Wiegenlied einer sowjetdeutschen Mutter in der
sibirischen Verbannung
Dunkel ist die Nacht.
Nur der Mond am Wanderstabe
hält allein noch Wacht.
An dem schönen Wolgastrande
waren wir zuhaus.
Doch man trieb mit Schmach und Schande
uns von dort hinaus.
Malte uns ‘nen schwarzen Flecken
auf die freie Brust.
Mussten leiden Greul und Schrecken,
Kummer und Verdruss.
Jeden Sowjetdeutschen nennt man
Diversant, Spion...
Schlaf, mein kleiner deutscher Landsmann!
Schlaf, mein kleiner Sohn!
Und auch du in deiner Wiege
hast schon diesen Fleck,
denn trotz aller großen Siege,
niemand wischt ihn weg.
In dem großen Sowjetlande
jedem blüht sein Glück.
Du allein bleibst ein Verbannter,
denn zum heimatlichen Strande
darfst du nicht zurück.
Viele schöne Worte sagt man
einst auch dir, mein Sohn.
Doch solang den Fleck wir tragen,
ist es schnöder Hohn.
Schlaf mein Kind, beim Silberscheine,
bist noch klein und schwach,
weißt noch nicht, warum ich weine,
nichts von Hass und Schmach.
Wachse Kind! Straff deine Sehnen!
Sei kein stummer Knecht!
Denk an deiner Mutter Tränen
und verlang dein Recht!
Dominik Hollmann,
Krasnojarsk 1948/1963