An den 27. Kongress der KPdSU
VON KOMMUNISTEN, KOMSOMOLZEN UND PARTEILOSEN
SOWJETISCHEN BÜRGER DEUTSCHER NATIONALITÄT
Mehr als zwei Jahrzehnte sind es seit der Veröffentlichung des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 her, der unbegründete Anschuldigungen der Komplizenschaft der Sowjetdeutschen mit den deutschen–faschistischen Eindringlingen im Großen Vaterländischen Krieg aufgehoben und sie damit politisch rehabilitiert hat. Jedoch wurde die grundlos liquidierte Autonome Republik der Wolgadeutschen nicht wiederhergestellt. […] Der legitimen Bitte von zwei repräsentativen Delegationen der Sowjetdeutschen im Januar und im Juni – Juli 1965, die Wolgadeutsche ASSR wiederherzustellen, erteilten das Zentralkomitee der KPdSU und der Obersten Sowjet der UdSSR eine Absage.
Eine Kommission des ZK der KPdSU im September und Oktober 1985 weilte in den Siedlungsgebieten der Sowjetdeutschen und stellte eine Reihe von schweren Missständen und Mängel bei der Umsetzung des Beschlusses des ZK der KPdSU über die Verbesserung der ideologischen Arbeit unter den Bürgern deutscher Nationalität. Ein Empfang im November 1985 der aus 21 Personen bestehenden Delegation vom Genossen DENJAKIN K.S., dem Instruktor der Abteilung für Organisations- und Parteiarbeit [beim ZK der KPdSU] ließ die Hoffnung aufkeimen, dass die Frage der Wiederherstellung der nationalen Staatlichkeit der Deutschen [i.S. der Autonomen Republik] gelöst wird. In der Rede des Genossen SIMJANIN M.W. bei einer Beratung im Dezember I985 im Zentralkomitee der KPdSU,
[…] Die Arbeit des am 26. Dezember 1980 in Temirtau, Gebiet Karaganda eröffneten deutschen Dramatheaters wird durch eine geringe Zahl der deutschen Bevölkerung in der Stadt und fast vollständige Fehlen der deutschsprachigen Zuschauer äußerst erschwert. Das Theater hat kaum Kontakte zu anderen deutschsprachigen Kulturinstitutionen. Beim weiteren Verbleiben in der Stadt Temirtau, ohne eine radikale Lösung der deutschen Frage, ist das Theater dem Untergang geweiht. Die Ausbildung der Kader für das Theater, für [deutschsprachige] Zeitungen, Schulen [mit dem muttersprachlichen Deutschunterricht] usw. befindet sich in einem unbefriedigenden Zustand.
Eine geistige Unzufriedenheit der sowjetischen Deutschen, die unvollständige Rehabilitierung, die vor allem in der Ablehnung der Wiederherstellung ihrer rechtswidrig und unbegründet liquidierten Republik besteht, hat eine für unsere sozialistische Gesellschaft unerwünschte Kampagne zur Ausreise nach Deutschland verursacht. Die Ausreisebestrebungen und religiöse Gefühle bei einem beträchtlichen Teil der deutschen Bevölkerung wurden durch einen erfolglosen Versuch, im Juni 1979 im Norden Kasachstans ein Deutsches Autonomes Gebiet zu gründen, noch zusätzlich verstärkt. Dazu trugen vor allem grobe nationalistische Ausfälle während der Demonstrationen kasachischer Jugend am 16., 19. und 22. Juni in Zelinograd, Atbasar und Koktschetaw gegen die Gründung der deutschen Autonomie bei.
Solche beschämenden Ereignisse waren für die deutsche Bevölkerung eine völlige Überraschung und öffentliche Beleidigung, sie versetzten sie buchstäblich in einen Schockzustand, aber sie ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Die bürgerliche Propaganda nutzte diese Ereignisse zu ihren subversiven Zwecken aus und versucht weiterhin geschickt, über die in der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik RSFSR ungelöste deutsche Frage zu spekulieren und die Sowjetdeutschen zum Verlassen ihrer echten Heimat Richtung des westdeutschen "kapitalistischen Paradieses" zu bewegen.
Einige Genossen behaupten, dass unsere autonome Republik nur deswegen nicht wiederhergestellt werden kann, weil die Mehrheit der Deutschen außerhalb der UdSSR lebt und ein "drittes" Deutschland nicht geben wird. Die Lösung der nationalen Frage der Sowjetdeutschen ist eine innenpolitische Angelegenheit unseres Staates und es wäre grundsätzlich falsch, sie mit der Lösung der deutschen Frage und anderen [internationalen] Problemen oder mit der Existenz der sozialistischen DDR in Verbindung zu bringen.
[…] Mit diesem Brief drücken wir die allgemeingültige Meinung der überwältigenden Mehrheit der sowjetdeutschen Bevölkerung aus, die inständig und heiß ersehnt die Wiederbelebung ihrer nationalen Autonomie wünscht, was alle Probleme der Sowjetdeutschen mit einem Schlag lösen würde. Während der Gastspiele des Deutschen Dramentheaters in verschiedenen Republiken und Regionen haben die Menschen vielerorts und wiederholt die Frage der Notwendigkeit der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen aufgeworfen. Wiederholt wurde eine extreme Unzufriedenheit der Sowjetdeutschen unterstrichen, was geistige Bedürfnisse und Erfordernisse im Bereich der Sprache, Kultur und Lebensweise unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten und Traditionen angeht. [Unzufriedenheit herrscht auch wegen] der fehlenden nationalen Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache, wegen eines geringeren Niveaus der politischen, erzieherischen und kulturellen Massenarbeit in der Muttersprache.
In Ermangelung einer nationalen Autonomie arbeiten alle kulturellen Einrichtungen der sowjetischen Deutschen - Redaktionen von drei Zeitungen, Theater, Ensemble
[…] Um die Ursachen zu beseitigen, die die Ausreisestimmung und religiöse Gesinnung der Sowjetdeutschen verursachen, um ihre vollständige Rehabilitierung in den Augen aller brüderlicher Völker der UdSSR zu gewährleisten, um ihre Muttersprache, Traditionen, die Entwicklung der nationalen Kultur zu bewahren, ist es notwendig, die autonome Republik der mehr als zwei Millionen Deutschen der UdSSR wiederherzustellen.
Wir hoffen, dass die in unserem Schreiben aufgeworfenen Fragen und Probleme bei dem bevorstehenden 27. Parteitag erörtert und positiv entschieden werden, was voll und ganz den Bestimmungen des Parteiprogramms, der Verfassung der UdSSR und der Leninschen Nationalitätenpolitik entsprechen wird.
Temirtau [Gebiet Karaganda,
Kasachische Unionsrepublik], 1986