Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Dokument 3.2: Lage der Deutschen in der Unionsrepublik Estland, 1974 | Russlanddeutsche | bpb.de

Russlanddeutsche Geschichte Von der Anwerbung unter Katharina II. bis 1917 Nationalitätenpolitik gegenüber der deutschen Minderheit in der Sowjetunion von 1917 bis zur Perestrojka Die "Deutsche Operation" Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger Ankunft in Friedland Vor 100 Jahren: Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen Leben und Kultur der Deutschen im Ural und Sibirien nach der Deportation Leben und Kultur der Deutschen in der Kasachischen SSR nach der Deportation Kultur und Gesellschaft Spätaussiedler, Heimkehrer, Vertriebene Identität und Ethnizität Russlanddeutsche Migrationsgeschichte in kulturhistorischer Perspektive Russlanddeutsche in den bundesdeutschen Medien Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler in russischen Medien Russlanddeutsche Literatur Postsowjetische Migranten in Sozialen Netzwerken Russlanddeutsche Alltagsgeschichte Der "Fall Lisa" Russlanddeutscher Samisdat Abschnitt I: Einführung A. Deutsche Dissidenten, Oppositionelle und Nonkonformisten im sowjetischen Unrechtsstaat (1950er–1980er Jahre) B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung C. Anmerkungen zu den Quellen Abschnitt II: Quellenteil Teil 1: Der Kampf um die Autonomie und für nationale und bürgerliche Gleichberechtigung Teil 2: Intellektueller Samisdat Teil 3: Kampf um die Ausreise aus der UdSSR nach Deutschland (BRD und DDR) Teil 4: Künstlerische und volkskundliche unzensierte Werke Abschnitt III: Lebensläufe einiger nonkonformer Aktivisten und Dissidenten Erich (Erhard) Abel Therese Chromowa Eduard Deibert Wjatscheslaw Maier Andreas (Andrej) Maser Ludmilla Oldenburger Friedrich Ruppel Friedrich Schössler Konstantin Wuckert Abkürzungsverzeichnis Redaktion

Dokument 3.2: Lage der Deutschen in der Unionsrepublik Estland, 1974

/ 6 Minuten zu lesen

Zur Lage der Deutschen in Estland

Wie inzwischen bekanntgeworden ist, wohnen in der Estnischen SSR z. Z. 7 000 Personen deutscher Volkszugehörigkeit, das entspricht 1 100 – 1 200 Familien. Diese Familien siedelten in die Estnische SSR in den Jahren 1967–71 aus der Kasachischen, Usbekischen und Tadschikischen SSR und aus dem Altaigebiet über. Im Jahre 1971 wurde der weitere Zuzug von Deutschen verboten, nachdem der KGB "gerochen" hatte, daß alle diese Leute nach Deutschland auszuwandern versuchten. Die Mehrzahl von ihnen wohnt in ländlicher Umgebung und arbeitet entweder als Mechaniker oder als Melker, oder aber als Viehpfleger, auch solche einbezogen, die eine höhere Bildung besitzen. Eine ihrer Fachausbildung entsprechende Stellung können sie nicht bekommen, weil sie angeblich die estnische Sprache nicht genügend beherrschen. Das ist aber nur ein Anlaß, der wahre Grund ist der, daß sie einen Antrag auf Auswanderung gestellt haben, oder irgendwo von einer solchen Absicht gesprochen haben.

Einzelne Familien wohnen auch in kleineren estnischen Städten wie Walk (Valga) - ca. 35, Pernau (Pärnu) - ca. 30, Zintenhof (Sindi) - ca. 21 Familien, desgleichen in Weißenstein (Paide), Hapsal (Haapsalu), Kohtla-Järve u.a. Deutschsprachige Schulen für ihre Kinder haben sie nicht, ebenso wie auch anderweitig im Lande (gemeint ist die UdSSR).

Von diesen 7 000 Personen haben schon über 6 000 ihre Absicht kundgetan, in die Bundesrepublik Deutschland auszuwandern, sowohl gegenüber den Organen der UdSSR, als auch gegenüber den offiziellen Kreisen der Bundesrepublik durch Sammlung von Unterschriften. Die Zahl derer, die in die DDR auszuwandern wünschen, beträgt nicht mehr als 2%. Ich will nun genauer über den Pernauschen Rayon berichten: Im Pernauer Rayon wohnen z. Z. ca. 700 Personen, entsprechend 100 - 110 Familien, von denen ca. 92% auswandern wollen. Einen offiziellen Ausreiseantrag haben 42 - 45 Familien gestellt, viele schon vier- bis fünfmal. So habe ich, Heinrich Groß, schon dreimal einen Antrag gestellt und habe unter den verschiedensten Motivierungen [d.h. Begründungen] Absagen erhalten. So wird z. B. einem Menschen, der eine Einladung von einem Onkel oder Vetter vorlegt, gesagt, dies seien nur entfernte Verwandte; wenn die Einladung aber von den Eltern ist, dann sagt man: "Sie sind Bürger der UdSSR, sie müssen in der USSR wohnen". Aber in diesem Jahr 1974 übertrafen sie auch dieses. In der ganzen Periode des Jahres 1974 haben von 7 000 Personen nur vier die Erlaubnis zur Auswanderung, und das in die DDR, bekommen. Die anderen aber erhielten Absagen unter immer neuen Begründungen, so z.B. "Sie haben eine Absage bekommen, weil sie ein Komitee organisiert haben, und deswegen sind Sie gewissermaßen schuldig" - so Arkadi Seifert, Heinrich Groß, Arthur Kirschmann, David Henze; das sind Mitglieder des Komitees der Vereinigung der Deutschen, die in die Bundesrepublik auswandern wollen. So versuchen die Behörden die Vereinigung der Leidensgenossen zu zerschlagen, verhören sie häufig im KGB mit dem Ziel, das Komitee aufzulösen, bisher allerdings umsonst. Die Leute begreifen dies alles ausgezeichnet. Es besteht sogar eine Anordnung aus Moskau, den Rayon für einige Zeit zu sperren; sogar die Einreise ausländischer Touristen ist verboten worden. Bis dahin hielten sich hier häufig Gäste aus den sozialistischen Ländern und aus Finnland auf.

Viele der unsrigen sind mehrfach demonstrativ gegen die durch die Behörden verursachten bürokratischen Verzögerungen aufgetreten, sowohl vor den örtlichen Organen als auch vor der Weltöffentlichkeit. So mußte z.B. Arkadi Seifert ein ganzes Jahr im Gefängnis verbringen, nur für seine Bemühungen, in seine Heimat – die BRD – auszureisen. Zweimal hat er in Moskau demonstriert: am 21.3.1972 im Gebäude des zentralen Postamtes und im Mai 1972 im Hotel "Intourist" in Moskau. Groß Heinrich demonstrierte zweimal: im Jahre 1973 im zentralen Telegraphenamt und am 30.1.1974 vor der Botschaft der BRD in Moskau. Er hat drei Hungerstreiks durchgeführt, einen zusammen mit seiner Frau im April 1974 von 19 Tagen Dauer. Ebenso haben aus Protest gehungert: Loeffler, A. Kirschmann, Henze und Pfeifer. Es fanden unzählige Demonstrationen vor den örtlichen Organen des MWD, der Stadtsowjets und des KGB in Pernau (Pärnu) und Reval (Tallinn) statt. Die örtliche Bevölkerung wird gegen die Deutschen aufgehetzt, indem man von ihnen behauptet, daß die Deutschen Estland die Insel Ösel (Saaremaa ) fortnehmen wollen, daß bei den Deutschen ein Geheimsender gefunden worden sei und andere Torheiten mehr. Ebenso versuchen sie passive deutsche Menschen mit einem engen Horizont gegen die Aktivisten einzunehmen – sie sollten gegenüber den Aktivisten ihre Fäuste sprechen lassen oder irgendeinen Protest erklären. Doch haben bisher die Behörden damit nichts erreicht, denn die Leute durchschauen das Spiel des KGB. Es mag sein, daß es dem KGB gelungen ist, einige kurzsichtige und schwache Menschen in seine Netze zu locken, doch ist das Ergebnis so nichtig, daß es gegenüber der ständig wachsenden Welle der Emigration der Deutschen nicht ins Gewicht fällt. Dieser Prozeß ist nicht umkehrbar und gegen ihn kommt niemand an.

Wir wollen die Aufmerksamkeit der Regierungen der freien Welt, der öffentlichen Meinung, aller öffentlichen und religiösen Organisationen einschließlich des Weltepiskopats im Vatikan auf die schwierige Lage der Deutschen lenken, die aus der UdSSR in ihre Heimat, die BRD ausreisen wollen. Aus den oben angeführten Tatsachen kann man folgern, daß die Behörden bewußt gegen die Personen deutscher Volksangehörigkeit einen – natürlich geheimen – Krieg unter Anwendung allerhand listiger Kniffe führen, mit dem Ziel, ihr Bestreben zur Emigration zu brechen und möglichst viele von ihnen in der UdSSR zurückzuhalten, um sie zu assimilieren.

Wir haben vorher nur einige Tatsachen aus dem Bereich eines einzigen Rayons aufgeführt, der nur 700 Personen deutscher Volkszugehörigkeit zählt; aber dies trifft auf das Zwei–Millionen–Volk in der ganzen UdSSR voll und ganz zu.

den 28.11.1974
Groß H.K., Kareis E.P., Pfeifer W.E.
und Seifert A.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Quelle: Deutschtum im Osten. Dokumente (Hrsg. vom Bund Re Patria, Frankfurt/M), Nr. 1/1975, S. 21–22. Grammatikalische, typographische u.ä. Fehler werden ohne Hervorhebungen oder Kommentare berichtigt.

  2. Nach sowjetischen Volkszählungen der Jahre 1970 und 1979 lebten in der Estnischen Unionsrepublik 7 850 bzw. 3 944 Deutsche. Ergebnisse aller Volkszählungen in Russland bzw. UdSSR von 1897 bis 2010 auf folgender Seite (russisch): Externer Link: http://www.demoscope.ru/weekly/ssp/census.php?

  3. Ausführlich über die Ausreisebewegung der Deutschen in Estland:
    Viktor Sieben: Tor nach Westen? Deutsche im "sowjetischen" Estland in den Jahren 1966-1975. – In: Russland – Deutschland – Europa. Ost-West-Wissenschaftsforum. Hgg. von Natalia Daniliouk, Karsten Roesler, Philipp Hermeier. Münster 2004. S. 206–216;
    ders.: Das Deutschtum in Estland: Von der herrschenden bis zur nationalen Minderheit. Ostseegebiet Symbol und Schauplatz im Kampf der Deutschen für die Ausreisefreiheit, in: Heimatbuch der Deutschen aus Russland 2005. Stuttgart o.J., S. 197-210.

    Nach Angaben von Sieben, der in estnischen Archiven recherchierte, kam das Groß der deutschen Migranten in den Jahren 1968 – 1971 nach Estland, nämlich 8 276 Personen. Bis 1976 reisten noch einige Hunderte jährlich in die Republik ein, mit einer stark sinkenden Tendenz. Bereits im Mai 1968 wurde den einheimischen Betrieben und Kolchosen angeordnet, die Anwerbung von Arbeitskräften außerhalb der Republik zu unterlassen. Angesichts des fortdauernden Zuzugs erfolgte dann am 25. März 1972 auf Befehl des Innenministeriums der Estnischen SSR das Meldeverbot für Personen deutscher Nationalität. Nach einer internen Erhebung kamen von den zugewanderten Deutschen 40% aus Kasachstan, 15% aus Tadschikistan, 10% aus Kirgisien und 20% aus den russischen Gebieten und Regionen. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen im Alter über 30 Jahren – bis zu 90% – wurde in der Ukraine geboren. Allein in den Jahren 1974, 1975 und 1976 bekamen entsprechend 1 470, 1 372 und 2 098 Erwachsene aus Estland die Ausreisegenehmigung nach Westdeutschland, was den höchsten Anteil in Bezug auf die Gesamtzahl der deutschen Bevölkerung in der ganzen UdSSR stellte (im Jahr 1973 zählte man in Estland 10.354 Deutsche).

  4. Über diesen eher lockeren Verbund einiger Aktivisten siehe etwa:
    Kerstin Armborst: Ablösung von der Sowjetunion: die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. Münster u.a. 2001, v.a. S. 168–176.

  5. Unter demonstrativ werden hier öffentliche Protestaktionen verstanden: Demonstrationen, Kundgebungen, Sitzblockaden u.Ä.

  6. A. Seifert wurde am 16. Mai 1982 zu zwei Jahren Freiheitsentzug in Estland verurteilt, vgl.:
    Eduard Deibert: Zusammenfassung der Gefangenenliste der Deutschen in und aus der Ex-UdSSR. Nr. 1-Nr. 9 (1984-1988). Typoskript. Bochum 1996, S. 7.

  7. Andere Autoren datieren die Demonstration im zentralen Postamt mit dem 18. März bzw. 23. April 1972 und die Demonstration im Hotel "Intourist" soll übereinstimmend am 16. Mai 1973 stattgefunden haben:
    Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen. Mit Beiträgen von Detlef Brandes und Wilhelm Kahle. 2., erw. und aktual. Auflage. München 1999, S. 145; Armborst (2001), S. 168-171.