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Die Bundeswehr im Kalten Krieg

Martin Rink

/ 8 Minuten zu lesen

Die Wiederbewaffnung besiegelte die Westbindung der Bundesrepublik. Integriert in die Nuklearstrategie der NATO stand die Bundeswehr fast vierzig Jahre lang an der Front des Kalten Krieges, die mitten durch Deutschland verlief. Das führte auch innenpolitisch zu Spannungen.

Mit Menschenketten, Demonstrationen und einer Kundgebung im Bonner Hofgarten demonstrierten 1981 rund 400.000 Menschen aus allen Teilen des Bundesgebietes gegen die atomare Nachrüstung in Deutschland - darunter auch NATO-Soldaten. (© picture-alliance)

Der Kalte Krieg hatte seinen Schwerpunkt in Deutschland. Deshalb war hier seit Mitte der 1950er bis in die frühen 1990er-Jahre eine weltweit einzigartige Konzentration von Streitkräften stationiert. Mitte der 1980er-Jahre waren es insgesamt 1,3 bis 1,5 Millionen aktive Soldaten, davon 900.000 auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Mit knapp 500.000 Mann (und ab 1975 einigen wenigen Frauen im Sanitätsdienst) bildete die Bundeswehr den Eckpfeiler der westlichen Bündnisverteidigung in Mitteleuropa.

Deutschland als potentielles Schlachtfeld

Ein besonderes Kennzeichen der westdeutschen Armee war ihre enge Einbindung in die NATO. Schon mit den ersten Überlegungen zu einer westdeutschen "Wiederbewaffnung" – Kritiker sprachen von "Remilitarisierung" – war der Zuwachs an Souveränitätsrechten für die Bundesrepublik verknüpft. Das betraf allgemein die Zugehörigkeit zur westlichen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere aber die Außen- und Sicherheitspolitik. Das Streben nach enger Integration verknüpfte sich mit dem Interesse der Bundesrepublik, hierdurch Mitsprache im Bündnis zu erlangen. Die Einsatzszenarien der Bundeswehr waren daher eng eingebunden in die der NATO.

Als die späteren Gründerväter der Bundeswehr im Oktober 1950 über ein neues "Deutsches Kontingent" nachsannen, existierte noch keine voll ausgeplante NATO-Strategie. Die Strategieentwicklung erfolgte erst zwischen 1953 und 1957 – also zeitgleich zu den Vorplanungen und der ersten Aufstellung der Bundeswehr. Nachdem das zwischenzeitlich geplante Projekt einer eng integrierten Europa-Armee an französischen innenpolitischen Querelen gescheitert war, wurden die westdeutschen Streitkräfte nach fünfjähriger Planungsphase am 12. November 1955 offiziell aus der Taufe gehoben. Erst ab Februar 1956 existierte die offizielle Bezeichnung "Bundeswehr". Trotz ihres rasanten Personalaufwuchses in den späten 1950er-Jahren erreichte sie erst ab Mitte der 1960er-Jahre ihr Aufbauziel von zwölf gepanzerten Divisionen (zu jeweils rund 16.000 Mann). Die geplante Gesamtstärke der Bundeswehr von 495.000 Mann – bei einem Mobilisierungsumfang von 1,3 Millionen aktiven Soldaten oder Reservisten – wurde erst in den 1970er-Jahren erreicht.

Nukleare Teilhabe und die Politik der Abschreckung

Die Bundeswehr bestand mit Masse aus konventionellen Streitkräften, also Truppenteilen, die nicht auf die nukleare Kriegführung ausgerichtet waren wie z.B. das durch gepanzerte Kräfte geprägte Heer. Allein diese Teilstreitkräfte umfassten (mit Stand 1980) 345.000 Soldaten im Frieden und über eine Millionen Mann im Verteidigungsfall. Gleichwohl enthielt auch die Artillerie des Heeres eine beachtliche nuklearfähige "taktische" Komponente in Zweitfunktion. Die Luftwaffe wurde dagegen ab Ende der 1950er-Jahre zur nuklearen "Strike Force" aufgebaut, insbesondere mit dem Hochleistungsflugzeug F-104G Starfighter. Vor allem sie sollten im Ernstfall taktische US-Nuklearsprengköpfe ins Ziel bringen. Dabei befanden sich die bis zu 5.000 Nuklearsprengköpfe selbst stets in US-amerikanischer Obhut. Jede eigenständige nuklear-strategische Rolle der Bundesrepublik und ihrer Bundeswehr war von vornherein ausgeschlossen.

Jede Auseinandersetzung auf deutschem Boden musste für die Bundesrepublik verheerende Folgen haben: So konzentrierten sich die in den 1950er-Jahren entwickelten NATO-Strategien auf eine Abschreckungslogik: Schon das Ausbrechen eines Krieges sollte verhindert werden, indem jede Aggression der Sowjetunion und ihrer Bündnispartner mit einer raschen und massiven nuklearen Eskalation beantwortet worden wäre. Um die diese Strategie der Massiven Vergeltung zeitlich abzupuffern, um Raum für politische Verhandlungen zu schaffen, bedurfte es daher starker konventioneller Kräfte, die anfangs jedoch kaum bestanden. Neben der Forderung der US-Regierung unter John F. Kennedy nach einer flexibleren, abgestuften Strategie seit 1961 war also auch die Existenz der Bundeswehr selbst eine Grundlage für die Verabschiedung der NATO-Strategie der Flexiblen Antwort (Flexible response) im Jahr 1968. Es sah die "flexible" Beantwortung einer Aggression vor: Zuerst sollten konventionelle Kräfte die Verteidigung am Eisernen Vorhang übernehmen, bevor eigene Nuklearwaffen zum Einsatz kämen. Auch deren Einsatz sollte zunächst selektiv erfolgen, um der Politik zeitlichen Spielraum für eine Begrenzung und Beendigung des Konflikts zu verschaffen. Freilich blieb auch ein möglicher Verzicht auf nukleare Einsatzmittel für die Bundesrepublik problematisch: So erschien ein Krieg möglicherweise wieder führbar – mit der Folge einer umfassenden nicht-nuklearen Verwüstung, der anschließend dann doch eine nukleare Eskalation gefolgt wäre.

Hinsichtlich der Einsatzkonzeptionen bestand also die grundsätzliche Alternative zwischen konventioneller "Verteidigung" und nuklearer "Vergeltung". Diese Optionen entsprachen jeweils den unterschiedlichen Fähigkeiten und Denkgewohnheiten von Heer und Luftwaffe. Dies spiegelte das mehrfache Dilemma der bundesdeutschen Verteidigungsplanung: Zum einen galt es, an der nuklearen Abschreckung zu partizipieren, um einen Krieg zu verhindern. Zum Zweiten musste ein dennoch möglicher Krieg mit ausreichenden Kräften militärisch erfolgreich geführt werden können. Dies aber hatte drittens so zu erfolgen, dass das zu verteidigende Land nicht zerstört wurde. Und viertens durften die zu verteidigenden Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht bereits im Frieden einer Militarisierung von Staat und Gesellschaft zum Opfer fallen.

Friedensbewegungen und Nachrüstungsdebatte

Eine große Resonanz in der Öffentlichkeit auf die strategische Einbindung der Bundeswehr entfaltete sich bereits in den 1950er-Jahren. Angesichts der NATO-Nuklearstrategie, die nun auch der bundesdeutschen politischen und militärischen Führung bekannt geworden war, drängte der seit Oktober 1956 amtierende Verteidigungsminister Franz Josef Strauß auf eine radikale Umplanung der noch ganz im Aufbau befindlichen Bundeswehr. Strauß favorisierte drastische Kürzungen der Aufbauziele der Heeresstreitkräfte und fokussierte sich auf die Ausstattung der Bundeswehr mit nuklearwaffenfähiger Ausrüstung.

Angesichts dieser Planungen traten am 12. April 1957 namhafte deutsche Physiker mit einer grundsätzlichen Kritik an der Logik nuklearer Abschreckung an die Öffentlichkeit. Ihr Göttinger Manifest stellte die "lebensausrottende" Zerstörungskraft der Atomwaffen heraus. Auch der 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnungspolitik aus dem CDU-Kabinett Konrad Adenauers ausgetretene Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident (1969-1974), engagierte sich ab April 1957 in der von ihm initiierten Bewegung Kampf dem Atomtod. Am 25. März 1958 billigte der Bundestag mit der Mehrheit der Stimmen der CDU/CSU-Fraktion die Ausrüstung der Bundeswehr mit NATO-Atomwaffen. Großangelegte Demonstrationen gegen die Nuklearbewaffnung der Bundeswehr erfolgten am 17. April 1958 mit Unterstützung aus Teilen der SPD und der Gewerkschaften; geplante Volksbefragungen wurden im Juli 1958 vom Bundesverfassungsgericht untersagt. Nach diesem Urteil flauten die großen öffentlichen Proteste zwar ab, doch blieb, etwa mit den Ostermärschen, eine Friedensbewegung aktiv, die sich Ende der 1970er-Jahre zur Massenbewegung formierte.

Speziell in den 1970er-Jahren mischten sich bisherigen Friedens- und Oppositionsbewegungen in komplexer Weise neu. Das Hervortreten der Partei Die Grünen ab 1980 zeugte von einer quer zum etablierten politischen Lagerdenken stehenden Kritik an der zivilen wie militärischen Nutzung der Atomtechnik und ihrer Risiken. Die Bundeswehr war nicht direkt involviert – schließlich zählten ihre Pershing 1A gerade noch zur Kategorie der taktischen Nuklearwaffen. Deren Ersatz stand nicht zur Debatte, betraf doch die NATO-Nachrüstung die Einführung einer neuen Generation von Mittelstreckenwaffen mit höherer Reichweite; so der in Westdeutschland stationierten US-Streitkräfte mit der Pershing II. Dennoch ging es hier um Fragen, die für die Bundesrepublik von strategischer Bedeutung waren: die Planung von militärischen Kräften auf eigenem Territorium zum Zweck der Politik; und des physischen Überlebens.

Der vom vorzeitig in den Ruhestand gegangenen Generalmajor Gert Bastian maßgeblich mitinitiierte Krefelder Appell vom 16. November 1980 stieß auf eine breite Resonanz in der Öffentlichkeit. In ihm forderte die Friedensbewegung die Bundesregierung auf, "die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen" (NATO-Doppelbeschluss), und drängte auf eine Ende des atomaren Wettrüstens durch die NATO. Mehr als drei Millionen Menschen unterzeichneten den Appell. Ungeachtet der breit gefächerten Friedensbewegung mit ihrer Mobilisierung von Hunderttausenden von Demonstranten war gleichzeitig der Antritt der Regierung Kohl Beleg für zahlreiche Unterstützer der bisherigen Sicherheitspolitik. Die NATO-Sicherheitspolitik polarisierte die Wählerschaft.

Der Dritte Weltkrieg als Fiktion und Realität

Die Frage um Technikbeherrschung und Technikfolgenabschätzung betraf unter anderem genau das Problem, das der Luftwaffe in der Ära Strauß (1956 bis 1962) zu ihrer besonderen Rolle verholfen hatte: Aus den Automatismen exakten militärischen Vorplanens erwuchs ein politisch-strategisches Problem grundsätzlicher Natur. Das raum-zeitliche Zusammenschrumpfen von Entscheidungsmechanismen war eine Herausforderung, die zunehmend weniger technisch-organisatorisch "bewältigbar" schien. Eine Resonanz dieser mentalen Wandlungsprozesse zeigte sich in Literatur und populärer Kultur. Literatur wie der Roman Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt und Filme wie Stanleys Kubricks Werk über Dr. Seltsam von 1964 zeigten die Argumentationsmuster auf, die schon im Jahrzehnt zuvor die Gegner der Atombewaffnung zur Sprache gebracht hatten und die 20 Jahre später von den NATO-Nachrüstungsgegnern breite Resonanz erhielten.

In den frühen 1980er-Jahren traten dann Lieder (so die 99 Luftballons der Sängerin Nena im Jahr 1983) sowie eine ganze Reihe von negativen Utopien auf den Büchermarkt, die die Gefahr einer nuklearen Apokalypse thematisierten. Zu den Autoren zählte mit dem britischen General Sir John Hackett ein Experte, der von 1966 bis 1968 Oberbefehlshaber der Rheinarmee und des NATO-Bereichs Norddeutschland gewesen war. Sein mit anderen hochrangigen Offizieren verfasstes Buch über den fiktiven dritten Weltkrieg wurde ein in zehn Sprachen verbreiteter Bestseller. Der im August 1985 spielende Konflikt beinhaltete plausible Szenarien, die wohl so ähnlich auch als Planübungen im Bündnis durchgeführt worden waren: Ein anfängliches Vordringen der Warschauer-Pakt-Streitkräfte konnte von NATO-Kräften erst am Rhein gestoppt werden – dank der im Süden haltenden NATO-Streitkräfte und der Verstärkungen durch Luft- und Seetransporte über den Nordatlantik. Auch die seit den 1970er-Jahren verbesserte Waffentechnik, etwa die elektronische Kampfführung und die Panzerabwehrwaffen sowie die (real kaum verwirklichte) Verstärkung konventioneller Kräfte spielte in Hacketts Szenario eine Rolle für den relativ glimpflichen Ausgang dieses gedachten Dritten Weltkriegs, der weitgehend aufs Konventionelle begrenzt blieb. Der Konflikt endete nach Austausch – lediglich – zweier Atomschläge auf Birmingham und Minsk mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Deshalb blieb er führbar und letztlich wohl ein Wunschbild.

Die Forschung, die aus den derzeit verfügbaren Quellen basiert, zeichnet bezüglich der realen Planungen zum Einsatz von Nuklearwaffen ein deutlich pessimistischeres Bild. Stets blieb die Bundeswehr in dieses Bild vom möglichen Krieg eng eingebunden. Auch mit Beginn der Entspannungspolitik seit 1970 durch die Bundesregierung dominierte der Abschreckungsgedanke. Das Leitbild der Bundeswehr blieb der "Soldat für den Frieden" (Wolf Graf von Baudissin); ihr Wahlspruch: "Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen".

Die Bundeswehr blieb eine Armee in der Integration – mit allen Möglichkeiten und Grenzen zwischen Mitsprache und enger Einbindung in die NATO. Genau dadurch konnte jedoch die anfangs angestrebte Bundeswehr-gemeinsame Ausrichtung der Teilstreitkräfte nur begrenzt verwirklicht werden: Heer, Luftwaffe und Marine blieben in sehr unterschiedlicher Weise NATO-integriert und formten somit einsatzbezogene und auch alltagskulturelle Spezifika aus. Nur das Territorialheer blieb eine – vordergründig – "nationale" bundesdeutsche Angelegenheit. Möglicherweise aber trug genau diese Ambivalenz der verschiedenen Integrationsrichtungen dazu bei, die anfänglich bei den Alliierten bestehenden Vorbehalte gegenüber ihren westdeutschen Bündnispartnern zu zerstreuen. Auch konnte die strategische Ambivalenz zwischen nuklearer Abschreckung und konventioneller Verteidigungsfähigkeit letztlich nicht aufgehoben worden. Dies war möglicherweise ein Grund dafür, dass ein "heißer Krieg" als weder angemessen planbar noch führbar schien.

Quellen / Literatur

Bremm, Klaus-Jürgen, Mack, Hans-Hubertus & Rink, Martin (2005). Entschieden für Frieden: 50 Jahre Bundeswehr. Berlin/Freiburg: Rombach.

Hackett, Sir John Winthrop et. al. (1978). The Third World War: August 1985. New York: Hutchinson.

Hammerich, Helmut R., Dieter H. Kollmer, Michael Poppe, Martin Rink & Rudolf J. Schlaffer (2006). Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung. München: Oldenbourg.

Krüger, Dieter (2013). Am Abgrund? Das Zeitalter der Bündnisse: Nordatlantische Allianz und Warschauer Pakt 1947 bis 1991. Fulda: Parzeller.

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Thoß, Bruno (2006). NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960. München: Oldenbourg.

Fussnoten

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Weitere Inhalte

Martin Rink (Jg. 1966), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (bis 2013: Militärgeschichtliches Forschungsamt). Arbeits- und Forschungsthemen sind die Geschichte der Bundeswehr sowie die Geschichte asymmetrischer Konflikte seit der Frühen Neuzeit. Neueste Publikation: Martin Rink, Die Bundeswehr. 1950/55-1989/90 (= Militärgeschichte kompakt, Bd 6), geplant für 2015.