltsport und trotzdem kommt es nur selten vor, dass sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) und sein Präsident Thomas Bach dazu äußern. In diesem Frühjahr aber musste sich der Deutsche, der sich ansonsten gern als distanzierter Mahner gibt, doch einmal den Niederungen der Korruption zuwenden: Das IOC verfüge "über alle Instrumente und hat die Entschlossenheit, Korruption effektiv zu bekämpfen", behauptete Bach. "Wie jede Organisation" sei man allerdings auch "nicht immun" gegen Fehlverhalten. In solchen Fällen reagiere man "nachweislich prompt". Bach trug auf einer Antikorruptions-Konferenz in London vor, und bewies dabei Feingespür für Selbstdarstellung. Er pries eher unverbindliche Reformempfehlungen, die das IOC Ende 2014 flink durchgewunken hatte, nun auch als Allheilmittel gegen Korruption: "Die Reformen der Agenda 2020 haben unsere Möglichkeiten verstärkt, in dieser Hinsicht eine Null-Toleranz-Politik einzuführen."
Nur Wochen zuvor war publik geworden, dass die französische Justiz wegen mutmaßlicher Korruption bei den Vergaben der Olympischen Spiele nach Tokio (2020) und auch nach Rio de Janeiro ermittelt. Im Zentrum: die Geschäfte von Lamine Diack aus dem Senegal, einst Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF und, bis das IOC ihn Ende 2015 als Ehrenmitglied suspendierte, über anderthalb Jahrzehnte einer der engsten Verbündeten von Bach. Für Rio wurden keine Details bekannt; die Tokio-Olympiabewerber hatten Diacks Sohn vor der Vergabe der Spiele rund 1,3 Millionen Euro zukommen lassen, angeblich legale Beraterhonorare. Die Staatsanwälte indes gehen dem Verdacht nach, dass Diack seine IOC-Stimme bei der Vergabe Olympischer Spiele verkauft hat und noch dazu, wie die britische Zeitung "Guardian" berichtete, die weiterer afrikanischer IOC-Mitglieder.
Das hat Tradition und steigert den Argwohn gegenüber der so genannten olympischen Familie noch. Sind die Spiele käuflich, ebenso wie im Fußball-Business die großen Turniere verkauft werden gegen Bares, jedenfalls nach den Anklageschriften der US-Justiz gegen FIFA-Bosse?
Die offizielle Lesart ist selbstverständlich lupenrein: Rio schlug am Ende drei hochkarätige Konkurrenten (Madrid, Tokio und Chicago) aus dem Feld, weil die Bewerber-Kombo eine so charismatische Präsentation hinlegte. Sie warb nicht nur mit Copacabana und brasilianischer Lebensart, sondern auch mit einem in olympischen Kreisen vermeintlich wichtigen geopolitischen Argument: Die Zeit für den südamerikanischen Kontinent sei gekommen, beschwor der damalige Staatspräsident Luiz Inácio "Lula" da Silva eindringlich die 103 IOC-Mitglieder, auch die Zeit für Brasilien, das einzige Land aus den Top Ten der Weltwirtschaft, das noch nie Spiele ausrichten durfte. Lula sprach vom Transformationsprozess seines Landes, den die Spiele beschleunigen würden. Und noch einer machte Eindruck: João Havelange, damals 93 Jahre alt, dienstältestes IOC-Mitglied. Ganz im Stil eines "Coronels", eines brasilianischen Gutsherrn, lud er in Kopenhagen die IOC-Kollegen zu seinem 100. Geburtstag in sieben Jahren ein: "In meine Stadt im neuen Brasilien."
Inzwischen sind die meisten aus der Bewerber-Truppe, die seinerzeit die Sportwelt so erfolgreich beackerten, kaum noch präsentabel. Vielmehr illustriert schon das Personal eine olympische Hochrisikozone, kontaminiert genug, dass die Vorstellung von einer sauberen Bewerbung eher weltfremd erscheint. Ex-Präsident Lula, Sérgio Cabral, der Gouverneur von Rio, Sportminister Orlando Silva – alle längst nicht mehr im Amt und in diversen Schmiergeldaffären beschuldigt. Auch im größten der brasilianischen Geschichte, der seit 2014 die Wirtschaft des Landes lähmt und mit der Operation "Lava Jato" (auf Deutsch: Autowäsche bzw. Hochdruckreiniger) aufgeklärt werden soll. Er nahm in der Olympiastadt Rio seinen Anfang, am Hauptsitz des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras. Gemeinsam mit den großen brasilianischen Bauunternehmen warf Petrobras ein gigantisches Korruptionsnetz über die Nation; fürs Wegsehen bei überteuert ausgeführten Aufträgen wurden schwarze Kassen von Parteien befüllt und mehrere Hundert Politiker privat geschmiert.
Nicht mehr vorzeigbar ist auch Havelange, der einst so mächtige Strippenzieher des olympischen Sports, und ein Vierteljahrhundert Herrscher über den Fußball-Weltverband FIFA. Das frühere "Estádio Olímpico João Havelange", während der Spiele Austragungsort für die Leichtathletik-Wettbewerbe, trägt nun den Namen eines Fußballers. Und seinen 100. Geburtstag im Mai feierte Havelange im privaten Kreis, ohne die IOC-Ehrengäste. Nur Sepp Blatter, sein Thronfolger bei der FIFA, übermittelte dem Jubilar noch offen Glückwünsche. Inklusive der Zusicherung von "Respekt und Freundschaft".
Havelange trat 2011 aus dem IOC zurück und gab später auch sein Amt als FIFA-Ehrenpräsident ab. Zum Verhängnis wurde ihm der Prozess um den Konkurs der Sportmarketingfirma ISL in der Schweiz. Havelange und sein ehemaliger Schwiegersohn Ricardo Teixeira, damals im FIFA-Vorstand, hatten gemeinsam knapp 22 Millionen Schweizer Franken Bestechungsgeld kassiert.
Als Schmiergeldbote agierte ISL-Manager Jean-Marie Weber. Der Elsässer war, wie der renommierteste Kenner der Szene, der britische Investigativ-Journalist Andrew Jennings beobachtete, auch an der Seite von Havelange, als Rio 2009 in Kopenhagen die Spiele bekam. Havelange, so beschreibt Jennings in seinem Buch "Omertà" die Situation, habe damals wohl schon geahnt, dass er beim ISL-Prozess auffliegen würde.
"Der beste Weg zur Schadensbegrenzung in der Heimat würde es sein, die Stimmen für Olympia in Rio 2016 zu beschaffen ... Ein Job für Jean-Marie Weber. Er kannte sie ja alle, vor allem die Älteren aus den Tagen, als IOC-Mitgliedschaft noch ein Ticket für Bestechungsgelder aus den Bewerberstädten war. Das war nicht Vergangenheit – nur wurde dieses Geschäft nun diskreter abgewickelt. Weber redete also mit seinen alten Freunden im IOC – und das war das."
Die Tradition der Korruption
Mehr Klarheit als über die olympische Hinterlassenschaft von Havelange hat man inzwischen bezüglich der Praktiken seiner Fußball-Erben. Das verdankt sich nicht etwa Aufklärungsbemühungen des Sports, die es in der FIFA ebenso wenig gab wie sie im IOC heute feststellbar sind, sondern Staatsanwälten. Zuerst musste Ricardo Teixeira seine drei lukrativen Ämter als Präsident des brasilianischen Fußballverbandes CBF, als FIFA-Vorstand und als Boss des Organisationskomitees der WM 2014 abgeben. 2012 flüchtete er vor den Ermittlungsbehörden seiner Heimat ins Luxus-Exil nach Florida. Es ging unter anderem um Geldwäsche, Briefkastenfirmen, um ein mit 30 Millionen gefülltes Konto bei einer Bank in Monaco.
Aber auch in Florida ist er nicht mehr sicher, seit im vergangenen Jahr die US-Justiz im FIFA-Sumpf fahndet. Teixeira gehört zu den Angeklagten, ebenso seine Nachfolger José Maria Marin und Marco Polo Del Nero – allesamt Teil des noch von Havelange installierten Netzwerks und Garanten für die Verlängerung des korrupten Systems innerhalb des CBF. Sie sind weniger kooperativ als etwa José Hawilla, Geschäftsführer der brasilianischen Vermarktungsfirma Traffic. Er hat in New York Erpressung und Geldwäsche eingeräumt und eine Strafe von 151 Millionen Dollar gezahlt.
Marin, mit politischen Wurzeln in der Militärdiktatur, ließ sich erst nach monatelanger Auslieferungshaft aus der Schweiz in die USA überstellen. In New York legte der frühere Berufspolitiker in New York umstandslos eine Millionenkaution auf den Tisch. Del Nero wiederum durfte seine Sicht der Dinge kurz nach Anklageerhebung gegen ihn in Brasilia, im Kongress, den Senatoren vortragen. "Die Chancen auf Verbrüderung mit der Mehrheit der Senatoren sind riesig", prognostizierte der brasilianische Journalist Juca Kfouri, ein Kenner trüber Allianzen von Politik und Sport.
"Rouba mas faz" (sinngemäß: "Der klaut zwar, tut aber auch was fürs Volk.") – das gilt schon lange nicht mehr. Aber Bürgerprotest richtet in der Regel auch nichts aus gegen die skandalgestählten Cartolas, wie die Sportfunktionäre in Brasilien abwertend genannt werden. Ein solcher ist auch der derzeit wichtigste Sportoffizielle in Brasilien, Carlos Arthur Nuzman, IOC-Ehrenmitglied und seit mehr als 20 Jahren Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. Der mittlerweile 76-jährige Anwalt und Immobilienmakler setzte sich noch dazu an die Spitze des Organisationskomitees für die Spiele in Rio – eine Doppelrolle, die international ein Novum ist und wegen der damit verbundenen Machtfülle in Brasilien skeptisch betrachtet wird. Zumal auch Nuzmans Ruf nicht der beste ist – 2012 etwa attestierte ein Funktionärskollege ihm und dem Rio-Organisationskomitee "Mangel an Integrität, Fähigkeiten und Know-How". In einem Offenen Brief behauptete Eric Walther Maleson, bis 2012 Mitglied im NOK Brasiliens, er habe dem IOC "harte Beweise für Korruption" gegen Nuzman vorgelegt. Allerdings sei dieses untätig geblieben.
Ein ähnlich desaströses Zeugnis stellten jüngst auch Wissenschaftler von der Universität Richmond Thomas Bachs Gremium aus. Die behauptete Null-Toleranz, so geht aus einer Studie zur Spiele-Vorbereitung in Rio hervor, ist auch im Binnenverhältnis zum Gastgeber eine schillernde Luftblase. Im Host-City-Vertrag verlange das IOC zwar "hoch detaillierte Garantien" zum Schutz der kommerziellen Rechte seiner Sponsoren – eine vergleichbare Haltung zum Schutz der Bürger vor olympischer Korruption aber scheine "nicht zu existieren". Keines der Dokumente fordere "Anti-Korruptions-Garantien" – und das, obwohl, was dem Ausrichter der Spiele in kürzester Zeit abverlangt werde, geradezu die Tür öffne für Rechtsbeugungen. Auch Interviews in Rio illustrierten die spezielle Ethik im Olymp: "Das IOC will schlicht nichts zu tun haben mit Korruption in der Ausrichterstadt."
Trübe Aussichten
Die Kultur des Wegsehens, Teil des olympischen Geschäftsmodells, fällt in Rio besonders ins Gewicht. Zuletzt, seit diesem Frühjahr, nahmen die "Lava Jato"-Ermittler auch zahlreiche Olympiaprojekte ins Visier. Ein knappes Dutzend Baukonzerne, deren Manager entweder angeklagt oder bereits verurteilt sind, hat einen Großteil der olympischen Aufträge an Land gezogen. Im Gegenzug sollen sie sich großzügig gezeigt und, zum Beispiel, so berichtete UOL Sport im April, für die Wahlkampagne des Bürgermeisters von Rio, Eduardo Paes, gespendet haben.
Diese Ermittlungen stehen noch am Anfang. Was immer dabei herauskommt – am Ende werden die brasilianischen Bürger die überhöhte Rechnung bezahlt haben, und die olympische Karawane, an der Spitze das IOC, wird sich einmal mehr aus der Verantwortung gestohlen haben. Insofern wäre es ein durchaus passendes Symbol, wenn die Spiele doch noch einen prominenten Ehrengast bekämen. Carlos Nuzman, der NOK-Chef, hat das sogar in Aussicht gestellt: "Er hat hart für unsere Bewerbung gearbeitet, und ich hoffe, dass er kommt."