Weitspringer mit Gewichten auf einer etruskischen Vase: Die Teilnahme an den olympischen Spielen in der Antike war etwas anderes, als heute. In der Antike waren es keine eigenständigen Sport-Spiele, sondern körperbetonte Wettstreite, die in ein kultisch-religiöses Fest eingebunden waren.Der zentrale Aspekt des Spielens ist sein Selbstzweckcharakter. Man spielt, um zu spielen – nicht aber, um einen Nutzen einzustreichen. Wenn man gefragt wird, was es einer 400-Meter-Läuferin nützt, sich so anzustrengen, nur um wieder da anzukommen, wo sie losgelaufen ist, soll man sagen: gar nichts! Man soll hier nur die autonome Logik des Sports geltend machen. Das gilt auch für andere Eigenwelten der Gesellschaft wie zum Beispiel die Wissenschaft: Man soll nicht forschen, damit sich das Patent gut verkauft – das ist Auftragsforschung –, man soll um der Wahrheit willen forschen. Zwar besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der Welt des Spielens und der Welt des Ernstes. Es ist allerdings kein Unterschied von Selbstzweck vs. Nicht-Selbstzweck, sondern jener zwischen spielerischen Nebensachen und ernsthaften Hauptsachen. Gleichwohl sollen autonome Eigenwelten nicht zu autarken Elfenbeintürmen geraten: Die Autonomie des Rechts dient der Gerechtigkeit, die Autonomie der Wissenschaft dient der Wahrheit, die Autonomie des Spiels dient der Erholung. Eine autonome Logik steht dann für ein Prinzip, dass nicht nur dieser Eigenwelt zukommt, sondern den Grundcharakter der Gesellschaft prägt.
Die Historizität des Spielens
Es scheint keine Kulturen und keine Epochen zu geben, die das Spielen nicht kennen. Das rechtfertigt die Rede vom Menschen als homo ludens (dt. der spielendende Mensch). Dennoch verdeckt die Rede vom spielenden Menschen mehr als sie erhellt. In der Regel ist mit dieser Rede nämlich nicht (nur) ein Verweis auf die kulturelle Universalität verbunden, sondern die ganz andere und weitergehende These, dass der Mensch das von Natur aus spielende Wesen sei, dass alle Menschen einen von Natur gegebenen Spieltrieb hätten, der als solcher immer gleich bleibt und sich in unterschiedlichen Kontexten immer anders realisiert.
Der epochalen und kulturellen Vielfalt des Spielens wird man so aber nicht gerecht. Die wichtigen und qualitativen kulturellen Unterschiede wären dann lediglich graduelle Unterschiede und deshalb vermeintlich nicht so wichtig und entscheidend, gemessen daran, dass sowieso alle Menschen spielen.
Aber sogar dort, wo die Spiele gleich heißen, können sie etwas ganz anderes bedeuten. Zum Beispiel taten Menschen etwas anderes, als sie an den olympischen Spielen in der Antike teilnahmen, als wenn man heute an den Olympischen Spielen teilnimmt. In der Antike waren es noch keine eigenständigen Sport-Spiele, sondern körperbetonte Wettstreite, die in ein kultisch-religiöses Fest eingebunden waren. Dazugehörige Opfergaben waren keine bloße Zugabe, sondern prägten den Grundcharakter dieses Festes. Dieser grundsätzliche Unterschied ist vergleichbar mit dem Unterschied von Bach als Kirchenmusik und Bach in säkularen (weltlichen) Kontexten, selbst dann, wenn es dasselbe Musikstück ist. Auch die heutige Grundnorm des Olympischen Sports, nämlich Fairness, war in einer Sklavenhaltergesellschaft nicht einmal denkbar, geschweige lebbar. Fairness ist an die gleichen Chancen und Rechte aller gebunden – deshalb ist ein Laufwettstreit im antiken Olympia kulturell etwas anderes als ein Laufwettbewerb 1896 bei den ersten Olympischen Spielen der Moderne in Athen. Nur mit letzterem betreibt man Sport. Mit Bach als Kirchenmusik ehrt und preist man Gott; mit Bach in säkularen Kontexten hört man klassische Musik.
Man soll sich von der Vergleichbarkeit der Phänomene nichts vormachen lassen. Die Olympische Charta hält deshalb bereits in ihrer Präambel ausdrücklich fest, dass der moderne Olympismus eine durch Pierre de Coubertin gestiftete Neugründung ist. Man kann die grundlegende Geschichtlichkeit und Kulturalität des Spielens daher auf eine Formel bringen: Spielen ist noch lange nicht Spielen, sondern kann grundsätzlich anderes bedeuten.
Ein Spiel spielen
Dass Spiele gespielt sein wollen, ist keine bloß verspielte und insofern überflüssige Ausdrucksweise. Es handelt sich um andere Akzentsetzungen, die wir alle aus Erfahrung kennen. Spielerisch umgehen kann man auch mit seinem Broterwerb. Man nimmt dann das, was man nun einmal tun muss mit einer gewissen Leichtigkeit. Aber man macht durch noch so spielerische Leichtigkeit aus einem Job kein Spiel. Umgekehrt kennen wir alle Menschen, die schlicht nicht in der Lage sind, ein Spiel zu spielen; sie gehen selbst so nebensächliche Dinge wie Spielen verbissen an und können – gerade beim Spielen – nicht verlieren. Was außerhalb des Spiels noch eine gewisse Berechtigung haben mag – ein Richter soll nicht in diesem Sinne spielen, sondern einen Gerichtsprozess als Hauptsache behandeln –, macht im Spiel das Spiel kaputt. Wer den Unterschied von Spiel und Alltag nicht kennt, und deshalb das Spiel zu ernsthaft betreibt, der ist ein Spielverderber und spielt nicht mehr.
Sport ist eine der schönsten Nebensachen und damit sind sportliche Wettkämpfe Spiele. Sie folgen ihren eigenen Regeln und ihrer eigenen Logik. Sportliche Wettkämpfe sind dahingehend in einer eigenen Welt platziert, neben anderen Spiel- und Nichtspiel-Welten der Gesellschaft wie etwa Religion, Kunst, Recht, Wissenschaft, Bildung. Auch und gerade die Olympischen Spiele kennen daher beide Arten von Spielverderberei. Sehr selten taucht der Fall auf, dass nicht ernsthaft genug gespielt wird. Bei den Olympischen Spielen in London 2012 sind acht Badmintonspielerinnen disqualifiziert worden, weil sie gar nicht ernsthaft gewinnen wollten, sondern wettbewerbsverzerrend freiwillig verloren haben. Das weitaus größere Problem ist der Fall des unbedingten Siegeswillens: Dann will jemand den Sieg um jeden Preis erringen, und sei es auch um den Preis, die Gleichwertigkeit des Gegners durch Hinterlist, Betrug oder Respektlosigkeit außer Kraft zu setzen. Die Olympische Bewegung hat dieses unverzichtbare Minimum des Spielens zwischen zu laxer und zu verbissener Ernsthaftigkeit auf die schöne Formel gebracht, man möge das Beste, nicht aber alles für den eigenen Sieg geben.
Oft heißt es, die Welt des Sports sei gar keine Welt des Spiels mehr. Die allermeisten Athleten und Athletinnen seien schließlich Profis; es sei schlicht ihr Job und insofern sei es weder möglich noch zumutbar, den Sport als Nebensache zu praktizieren. Falls aber Sport als Spiel praktiziert wird und sein Selbstzweckcharakter durch entsprechende organisatorische Maßnahmen aufrecht erhalten wird, dann sind auch die Olympischen Spiele in ihrer inneren Logik Eigenwelten und ein Spiel. Dieser Charakter der Spiele und des sportlichen Wettkampfs wird nicht dadurch unterlaufen, dass Athletinnen und Athleten ihren Lebensunterhalt mit Profisport verdienen. Weil der Selbstzweckcharakter jedoch verloren gehen kann, gerät die Olympische Bewegung nicht selten unter Verdacht, sie sei nicht in der Lage oder Willens, den Selbstzweckcharakter des Olympischen Sports zu gewährleisten. Vielmehr sei der olympische Sport längst ein gigantisches Geschäft.
Dass die Spiele den Charakter des Nebensächlichen und Spielerischen verlieren können, lässt sich an einem Beispiel festmachen: Angesichts der Propagandakraft der Olympischen Spiele von 1936 verbietet sich die politische Einschätzung, dass es doch bloß Spiele gewesen seien. Carl Diem hatte als Generalsekretär des Organisationskomitees der Spiele alles dafür getan, dass diese Spiele keine Nebensache waren. Denn er propagierte Sport als freiwilliges Soldatentum. Angesichts der realen Geldströme im heutigen Brasilien, bei denen die Finanzierung der Olympischen Spiele in harter Konkurrenz stehen zur Unterfinanzierung etwa des Bildungswesens, verbietet sich eine allzu frivole politische Einschätzung von Olympischen Spielen als schönste Nebensache.
Olympische Spiele als Bühnen-Welt
Olympische Spiele können als eine autonome Welt, die gleichwohl nicht autark ist, gelten, weil man sie als spielerische Inszenierung eines Grundprinzips moderner Gesellschaften verstehen kann. Das moderne Versprechen, dass die soziale Stellung des Individuums nicht länger mehr von Geburt an festliegt, sondern durch eigenes Tun verändert werden kann, und dass es dabei gerecht zugehen soll, dieses Grundanliegen wird in einem Olympischen Wettkampf spielerisch inszeniert. Die Gleichwertigkeit der Gegner wird zum Beispiel durch Gewichtsklasseneinteilungen aktiv hergestellt, damit gewährleistet ist, dass ausschließlich die individuelle Leistung und das Quäntchen Glück der Tagesform den Ausschlag über Sieg und Niederlage gibt. Eine solche durch eigene Leistung erzielte Entscheidung ist gleichwohl nur ein Zwischenstand für den Augenblick. Denn, beim nächsten Aufeinandertreffen ist der Ausgang des Wettkampfs wieder offen. Hier liegt der Grund, die Olympischen Spiele als Fest zu begreifen, denn sie bilden einen Ort der sozialen Selbstvergewisserung, was es heißen könnte und was es uns wert ist, gesellschaftsweit soziale Mobilität im Modus der Leistungsgerechtigkeit zu praktizieren. Diese Vergewisserungsdimension eines Festes ist gefährdet, wenn das Fest des Sports nicht mehr von einem auf Nutzen gerichteten Geschäft einerseits und von einem auf bloßen Ausgleich zur Welt des Ernstes gerichteten Spaß-Event andererseits unterscheidbar ist.
Es gibt Aspekte von Spiel, die man nicht primär mit den Olympischen Spielen verbindet. Rausch, Orgiastisches, Ungezügeltes ist zwar nicht prinzipiell unverträglich mit einem Fest, aber diese Aspekte sind in der Olympischen Bewegung wohl allzu sehr eingehegt, um bei diesen Spielen tatsächlich zur Geltung zu kommen. Man kann daher den Verdacht hegen, dass die Olympischen Spiele nur innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, aber nicht mit dieser Ordnung spielen wollen.