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Soziale Bewegungen in Brasilien

Bernhard Leubolt + Dana de la Fontaine Dana de la Fontaine + Bernhard Leubolt

/ 7 Minuten zu lesen

Brasilien galt lange als Land mit vergleichsweise aktiven sozialen Bewegungen. Die Zeit der Präsidentschaften von Lula und Dilma Rousseff war von einer Annäherung der meisten dieser Gruppierungen an den Staat geprägt. Die Auswirkungen werden kontrovers diskutiert. Seit der Absetzung von Präsidentin Rousseff veränderte sich die Beziehung der Bewegungen zum Staat deutlich.

Demonstranten der Landlosenbewegung protestieren am 12.2.2014 in Brasilia gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff, auf dem Plakat steht "Dilma tut nichts für eine Bodenreform". (© AP)

n den sozialen Bewegungen Brasiliens finden viele Gruppen der brasilianischen Bevölkerung zusammen. Der renommierte brasilianische Sozialwissenschaftler Emir Sader definierte drei Zyklen der Massenmobilisierung sozialer Bewegungen bis Anfang der 2000er-Jahre:

Historische Ursprünge

1. Ab dem Militärputsch und anschließendem Machtantritt der Regierung Getulio Vargas 1930 wurden in Brasilien nationalistische Bewegungen dominant. Diese hatten sehr unterschiedliche Ausprägungen. Der Nationalismus war eine Art Gegenbewegung zum Liberalismus. Das Setzen auf nationale Eigenständigkeit – gegen den "Ausverkauf" des Landes" – hatte eine stark anti-imperialistische Schlagseite und Bezug zu aus Europa ausgewanderten ArbeiterInnen, die sowohl Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus als auch Faschismus mitbrachten. Auch das brasilianische Militär verortete sich tendenziell nationalistisch. Diese historischen sozialen Bewegungen umfassten also vordergründig die Arbeiter- und Mittelschichtsbewegungen im städtischen Raum. Sie waren zwar einerseits heterogen, aber dennoch über ein korporatistisches Gewerkschaftssystem relativ eng an den Staat gekoppelt und wurden mittels Arbeits- und Sozialrechten in Politik und Gesellschaft eingebunden.

Große Teile der marginalisierten "Unterschichten" blieben hingegen ausgeschlossen. Sie wurden erstmals während der Regierung von João "Jango" Goulart (1961-1964) in das politische Bündnis integriert. Die von dieser Regierung geplanten "Basisreformen" versprachen eine Landreform und weitere Umverteilungsmaßnahmen. Nach Massendemonstrationen der konservativen Mittelschichten ergriffen Militärs die Macht. Der Putsch 1964 war der Anfang einer zwanzigjährigen Militärdiktatur, die sich explizit gegen die progressiven Reformpläne und soziale Bewegungen wandte. Die Militärs versprachen, das "Chaos" zu beenden und somit auch die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.

2. Das führte zu einer Veränderung der sozialen Bewegungen: Nach dem Vorbild der kubanischen Revolution von 1959 prägte der bewaffnete Guerilla-Kampf im ländlichen und städtischen Bereich gegen die Diktaturen und für den Sozialismus das Bild der 1960er- und 1970er-Jahre. Diese Bewegung war im Studierendenmilieu besonders stark. Am Ende dieser Phase erstarkten die sozialen Widerstandsbewegungen zusehends. Die wirtschaftliche Krise Ende der 1970er-Jahre schwächte die Macht der Militärs. Die technokratisch (zu Gunsten der Mittelschichten und zu Ungunsten der Armen) "gelösten" Verteilungskämpfe brandeten wieder auf. Besonders die aufkommende unabhängige Gewerkschaftsbewegung und die neuen sozialen Bewegungen der Armen in den Städten traten als neue politische Akteure auf den Plan. Wichtige Teile der Mittelschichten beteiligten sich ebenfalls an den Protesten für die Demokratie und gegen das Militärregime.

Demokratisierung, Neoliberalismus und soziale Bewegungen

3. Diese neue Stärke der sozialen Bewegungen ermöglichte die Demokratisierung in den 1980er-Jahren. Die sozialen Bewegungen Brasiliens wiesen deutliche Unterschiede zu ihren europäischen und US-amerikanischen Pendants auf. Während letztere vorrangig aus der jüngeren Generation der Mittelschicht bestanden, machten in Brasilien nicht nur diese Gruppen, sondern vor allem die Präsenz der Unterschichten die Stärke der Bewegung aus. Die Bewegungen der Armen forderten im Zuge der ökonomischen Krise die Berücksichtigung ihrer materiellen Bedürfnisse ein – wie etwa Zugang zu Trinkwasser, Ausbau der Kanalisation, günstiger Wohnraum oder den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Damit stellten sie konkrete politische Forderungen an den Staat und verlangten stärkere demokratische Mitsprache. Die Gewerkschaftsbewegung war in den 1980er-Jahren eine zentrale Kraft beim erfolgreichen Widerstand gegen die Militärdiktatur. Bis heute ist sie institutionell und ideologisch relativ zersplittert. Der größte Verband "Central Única dos Trabalhadores" (CUT) entstand aus der Demokratiebewegung und stand bis Anfang der 2000er-Jahre für kritische und unabhängige Politik, einen sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Kurs durch soziale Rechte und die Ausweitung von Arbeitsrechten. Die "Central Geral dos Trabalhadores do Brasil" (CGT) befürwortet ein neokorporatistisches System. Die "Confederação Geral dos Trabalhadores" (CGTB) sowie die "Força Sindical" gelten als unternehmensnah und eher an neoliberalen Reformkonzepten orientiert.

Während der 1990er-Jahre wurde die Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra – MST) zusehends stärker und in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Sie setzte sich mittels Landbesetzungen und Nutzung des besetzten Landes für gerechtere Landverteilung ein. Die Landlosenbewegung ist organisatorisch und ideologisch weniger gespalten als die Gewerkschaftsbewegung. Dennoch verlor sie seit Anfang der 2000er-Jahre deutlich an Bedeutung. Für diese Veränderung sind mehrere Faktoren verantwortlich. Besonders bedeutsam ist der Beginn der Mitte-Links-Regierungen 2003, der einen Bruch für die Beziehungen der sozialen Bewegungen zum Staat darstellt.

Mitte-Links Regierung und die Transformation sozialer Bewegungen

4. Seit der Präsidentschaft Lulas (2003-2010 – Lula; 2011-2016 Dilma Rousseff) war die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) in verschiedenen Koalitionskonstellationen an der Macht. Die PT verstand sich historisch als "Bewegungspartei" und sah sich daher in inhaltlicher und organisatorischer Verbundenheit mit sozialen Bewegungen. Daher war es absehbar, dass sich das Verhältnis zu den Bewegungen in ihrer Regierungszeit ändern würde. Viele Expertinnen und Experten diagnostizieren eine "Kooptierung" der Bewegungen, da eine beträchtliche Zahl von Aktivistinnen und Aktivisten nicht mehr unabhängig vom Staat arbeitete. Entweder staatlich oder von teil-staatlichen Betrieben finanziert oder als Staatsangestellte fanden viele bessere Arbeitsbedingungen vor. Gleichzeitig entstanden durch die neuen Verknüpfungen auch neue Abhängigkeiten. Die Auswirkungen werden kontrovers diskutiert – so positionierte sich z.B. die Landlosenbewegung solidarisch-kritisch: Bei grundsätzlicher Unterstützung der Regierung kritisierten sie die Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik, die vordergründig große Agrobusiness-Konzerne unterstützte. Trotz der Kritik fand die Bewegung aber durch staatliche Förderprogramme auch neue Möglichkeiten vor.

Die Ausrichtung der Regierung trug wohl auch mit dazu bei, dass einige Bewegungen in den vergangenen fünfzehn Jahren stärker wurden: Neu eingeführte Quotenprogramme an den staatlichen Universitäten entfachten viele Diskussionen in der Gesellschaft. Auch jenseits davon erfuhren Themen, die von "neuen sozialen Bewegungen" vorgebracht wurden, neue Aufmerksamkeit. Seit 2003 gibt es beispielsweise ein Staatssekretariat für Frauen. In diesem Zeitraum erstarkte auch die Frauenbewegung. Wichtige Themen sind häusliche und sexuelle Gewalt sowie Abtreibung. Die Positionierung zu letzterem Punkt ist gleichzeitig auch eine Trennlinie zwischen Feministinnen und Feministen sowie anderen Frauen-Aktivisten, die Abtreibung teilweise aus religiöser Orientierung ablehnen. Die Afro-brasilianische Bewegung tritt für die Rechte der größten gesellschaftlich benachteiligten ethnischen Gruppe ein. Sie thematisiert die Diskriminierung der Nachfahren der Sklaven. Ihre Themen werden von einer zusehend größeren Öffentlichkeit wahrgenommen. Politisch erreichten sie beispielsweise Quotenregelungen an Universitäten und zunehmende kulturelle Anerkennung. Im Schatten der oben genannten erstarkten auch die LGBT (Lesbian, Gay, Bi-Sexual, Transgender) Bewegungen. Sie kämpfen für das Recht auf Differenz. In kritischerer Distanz zur Mitte-Links-Regierung wurden auch die Umwelt- und die Indigenen-Bewegungen stärker. Insbesondere seit dem Rücktritt der ehemaligen Umweltministerin Marina da Silva entstand eine kritische Bewegung. Wichtige Ansatzpunkte der Kritik orientieren sich an Großprojekten wie Staudämmen und Kraftwerken. Oftmals gefährdet deren Bau und Betrieb Ökosysteme und den Lebensraum traditioneller indigener Gemeinschaften. Letztere Gruppe wurde nach der Kolonisierung des Landes zu einer relativ kleinen Minderheit, der jedoch aufgrund der historischen Bedeutung in der Verfassung von 1988 besondere Landrechte zugestanden wurden. Im Zuge der Industrialisierung des "Hinterlandes" (Norden und Westen des Landes) entstanden laufend neue Konflikte, die oftmals zu Lasten der Indigenen aufgelöst wurden. Da das relativ hohe Wirtschaftswachstum bis 2011 zu einer Zunahme entsprechender Konflikte führte, formierten sich die Bewegungen tendenziell unabhängig von der Arbeiterpartei und unterstützen eher die oppositionelle politische Bewegung hinter Marina Silva ("Rede" genannt, was "Netzwerk" bedeutet).

Während der vergangenen fünfzehn Jahre zeichnete sich auch weitere wichtige Änderungen im Hinblick auf die sozialen Bewegungen ab: Während die 1990er-Jahre stark von der im ländlichen Raum agierenden Landlosenbewegung geprägt waren, verlor sie in den 2000er- Jahren stark an Bedeutung. Stattdessen erstarkten urbane Bewegungen. Neben den zuvor genannten Bewegungen war es vor allem die Obdachlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores sem Teto – MTST), die relativ großen Zulauf verzeichnete. Der wirtschaftliche Boom ging mit explodierenden Immobilienpreisen einher, die zu einem Anstieg der Obdachlosen in den Städten führte. Auch öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen wie städtischer Nahverkehr, medizinische Versorgung oder Grundschulen wurden nicht ausreichend ausgebaut.

Massenproteste als Ausdruck einer radikalen Transformation sozialer Bewegungen?

Die größte Protestbewegung Brasiliens seit Anfang der 1990er-Jahre formierte sich daher 2013 (im Zuge der Austragung des FIFA Confederations Cup) um die verschärften Probleme in den brasilianischen Städten. "Wir wollen Schulen mit FIFA Qualität" stand auf den Planketten etwa zu lesen. Die Proteste verbanden Kritik an Korruption und Misswirtschaft mit der Kritik an den Problemen in den Städten. Nachdem konservative Medien Versäumnisse der Regierung in den Mittelpunkt stellten, schlossen sich schon 2013 zusehend mehr konservative Bewegungen an.

Damit deutete sich 2013 eine weitere starke Veränderung an, die eventuell nachhaltige Einflüsse haben könnte – konservative und teilweise auch diskriminierende Äußerungen wurden öffentlich artikulierbar. Der Protest der so genannten "neuen Rechten" richtet sich vordergründig gegen Korruption und die Regierung. Besonders kritisiert sie den starken Einfluss des Staates. Die – teilweise von Industriellen finanziell geförderten – Bewegungen kritisieren die "kommunistische Regierung" und ihre Sozialprogramme, die dazu führen würden, dass die Armen nicht mehr arbeiten wollen. Auch die Quotenregelungen werden als ungerecht kritisiert.

Die Bewegung der "neuen Rechten" erreichte in den Jahren 2015 und 2016 einen Höhepunkt. Sie mobilisierten mehrere hunderttausend Menschen in den großen brasilianischen Städten, um gegen die Präsidentin und die Regierung zu demonstrieren. Wie schon beim Militärputsch 1964, waren es auch diesmal wieder die Mittelschichten, die gegen "Kommunismus" demonstrierten, der durch die sozialen Reformen verbreitet würde. Bei der Entscheidung zur vorläufigen Amtsenthebung (Impeachment) 2016 bezogen sich die meisten befürwortenden Politikerinnen und Politiker auf die Bewegung auf der Straße und den Unmut gegenüber der Mitte-Links-Regierung.

Nun traten Brasiliens soziale Bewegungen nochmals verändert auf. Während die "neue Rechte" vorerst zufrieden schien und kaum noch mobilisierte, wurden die bis dahin dominanten progressiven Bewegungen wieder aktiv. Sie mobilisierten vor allem gegen das Impeachment, das sie als "Putsch" verstehen, und die aus ihrer Sicht illegitime Interimsregierung unter Präsident Temer. Darüber hinaus thematisierten sie vor allem die negativen Auswirkungen der geplanten neoliberalen Reformen: Privatisierung, Handelsliberalisierung und vor allem anvisierte deutliche Kürzungen der Sozialausgaben der Regierung und die Rücknahme von Minderheitenrechten (zum Beispiel im Hinblick auf indigene Landrechte) waren ebenso Thema wie die konservative gesellschaftspolitische Wende, die durch die Ersetzung von Ministern und Staatssekretären eingeläutet worden scheint.

Die scheinbare Ruhe der sozialen Bewegungen bis 2013 fand in den letzten Jahren ein deutliches Ende. Wohin der Pfad in Zukunft führen wird, bleibt abzuwarten.

Quellen / Literatur

  • Anderson, Perry (2016): Crisis in Brazil. In: London Review of Books 38 (8), 15-22. Araújo, Shadia Husseini de/Schmitt, Tobias/Tschorn, Lisa (Hg., 2013): Widerständigkeiten im 'Land der Zukunft': Andere Blicke auf und aus Brasilien. Münster: Unrast.

  • Fontaine, Dana de la/Stehnken, Thomas (Hg., 2012): Das politische System Brasiliens. Wiesbaden: VS Springer.

  • Leubolt, Bernhard (2015): Transformation von Ungleichheitsregimes: Gleichheitsorientierte Politik in Brasilien und Südafrika. Wiesbaden: VS Springer.

  • Leubolt, Bernhard/Strazzeri, Victor (2016): Krise und Proteste in Brasilien. In: Kurswechsel 1/2016, 92-97.

  • Sader, Emir (2005): Taking Lula's Measure. In: New Left Review (33), 59-80.

  • Singer, André (2014): Rebellion in Brazil. In: New Left Review (85), 19-37.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Bernhard Leubolt



promovierte an der Universität Kassel zum Thema "Soziale Ungleichheit und gleichheitsorientierte Politik" und arbeitet heute am Institut für Regional- und Umweltwirtschaft an Wirtschaftsuniversität Wien.

Dana de la Fontaine



promovierte an der Universität Kassel zum Thema "Neue Dynamiken in der Süd-Süd-Entwicklungskooperation: Indien, Brasilien und Südafrika als Emerging Donors". Seit 2011 arbeitet sie bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in La Paz, Bolivien.