"Sie, Deibert, haben fremdes, sowjetisches Brot gegessen, sie arbeiteten ohne jegliche Ausbildung als Ingenieur. Ja, man musste Ihnen eigentlich 60–70 Rubel monatlich bezahlen und nicht mehr!", so tobte der Staatsanwalt im Prozess gegen den 1942 geborenen Eduard Wendelinowitsch Deibert.
"Wegen systematischer Verbreitung in Wort und Schrift wissentlich unwahrer Erfindungen, die das sowjetische System verleumden."
Tatsächlich hat er keine Verbreitung von erfundenen Behauptungen betrieben, sondern war dem KGB schlicht ein Dorn im Auge, das ihm oft mit einer Gefängnisstrafe gedroht hatte, sollte er mit seinen, ihnen unerwünschte Aktivitäten nicht aufhören.
Was waren diese unerwünschten Aktivitäten? Bereits 1973 sammelte er in Karaganda zusammen mit Abel
[…] Aber zurück zum Prozess. Hier sind die wichtigsten Zeugenaussagen. Im März 1973 war er auf Geschäftsreise in Schachty, in der örtlichen Stadtbäckerei. In Anwesenheit von Iwanow V. und Deis K. erklärte Deibert E., dass es in der UdSSR keine Rede- und Pressefreiheit, keine Gerechtigkeit gibt und Menschen deutscher Nationalität unterdrückt werden […]. Hier noch eine weitere Zeugenaussage: Im Juni 1974 erklärte Deibert E. den Arbeitern seiner eigenen Abteilung, dass das sowjetische Wahlsystem eine Formalität und eine Fiktion sei, und die Abgeordneten der Sowjets nicht vom Volk gewählt werden […].
Alle 13 Zeugen hatten ähnliche Aussagen. Und bei der Verhandlung behaupteten sie alle, er hatte vor, in die BRD überzusiedeln und wollte niemanden überzeugen, sondern äußerte bei Diskussionen nur seine Meinung. Aber sein Schicksal war bereits entschieden, und der Prozess war nur eine Formalität.
[…] Lasst uns kurz den Lebensweg von Deibert verfolgen, den er vor der Gerichtsverhandlung durchschritt. E. Deibert wurde in einem Dorf im Gebiet Odessa geboren. Während des Krieges war auch seine Familie in Deutschland. Nun war der Krieg vorbei und die Deutschen, die aus Russland [d.h. aus der UdSSR] nach Deutschland kamen, blieben herrenlos.
Es war eine der schwierigsten, kritischen Phasen in ihrem Leben. Hier liefen überall sowjetische Propagandisten herum und versprachen allen eine Rückkehr in ihre Heimat, woher sie kamen, d.h. aus den ukrainischen Gebieten. Einige Leute, die den Wert sowjetischer Versprechen wussten, versteckten sich und verblieben in Deutschland. Aber der größte Teil wurde mit Gewalt und Betrug in die UdSSR, in die "Heimat" gebracht.
Bei der Überschreitung der Grenze der UdSSR ist alles klar geworden. Niemanden wurde vergönnt, die Ukraine wieder zu sehen, wo sie alle geboren sind und die sie mal als ihre Heimat betrachteten. Alle Deutschen wurden in die Zwangsansiedlungen, zusammen mit den Strafgefangenen in die nördlichen Regionen und nach Kasachstan geschickt. Jetzt war ihr "Heimatland" eine unbewohnte Steppe, in der nichts wuchs und nur einige Baracken für Häftlinge zu sehen waren oder die unpassierbaren Wälder im Norden, in der Komi ASSR und im Ural, wieder neben den Strafgefangenen. Ihre Siedlungen nannte man die Zonen. Zu jeder Zone gehörte eine eigene Kommandantur, in der jeder Deutsche, der 16 Jahre alt geworden ist, jeden Monat unterschreiben musste, dass er nirgendwohin flüchten würde.
[…] So verbüßten die in Russland geborenen Deutsche zehn Jahre lang die Strafe, weil sie als Deutsche geboren wurden. Die Hauptanklage gegen sie war die Volkszugehörigkeit. Ob jemand ein Mitglied des Komsomols [kommunistischer Jugendverband] oder der [kommunistischen] Partei war, zählte nichts; wenn du ein Deutscher bist, dann bist du ein Feind des russischen Volkes und deshalb musst du ausgerottet werden.
Foto eines russischsprachigen Zeitungsartikels über Deibert und seinen Strafprozess. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan)
Foto eines russischsprachigen Zeitungsartikels über Deibert und seinen Strafprozess. (© Staatsarchiv des Gebiets Karaganda/Kasachstan)
Später, nach dem Prozess gegen Deibert, veröffentlichte die Zeitung "Industrialnaja Karaganda" ["Industrielle Karaganda", die einzige Gebietszeitung] am 2. April [1975] einen Artikel "Fremdbestimmt", in dem über diese Nachkriegszeit berichtet wurde:
Der Krieg verstummte. Und viele Deutsche
Aus der Zeitung geht hervor, dass die Deutschen nicht zwangsausgesiedelt wurden, sondern dass sie in ihre Heimat, in die Ukraine, zurückkehrten. Nirgendwo ist eine Quelle zu finden, in der angegeben wäre, auf welche Art und Weise es plötzlich die Deutschen nach Kasachstan verschlagen hat.
Nach 1956 zog die Familie von Deibert nach Karaganda, wo Eduard die 10. Klasse an einer Abendschule absolvierte und vorhatte, in einer Fliegerschule zu studieren. Er war zu dieser Zeit ein Mitglied des Komsomol und stand einer primären Komsomolorganisation vor. Er wollte ein Radarspezialist werden, aber durfte keine Prüfungen ablegen. Es stellte sich heraus, dass er im Lebenslauf "verschwieg", dass er von 1945 bis 1956 in einer Sondersiedlung in der Komi ASSR war. Man zwang ihn, seinen Lebenslauf zu ändern, aber gab ihm zu verstehen, dass er in dieser Lehranstalt keine Chance hat, aufgenommen zu werden. Da gingen ihm erst die Augen auf und er erkannte, dass ein Deutscher in der UdSSR immer ein minderwertiges Mitglied der Gesellschaft sein wird. Das war ein schwerer Schlag für ihn, nach dieser "Entdeckung" fand er keine Ruhe mehr.
Er trat danach in das Polytechnische Institut in Karaganda ein und brach das Studium nach anderthalb Jahren ab. Zu dieser Zeit begann, initiiert vom Bundeskanzler Willy Brandt, die Politik der Entspannung zwischen der UdSSR und der BRD. Dann gab es Gerüchte, dass Leute mit der Hochschulbildung bei der Ausreise große Summen bezahlen mussten und er hat das Studium deswegen aufgegeben.
Zusammen mit Abel trat er engagiert in den Kampf für die Ausreise der Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland. Und nun im Jahr 1973 wurde Abel für 3 Jahre eingesperrt,
Und schließlich hat der OWIR
Auf der Versammlung schallten ihm solche Worte entgegen: "Wenn ich eine Maschinenpistole bekäme, würde ich alle Deutschen töten!" oder "Meine Mutter starb vorzeitig wegen der Deutschen, weil sie während des Krieges viel erdulden musste!" So werden die Beurteilungen fast in allen Organisationen ausgehändigt. Aber hier könnte man eine weitere Besonderheit beobachten. Wenn über den Krieg gesprochen wird, über die Vergangenheit, dann sind alle Deutschen gleich, sie sind alle Faschisten, obwohl sie hier geboren sind. Dies folgt eindeutig aus dem vom Staat [propagierten] Slogan: "Wir werden nichts vergessen, wir werden nichts vergeben."
In der Tat wird nichts vergessen und nichts wird vergeben. Wenn man Radio und Fernsehen hört, Zeitungen und Bücher liest, so könnte man denken, dass der Krieg nicht vor 30 Jahren, sondern erst gestern zu Ende ging. Jawohl, der Deutsche in der UdSSR auch jetzt, 30 Jahre nach dem Krieg, bleibt ein Faschist. Und 1942 geborene E. Deibert ist dafür verantwortlich, dass jemandes Mutter vorzeitig gestorben sei. Tatsächlich tragen [die Berichterstattungen durch] das Fernsehen, Radio und die Presse ihre Früchte [beim Anheizen antideutscher Ressentiments]. Fernsehen und Presse verkünden eine weitere These: "Wir werden die Deutschen lebenslang verfolgen, gegen sie werden wir lebenslang giften und stänkern."
Deibert beendete seine Verteidigungsrede, in der er alle seine Handlungen und Gedanken nur durch den einzigen Wunsch erklären will, in die BRD zu gehen. Aber der Richter herrscht ihn an: "Wir verurteilen dich nicht wegen deines Wunsches, in die BRD auszureisen, sondern nach dem Tatbestand." Am Ende der Rede sagt Deibert, dass er aus Protest gegen die Entscheidung des Gerichts in einen Hungerstreik treten wird. Das Gerichtsurteil wurde verkündet: zwei Jahre in einem Lager des allgemeinen Regimes.
[…] Damit endet unsere Erzählung über Eduard Deibert, der in die BRD ausreisen wollte und dafür eine zweijährige Strafe verbüßen musste. […]
Foto eines Zeitungsberichts über den Prozess gegen Erich Abel, erschienen in der FAZ-Ausgabe vom 14. Februar 1975. (© Privatsammlung Eduard Deibert (Iserlohn))
Foto eines Zeitungsberichts über den Prozess gegen Erich Abel, erschienen in der FAZ-Ausgabe vom 14. Februar 1975. (© Privatsammlung Eduard Deibert (Iserlohn))
In der Umgebung der Stadt Uralsk büßt seine dreijährige Freiheitsstrafe E[rhard] Abel ab. Er leidet derzeit stark an Asthma. Bis jetzt blieb im Gedächtnis der Menschen seine feste und entschiedene Rede während der Gerichtsverhandlungen.
Bürger Richter! Was immer sie als Haftstrafe für mich verhängen werden, ich werde es ehrlich absitzen, aber wenn ich frei bin, werde ich niemals in meinem Leben einen Sowjetpass nehmen. Ich würde lieber einen Hungertod sterben. Meinerseits fühle ich keine Schuld und bekenne mich in keiner Weise schuldig. Mein Hauptziel ist es, in die BRD auszureisen.
Von Abels Worten, dass er nie wieder einen sowjetischen Pass in seinem Leben nehmen würde, was praktisch eine offizielle Weigerung der sowjetischen Staatsbürgerschaft bedeutete, fühlten sich die Richter wie vor den Kopf geschlagen. Sie verfielen in Hektik wie Mäuse. Dazu fangen die beim Gericht anwesenden Menschen noch an, einmütig zu klatschen, wie auf einem Konzert, um die Zugabe zu erhalten und unterstützten damit Abel. Die Offiziellen konnten nur schreien: "Pause für eine Stunde!" Aber die Leute kamen nicht heraus. Aufgebracht konnten sie nur schreien: "Pause für 2, für 3 Stunden!!!" Später teilte der stellvertretende Staatsanwalt Abels Frau mit, dass wenn er davon gewusst hätte, würde er für Abel einen Artikel [aus dem Strafgesetzbuch] aussuchen, der erlauben würde, ihm eine fünfjährige Strafe zu verhängen. […] Vergleicht man die gegenwärtige Situation der Sowjetdeutschen und jener Deutschen, unserer Vorfahren, die einst als freie Menschen nach Russland kamen, so wird es deutlich, wie ein freier Mensch zum Sklaven wurde. Er isst bereits das fremde Brot. Im Streben nach dem größeren Wohlstand büßten sie ihre Freiheit. Ja, sie sind die wirklichen Sklaven des 20. Jahrhunderts. Und diese Sklaverei existiert in der UdSSR. Während der Vernehmung im regionalen Exekutivkomitee nahm zum Beispiel [Wladimir] Pelke aus Saran
Im Bildungsbereich stehen die Deutschen unter anderen Nationen in der UdSSR an letzter Stelle.
Also, die Hauptanklage gegen die Deutschen in der UdSSR ist ihre Nationalität. Dies war der Grund für die Auflösung der Republik im Jahr 1941, und nach dem Krieg für die Verhängung einer zehnjährigen Haftstrafe,
Die Sowjetdeutschen kommen langsam zu dem Schluss, dass sie ihre Heimat verloren haben. Man kann eine Person von ihrer Dienstelle herabsetzen und dann den vorherigen Zustand wiederherstellen, aber die Heimat kann [so] nicht wiederhergestellt werden. Der Begriff Heimat beinhaltet vielleicht mehr als ein Stück Brot, das man jemandem geben und dann wieder wegnehmen könne. Zu diesem Schluss gelangt, gehen die Sowjetdeutschen jedes Risiko ein, nur um in die BRD zu entkommen. Sie denken so: Wenn sie dort auch nicht alle Höhen erreichen werden, aber die Hauptsache ist doch, dass ihre Kinder vollwertige Bürger des Staates sein werden, eines solchen Staates, in dem ihre Muttersprache die Staatssprache [im Sinne: offizielle Amts- und Bildungssprache] ist. […]
Von Stadt Karaganda
April 1975