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Dokument 3.3: "Fremdes Brot." Valentin Wiens über die Verfolgung der deutschen Aktivisten, die für das Recht auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland kämpfen, 1975 | Russlanddeutsche | bpb.de

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Dokument 3.3: "Fremdes Brot." Valentin Wiens über die Verfolgung der deutschen Aktivisten, die für das Recht auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland kämpfen, 1975

/ 13 Minuten zu lesen

Erste handgeschriebene Seite der Schrift "Fremdes Brot" aus der Ermittlungsakte, Blatt 224. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan)

"Sie, Deibert, haben fremdes, sowjetisches Brot gegessen, sie arbeiteten ohne jegliche Ausbildung als Ingenieur. Ja, man musste Ihnen eigentlich 60–70 Rubel monatlich bezahlen und nicht mehr!", so tobte der Staatsanwalt im Prozess gegen den 1942 geborenen Eduard Wendelinowitsch Deibert. Gegen den sowjetdeutschen Sklaven, dessen ganze Schuld es war, dass er große Anstrengungen unternahm, um in die BRD auszureisen. Die Gerichtsverhandlung dauerte schon zwei Tage [24.-25. Februar 1975] und näherte sich dem Ende. Herangezogen wurden 13 Personen, mit denen er als Ingenieur-Einrichter in Karaganda arbeitete. Offiziell wurde er nach Artikel 170-1 des Strafgesetzbuches der Kasachischen Unionsrepublik (KasSSR) verurteilt, der besagt:

"Wegen systematischer Verbreitung in Wort und Schrift wissentlich unwahrer Erfindungen, die das sowjetische System verleumden."

Tatsächlich hat er keine Verbreitung von erfundenen Behauptungen betrieben, sondern war dem KGB schlicht ein Dorn im Auge, das ihm oft mit einer Gefängnisstrafe gedroht hatte, sollte er mit seinen, ihnen unerwünschte Aktivitäten nicht aufhören.

Was waren diese unerwünschten Aktivitäten? Bereits 1973 sammelte er in Karaganda zusammen mit Abel Listen von Personen, die in die BRD ausreisen wollten. Er nahm aktiv an der spontanen Bewegung der Deutschen teil, was zu einer stark besuchten Kundgebung führte. Wegen derartiger Tätigkeit führte der KGB bei ihm drei Durchsuchungen je 6–8 Stunden durch.

[…] Aber zurück zum Prozess. Hier sind die wichtigsten Zeugenaussagen. Im März 1973 war er auf Geschäftsreise in Schachty, in der örtlichen Stadtbäckerei. In Anwesenheit von Iwanow V. und Deis K. erklärte Deibert E., dass es in der UdSSR keine Rede- und Pressefreiheit, keine Gerechtigkeit gibt und Menschen deutscher Nationalität unterdrückt werden […]. Hier noch eine weitere Zeugenaussage: Im Juni 1974 erklärte Deibert E. den Arbeitern seiner eigenen Abteilung, dass das sowjetische Wahlsystem eine Formalität und eine Fiktion sei, und die Abgeordneten der Sowjets nicht vom Volk gewählt werden […].

Alle 13 Zeugen hatten ähnliche Aussagen. Und bei der Verhandlung behaupteten sie alle, er hatte vor, in die BRD überzusiedeln und wollte niemanden überzeugen, sondern äußerte bei Diskussionen nur seine Meinung. Aber sein Schicksal war bereits entschieden, und der Prozess war nur eine Formalität.

[…] Lasst uns kurz den Lebensweg von Deibert verfolgen, den er vor der Gerichtsverhandlung durchschritt. E. Deibert wurde in einem Dorf im Gebiet Odessa geboren. Während des Krieges war auch seine Familie in Deutschland. Nun war der Krieg vorbei und die Deutschen, die aus Russland [d.h. aus der UdSSR] nach Deutschland kamen, blieben herrenlos.

Es war eine der schwierigsten, kritischen Phasen in ihrem Leben. Hier liefen überall sowjetische Propagandisten herum und versprachen allen eine Rückkehr in ihre Heimat, woher sie kamen, d.h. aus den ukrainischen Gebieten. Einige Leute, die den Wert sowjetischer Versprechen wussten, versteckten sich und verblieben in Deutschland. Aber der größte Teil wurde mit Gewalt und Betrug in die UdSSR, in die "Heimat" gebracht.

Bei der Überschreitung der Grenze der UdSSR ist alles klar geworden. Niemanden wurde vergönnt, die Ukraine wieder zu sehen, wo sie alle geboren sind und die sie mal als ihre Heimat betrachteten. Alle Deutschen wurden in die Zwangsansiedlungen, zusammen mit den Strafgefangenen in die nördlichen Regionen und nach Kasachstan geschickt. Jetzt war ihr "Heimatland" eine unbewohnte Steppe, in der nichts wuchs und nur einige Baracken für Häftlinge zu sehen waren oder die unpassierbaren Wälder im Norden, in der Komi ASSR und im Ural, wieder neben den Strafgefangenen. Ihre Siedlungen nannte man die Zonen. Zu jeder Zone gehörte eine eigene Kommandantur, in der jeder Deutsche, der 16 Jahre alt geworden ist, jeden Monat unterschreiben musste, dass er nirgendwohin flüchten würde.

[…] So verbüßten die in Russland geborenen Deutsche zehn Jahre lang die Strafe, weil sie als Deutsche geboren wurden. Die Hauptanklage gegen sie war die Volkszugehörigkeit. Ob jemand ein Mitglied des Komsomols [kommunistischer Jugendverband] oder der [kommunistischen] Partei war, zählte nichts; wenn du ein Deutscher bist, dann bist du ein Feind des russischen Volkes und deshalb musst du ausgerottet werden.

Foto eines russischsprachigen Zeitungsartikels über Deibert und seinen Strafprozess. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan)

Später, nach dem Prozess gegen Deibert, veröffentlichte die Zeitung "Industrialnaja Karaganda" ["Industrielle Karaganda", die einzige Gebietszeitung] am 2. April [1975] einen Artikel "Fremdbestimmt", in dem über diese Nachkriegszeit berichtet wurde:

Der Krieg verstummte. Und viele Deutsche kehrten in ihre Heimat zurück. Die Familie Deibert kehrte ebenfalls zurück. Wie alle Sowjetmenschen begannen die Bürger deutscher Nationalität, die durch den Krieg zerstörte Volkswirtschaft wiederherzustellen.

Aus der Zeitung geht hervor, dass die Deutschen nicht zwangsausgesiedelt wurden, sondern dass sie in ihre Heimat, in die Ukraine, zurückkehrten. Nirgendwo ist eine Quelle zu finden, in der angegeben wäre, auf welche Art und Weise es plötzlich die Deutschen nach Kasachstan verschlagen hat.

Nach 1956 zog die Familie von Deibert nach Karaganda, wo Eduard die 10. Klasse an einer Abendschule absolvierte und vorhatte, in einer Fliegerschule zu studieren. Er war zu dieser Zeit ein Mitglied des Komsomol und stand einer primären Komsomolorganisation vor. Er wollte ein Radarspezialist werden, aber durfte keine Prüfungen ablegen. Es stellte sich heraus, dass er im Lebenslauf "verschwieg", dass er von 1945 bis 1956 in einer Sondersiedlung in der Komi ASSR war. Man zwang ihn, seinen Lebenslauf zu ändern, aber gab ihm zu verstehen, dass er in dieser Lehranstalt keine Chance hat, aufgenommen zu werden. Da gingen ihm erst die Augen auf und er erkannte, dass ein Deutscher in der UdSSR immer ein minderwertiges Mitglied der Gesellschaft sein wird. Das war ein schwerer Schlag für ihn, nach dieser "Entdeckung" fand er keine Ruhe mehr.

Er trat danach in das Polytechnische Institut in Karaganda ein und brach das Studium nach anderthalb Jahren ab. Zu dieser Zeit begann, initiiert vom Bundeskanzler Willy Brandt, die Politik der Entspannung zwischen der UdSSR und der BRD. Dann gab es Gerüchte, dass Leute mit der Hochschulbildung bei der Ausreise große Summen bezahlen mussten und er hat das Studium deswegen aufgegeben.

Zusammen mit Abel trat er engagiert in den Kampf für die Ausreise der Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland. Und nun im Jahr 1973 wurde Abel für 3 Jahre eingesperrt, er [Deibert] wurde indes auf freiem Fuß gelassen, aber streng verwarnt. Der KGB sagte ihm, dass er nur für sich allein [um die Ausreise] bemühen musste. Und er hat sich bemüht. Er schrieb an alle städtischen [gemeint wohl: staatlichen] Organisationen bis hin zu L.I. Breschnew, an den Innenminister der UdSSR, Schtschelokow, an den internationalen Berichterstatter der Zeitung "Prawda", Juri Shukow, an die UNO, aber jegliche Antwort blieb aus. Der Sekretär des Vorsitzenden des [Karagandaer] Gebietsexekutivkomitees erklärte ihm zum Beispiel die Bedeutung des Wortes "Freiheit" [in der Sowjetunion]: "Freiheit ist das Recht zu arbeiten, und die Arbeit ist eben die Freiheit." […]

Und schließlich hat der OWIR im September [1973] Dokumente zur Bearbeitung des Antrages auf die Ausreise in die BRD endlich angenommen. Eine Beurteilung [Charakteristik] wurde ihm auf einer Betriebsversammlung erstellt, die sich als ein eigenartiges Gewissensgericht aufspielt. Die Person, die in die BRD übersiedeln möchte, gilt hier als Verräter. Und kann ein Verräter irgendwelche Rechte besitzen? Natürlich nicht.

Auf der Versammlung schallten ihm solche Worte entgegen: "Wenn ich eine Maschinenpistole bekäme, würde ich alle Deutschen töten!" oder "Meine Mutter starb vorzeitig wegen der Deutschen, weil sie während des Krieges viel erdulden musste!" So werden die Beurteilungen fast in allen Organisationen ausgehändigt. Aber hier könnte man eine weitere Besonderheit beobachten. Wenn über den Krieg gesprochen wird, über die Vergangenheit, dann sind alle Deutschen gleich, sie sind alle Faschisten, obwohl sie hier geboren sind. Dies folgt eindeutig aus dem vom Staat [propagierten] Slogan: "Wir werden nichts vergessen, wir werden nichts vergeben."

In der Tat wird nichts vergessen und nichts wird vergeben. Wenn man Radio und Fernsehen hört, Zeitungen und Bücher liest, so könnte man denken, dass der Krieg nicht vor 30 Jahren, sondern erst gestern zu Ende ging. Jawohl, der Deutsche in der UdSSR auch jetzt, 30 Jahre nach dem Krieg, bleibt ein Faschist. Und 1942 geborene E. Deibert ist dafür verantwortlich, dass jemandes Mutter vorzeitig gestorben sei. Tatsächlich tragen [die Berichterstattungen durch] das Fernsehen, Radio und die Presse ihre Früchte [beim Anheizen antideutscher Ressentiments]. Fernsehen und Presse verkünden eine weitere These: "Wir werden die Deutschen lebenslang verfolgen, gegen sie werden wir lebenslang giften und stänkern."

Deibert beendete seine Verteidigungsrede, in der er alle seine Handlungen und Gedanken nur durch den einzigen Wunsch erklären will, in die BRD zu gehen. Aber der Richter herrscht ihn an: "Wir verurteilen dich nicht wegen deines Wunsches, in die BRD auszureisen, sondern nach dem Tatbestand." Am Ende der Rede sagt Deibert, dass er aus Protest gegen die Entscheidung des Gerichts in einen Hungerstreik treten wird. Das Gerichtsurteil wurde verkündet: zwei Jahre in einem Lager des allgemeinen Regimes.

[…] Damit endet unsere Erzählung über Eduard Deibert, der in die BRD ausreisen wollte und dafür eine zweijährige Strafe verbüßen musste. […]

Foto eines Zeitungsberichts über den Prozess gegen Erich Abel, erschienen in der FAZ-Ausgabe vom 14. Februar 1975. (© Privatsammlung Eduard Deibert (Iserlohn))

In der Umgebung der Stadt Uralsk büßt seine dreijährige Freiheitsstrafe E[rhard] Abel ab. Er leidet derzeit stark an Asthma. Bis jetzt blieb im Gedächtnis der Menschen seine feste und entschiedene Rede während der Gerichtsverhandlungen. Hier gab es keinen Kompromiss mit dem Gewissen, keine Reue. Hier ist das Ende seiner Rede:

Bürger Richter! Was immer sie als Haftstrafe für mich verhängen werden, ich werde es ehrlich absitzen, aber wenn ich frei bin, werde ich niemals in meinem Leben einen Sowjetpass nehmen. Ich würde lieber einen Hungertod sterben. Meinerseits fühle ich keine Schuld und bekenne mich in keiner Weise schuldig. Mein Hauptziel ist es, in die BRD auszureisen.

Von Abels Worten, dass er nie wieder einen sowjetischen Pass in seinem Leben nehmen würde, was praktisch eine offizielle Weigerung der sowjetischen Staatsbürgerschaft bedeutete, fühlten sich die Richter wie vor den Kopf geschlagen. Sie verfielen in Hektik wie Mäuse. Dazu fangen die beim Gericht anwesenden Menschen noch an, einmütig zu klatschen, wie auf einem Konzert, um die Zugabe zu erhalten und unterstützten damit Abel. Die Offiziellen konnten nur schreien: "Pause für eine Stunde!" Aber die Leute kamen nicht heraus. Aufgebracht konnten sie nur schreien: "Pause für 2, für 3 Stunden!!!" Später teilte der stellvertretende Staatsanwalt Abels Frau mit, dass wenn er davon gewusst hätte, würde er für Abel einen Artikel [aus dem Strafgesetzbuch] aussuchen, der erlauben würde, ihm eine fünfjährige Strafe zu verhängen. […] Vergleicht man die gegenwärtige Situation der Sowjetdeutschen und jener Deutschen, unserer Vorfahren, die einst als freie Menschen nach Russland kamen, so wird es deutlich, wie ein freier Mensch zum Sklaven wurde. Er isst bereits das fremde Brot. Im Streben nach dem größeren Wohlstand büßten sie ihre Freiheit. Ja, sie sind die wirklichen Sklaven des 20. Jahrhunderts. Und diese Sklaverei existiert in der UdSSR. Während der Vernehmung im regionalen Exekutivkomitee nahm zum Beispiel [Wladimir] Pelke aus Saran seinen Pass aus der Tasche, warf ihn auf den Tisch und sagte: "Dieser Pass ist kein Pass, sondern eine Bescheinigung, dass ich ein Sklave bin!" […]

Im Bildungsbereich stehen die Deutschen unter anderen Nationen in der UdSSR an letzter Stelle. Es ist vorteilhaft für den Staat, unter den Deutschen hauptsächlich Arbeitskräfte [für körperlich beanspruchende Tätigkeiten] zu haben. Für die Deutschen wurde die Nationalität [hier im Sinne: Volkszugehörigkeit] sozusagen zum Kennzeichen im Pass, das einen gleichberechtigten Bürger von einem Sklaven unterscheidet. Zeigt der Deutsche bei der Einreichung von Dokumenten für ein Touristikvisum seinen Pass , sind die Reiseschecks vergriffen. Zeigt er seinen Pass bei der Einschreibung in eine Hochschule für solche Fachrichtungen wie etwa die Funktechnik, so wird er garantiert die Aufnahmeprüfungen "nicht bestehen" oder aus gesundheitlichen Gründen nicht durchkommen.

Also, die Hauptanklage gegen die Deutschen in der UdSSR ist ihre Nationalität. Dies war der Grund für die Auflösung der Republik im Jahr 1941, und nach dem Krieg für die Verhängung einer zehnjährigen Haftstrafe, gleich wie bei den Kriegsgefangenen. Und davon ausgehend ist es schon möglich, folgende These aufzustellen: Die Regierung der UdSSR betrachtete ihre Deutschen ähnlich wie die Deutschen in Deutschland. Die Regierung der BRD hat daher das volle (jedenfalls moralische) Recht, die Ausreise der Deutschen in die BRD genauso einzufordern, wie sie die Ausreise [d.h. Rückführung] von Kriegsgefangenen verlangt hat. Die Grundlage dafür bilden zahlreiche und endlose Eingaben der Sowjetdeutschen.

Die Sowjetdeutschen kommen langsam zu dem Schluss, dass sie ihre Heimat verloren haben. Man kann eine Person von ihrer Dienstelle herabsetzen und dann den vorherigen Zustand wiederherstellen, aber die Heimat kann [so] nicht wiederhergestellt werden. Der Begriff Heimat beinhaltet vielleicht mehr als ein Stück Brot, das man jemandem geben und dann wieder wegnehmen könne. Zu diesem Schluss gelangt, gehen die Sowjetdeutschen jedes Risiko ein, nur um in die BRD zu entkommen. Sie denken so: Wenn sie dort auch nicht alle Höhen erreichen werden, aber die Hauptsache ist doch, dass ihre Kinder vollwertige Bürger des Staates sein werden, eines solchen Staates, in dem ihre Muttersprache die Staatssprache [im Sinne: offizielle Amts- und Bildungssprache] ist. […]

Von Stadt Karaganda
April 1975

Fussnoten

Fußnoten

  1. Valentin Wiens (1937–2001), einer der Aktivisten der Ausreisebewegung in der UdSSR. Geboren im Rayon Chortitza, Gebiet Saporoshje in der Ukraine, musste er gleich vieler seiner Landsleute die Verfolgungen und Diskriminierungen in der Nachkriegszeit erleben. Trotzdem gelang es ihm, 1965 das Studium an der Polytechnischen Hochschule in Karaganda als Bauingenieur abzuschließen; er arbeitete zuletzt als Gruppenleiter in einem Projektinstitut. Seit 1974 schoss er sich der Ausreisebewegung der Deutschen in Karaganda an, sammelte Unterschriften und verfasste einige Schriften, in denen er die missliche Lage seiner Landsleute schilderte und das Recht auf das Verlassen der UdSSR forderte. Dafür wurde er am 22. Oktober 1975 verhaftet und am 8. April 1976 zu drei Jahren Freiheitsentzug in einem Straflager verurteilt. Als kranker Mann zurückgekehrt, durfte Wiens auf Druck internationaler Menschenrechtsorganisationen mit seiner Familie 1981 nach Westdeutschland ausreisen. Von den Folgen der Lagerhaft konnte er sich nie erholen und verstarb nach langem Krebsleiden in Bielefeld.

  2. Die Handschrift ist aus den Unterlagen des politischen Strafprozesses gegen drei deutsche Aktivisten entnommen, der mit der Verhaftung von Arnold Winschu (auch: Winschuh) am 30. August 1975 begonnen hat und mit der Verurteilung der Angeklagten am 8. April 1976 in der Stadt Karaganda, Kasachische Unionsrepublik endete:
    Gosudarstvennyj archiv Karagandinskoj oblasti (GAKO – Staatsarchiv des Gebiets Karaganda), f. 731, op. 3, d. 5071, t. 1, ll. 224–234 (Strafsache gegen Arnold Winschu, Valentin Wiens und Livia Winschu).
    Derselbe Text mit minimalen Abweichungen, in anderer Handschrift gefertigt, befindet sich im zweiten Band der Ermittlungsunterlagen in dieser Strafsache: ibid., d. 5072, t. 2, ll. 161–167.
    Und, schließlich, im Privatarchiv von Eduard Deibert aus Iserlohn befindet sich eine handschriftliche Fassung dieses Samisdat-Werkes mit einem identischen Inhalt, die dem Übersetzer in Kopie vorliegt.

  3. Zu Deibert und seinen Aktivitäten siehe ausführlich im Interner Link: Abschnitt III (Lebensläufe der nonkonformen Aktivisten).

  4. Der Artikel 170-1 des Strafgesetzbuches der KasSSR ist dem Artikel 190-1 des Strafgesetzbuches der RSFSR (Russländischer Unionsrepublik) identisch:
    "Verbreitung der wissentlich unwahren Behauptungen, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumdeten. Die systematische Verbreitung von vorsätzlich falschen Behauptungen in mündlicher und schriftlicher Form, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung diffamieren, sowie die Erstellung oder Verbreitung von Werken des gleichen Inhalts in schriftlicher, gedruckter oder anderer Form, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Besserungsarbeiten [d.h. mit Zwangsarbeit] bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe bis zu dreihundert Rubel geahndet."

  5. Über den Lebenswerk und -lauf von Erich (auch: Erhard) Abel siehe ausführlich im Interner Link: Abschnitt III (Lebensläufe der nonkonformen Aktivisten)

  6. Anfang der 1970er Jahre entstanden in vielen Orten und Regionen in der UdSSR spontane Gruppen von Menschen, die das Ziel, die Ausreise in die Bundesrepublik, verfolgten. Einer der Zentren dieser Bewegung war Karaganda. Hier fand am 30. September 1973 eine stark besuchte Kundgebung mit mindestens 400 Teilnehmern statt, die gegen die Behördenwillkür in der Sache der Ausreisegenehmigungen ihren Unmut äußerten. Siehe hierzu den Zeugenbericht von Eduard Deibert, einem der Mitveranstalter dieser Protestaktion:
    Unvergessliches Ereignis in Karaganda, in: Deibert: Zusammenfassung der Gefangenenliste (1996), S. 37.

  7. Siehe Foto dieses Zeitungsartikels auf Russisch.

  8. Im Originalartikel der Zeitung fehlt das Wort "Deutsche".

  9. Im August 1972 wurde eine Verordnung erlassen, das von Personen, die in kapitalistische Länder emigrierten, die Rückzahlung für die Staatskosten für die höhere Ausbildung verlangte: je nach der Art des Studiums handelte es zwischen 4 000 und 25 000 Rubel. Aufgrund zahlreicher Proteste im Ausland verzichtet die Regierung seit Frühjahr 1973 auf die Erhebung dieser Gelder, siehe:
    Armborst, Ablösung von der Sowjetunion (2001), S. 102–103, 115.

  10. Erhard/Erich Abel wurde am 28. September 1973 verhaftet und am 21. Januar 1974 zu dreijährigen Lagerhaft verurteilt, siehe etwa seine Interner Link: Anklageschrift vom 4. Januar 1974 im "Archiv des Samisdat", Nr. 2709 (russisch).

  11. Leonid Breschnew war als Generalsekretär des ZK der KPdSU (1964–1982) der wichtigste und einflussreichste Mann im Sowjetstaat.

  12. Nikolaj Schtschelokow war in den Jahren 1966 bis 1982 Minister des Inneren der UdSSR.

  13. Abteilung für Visen und Erlaubnisse (Otdel Wis i Rasrescheni – OWIR) bei der Gebietsverwaltung Karaganda des Innenministeriums, die u.a. für die Bearbeitung der Anträge der Sowjetbürger zuständig war, die, wie es in der Behördensprache so hieß, ins Ausland wegen eines ständigen Wohnsitzes ausreisen wollten.

  14. Solch eine Beurteilung von der Arbeitsstelle musste unbedingt bei der Beantragung vorgelegt werden.

  15. Das ist die Abwandlung des in der Sowjetunion weit verbreiteten Spruches in Bezug auf den Krieg: Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen.

  16. Der gesamte Prozess und insbesondere die abschließende Gerichtsverhandlung gegen Erhard (auch Erich genannt) Abel fanden eine breite Berichterstattung in den bundesdeutschen Medien, siehe z.B.:
    Claus-Einar Langen: Genossen, eines Tages fahre ich doch nach Deutschland. Aufzeichnungen des Prozesses gegen den deutschstämmigen Sowjetbürger Erich Abel, in: FAZ Nr. 38 vom 14. Februar 1975, Online:


    Die prekäre Informationslage zeigt sich in Berichten dadurch, dass einige Tatsachen oder Namen entstellt oder falsch angegeben wurden etc. So etwa wie im obengenannten Artikel falsch angegeben wird, dass E. Abel Ende 1974 gestorben sein sollte.

  17. In dem FAZ-Artikel aus dem Jahr 1975 wird sein Schlusswort folgendermaßen wiedergegeben:
    Ich, Erich Abel, fühle mich nicht schuldig. 29 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ist die Zeit gekommen, die Grenzen zu öffnen. Ich werde mich immer für eine gerechte und freie Übersiedlung in die Bundesrepublik einsetzen. Die Deutschstämmigen, die ausreisen möchten, sollen sich frei entscheiden können. Der Genosse Staatsanwalt droht mir mit einer fünfjährigen Freiheitsstrafe. Ich zweifle nicht daran, dass das Gericht seine Forderung erfüllt. Nach der Gefängnishaft werde ich aber niemals einen sowjetischen Pass in die Hand nehmen. Lieber will ich hungern und sterben. Ob Sie es wollen oder nicht, Genossen, eines Tages fahre ich doch nach Deutschland.
    Das Wort "Deutschstämmig" wurde gewiss vom Journalisten in den Mund des Angeklagten gelegt. Bei den Russlanddeutschen ist solch eine Selbstbezeichnung unüblich.

  18. Eine Kleinstadt im Gebiet Karaganda.

  19. Gemeint ist hier v.a. der Grad der Akademisierung. Vgl. hierzu:
    Viktor Krieger: Intellektuelle Rückentwicklung der Russlanddeutschen in der UdSSR, in: Volk auf dem Weg 3/2006, S. 12–14, Online: http://www.viktorkrieger.homepage.t-online.de/Maerz2006.pdf

  20. Im sowjetischen Inlandpass – der in der UdSSR als Personalausweis diente – wurde die Volkszugehörigkeit des Inhabers nach dem Vor-, Vaters- und Nachnamen und dem Geburtsjahr und -ort zuerst an dritten und im neuen Pass seit 1973 an fünfter Stelle (der berühmt-berüchtigte fünfte Punkt!) vermerkt.

  21. Gemeint ist das Regime der Sonderkommandantur, unter dem sich die Deutschen bis Ende 1955 befanden.