Identität und Identifikationen von Russlanddeutschen sind seit Beginn ihrer
Das "Deutschsein" in der Sowjetunion war dabei zum einen über ein gemeinsames Schicksal als Opferkollektiv, zum anderen über die "institutionalisierte Ethnizität" im sowjetischen System definiert. Zentraler Erinnerungsort der kollektiven Geschichtserzählung ist die Deportation der Wolgadeutschen von 1941 und die Erfahrung von Zwangsarbeit und Verbannung, mithin die Verfolgung als Deutsche.
In Deutschland führte der Gebrauch der russischen Sprache durch die (Spät-)Aussiedler, gepaart mit dem Unwissen der bundesdeutschen Bevölkerung um die
Basierend auf dreißig größtenteils auf Russisch geführten Interviews identifizierte die russische Sozialgeographin Maria Savoskul in einer 2006 publizierten qualitativen Studie drei unterschiedliche Typen von Identifikationen bei Spätaussiedlern, abhängig von Faktoren wie dem Alter und dem Zeitpunkt der Einwanderung.
Die Kulturwissenschaftlerin Olga Kurilo nimmt mit anderen Begriffen eine ganz ähnliche Kategorisierung vor:
Die Sozialwissenschaftlerin Svetlana Kiel wiederum konstruierte auf Grundlage von Mehrgenerationeninterviews mit insgesamt sieben aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften ausgewählten Familien (akademisch und nicht-akademisch gebildet, religiös, ethnisch gemischt u.a.) eine nuanciertere Typologie von Selbstidentifikationen, die stärker auf generationelle Unterschiede sowie Faktoren wie Religion und Bildung eingeht.
Diese drei durch qualitative Studien gewonnenen, strukturell relativ ähnlichen Typologien ergeben also ein Bild, in dem sich (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion auf unterschiedliche Art und Weise zu ihrer Herkunft bzw. ihrer Position "zwischen zwei Kulturen" positionieren. Dabei steht die eigene Hybridität selten in Frage. So ergab auch eine empirische Untersuchung des Sozialgeographen Bernhard Köppen, dass sich die Mehrzahl der 188 von ihm schriftlich befragten russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler zwischen den Optionen "Deutsch", "Russisch", "Russlanddeutsch" oder "Weder noch" für die Option "Russlanddeutsch" entschied, und dies in allen Altersgruppen außer den über 46-jährigen.
Eine Untersuchung mit Anspruch auf zahlenmäßige Repräsentativität führte die Externer Link: Boris Nemzow Stiftung im Jahr 2016 durch. Es handelt sich um eine Befragung von 606 postsowjetischen Migranten in Deutschland, die nach einem onomastischen Samplingverfahren – also gemäß typischer russlanddeutscher, russischer und russisch-jüdischer Namenskombinationen – ausgewählt wurden. 78% der Befragten gaben an, als Spätaussiedler eingereist zu sein, was ihrem Anteil in der Zuzugsstatistik seit der Öffnung der Sowjetunion ziemlich genau entspricht. Bei diesem Forschungsdesign fand keine Vorauswahl der Befragten gemäß ethnischer Herkunft und/oder Familiengeschichte statt, wie es bei den zitierten qualitativen Studien der Fall war. Allerdings gab es bei der Frage nach der persönlichen Identität vorgegebene Antwortmöglichkeiten. Von allen interviewten Personen identifizierten sich 44% als Deutsch, während 21% eine der großen ostslawischen Nationalitäten angaben (18% Russisch, 2% Ukrainisch, 1% Belorussisch). 19% entschieden sich für die übernationale Kategorie "Europäer". Dabei ist interessant zu beobachten, dass Sprachkenntnisse diese Identifikationen gar nicht so stark beeinflussen, wie man vermuten könnte: von denjenigen, die muttersprachlich oder fließend deutsch sprachen (64% aller Befragten), identifizierten sich 49% als deutsch und damit nur fünf Prozentpunkte mehr, als in der Gesamtgruppe. 13% bezeichneten sich als russisch oder ukrainisch, 20% als europäisch. Von den 35%, die mittelmäßig oder kaum Deutsch sprechen, identifizierten sich noch immer 34% als deutsch, 32% als russisch, ukrainisch oder belorussisch, und 18% als Europäisch. Auch eine solche Klassifizierung lässt natürlich Fragen offen, zumal "Russlanddeutsch" nicht unter den vorgegeben Antwortkategorien war. Manch eine(r), der sich zwischen Deutsch und Russisch nicht festlegen wollte, entschied sich offenbar für die Kategorie "Europäer", die auch bei jüdischen Kontingentflüchtlingen sehr beliebt war (30% aller Befragten). Andere gehörten wohl zu den 11%, die sich mit keiner der vorgegebenen Kategorien identifizieren konnten (7%) oder gar nicht antworten wollten (4%). Die vorgegebenen Antworten einer Befragung formen immer auch schon das Ergebnis in einem gewissen Maße vor.
Weiterhin wird nicht klar, wie die Situation bei der jüngeren Generation ist – in der Nemzow-Studie waren alle Befragten über 18 Jahre alt. Nur 18% gehörten der Altersgruppe von 18-34 Jahren an, die primär in Deutschland sozialisiert ist. Einen Anhaltspunkt bietet eine Umfrage unter 2.730 jugendlichen russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern im Jahr 2011, von der Waldemar Vogelgesang und Luisa Kersch berichten: 45% der Befragten sahen sich als "irgendwas dazwischen", 42% bezeichneten sich als "deutsch", 13% als "fremd".
Für die zweite, in Deutschland geborene und sozialisierte Generation lässt sich zudem die begründete Erwartung formulieren, dass sie von den Schwierigkeiten ihrer Großeltern, Eltern und ggf. auch älteren Geschwister mit der eigenen Identität anders oder gar nicht betroffen sind, eben weil sie keine doppelte Exklusionserfahrung durchgemacht haben und in Deutschland i.d.R. weder sprachlich, namentlich oder phänotypisch eine "sichtbare Minderheit" darstellen. So zeigten die für eine an der Universität Osnabrück entstandene Abschlussarbeit geführten Interviews mit Angehörigen der zweiten Generation aus russlanddeutschen Familien, dass für sie die Hybridbezeichnung "russlanddeutsch" kaum eine Bedeutung hat.
Aber auch hier sei vor Generalisierungen gewarnt. Allgemein sind verschiedene äußere und innere Faktoren relevant, die die Selbstidentifikation der nächsten Generation beeinflussen können: Wächst eine Person in einem stark russlanddeutsch geprägten Umfeld auf, oder findet die Sozialisierung in einem stärker gemischten Umfeld statt? Erlebt die Person stereotype Fremdzuschreibungen, z.B. aufgrund der Herkunft aus einem "russlanddeutschen" Stadtteil? Werden in der Familie das Gedächtnis an die eigene Herkunft und Geschichte und/oder bestimmte kulturelle Praktiken gepflegt, die ein Bewusstsein um eine besondere eigene Identität wachhalten? Entwickelt sich möglicherweise "symbolische Ethnizität" (Herbert Gans), die unabhängig von kulturellen Praktiken oder ethnischen Netzwerken existiert? Auch dürfte die Reproduktion von ethnischem Eigenbewusstsein in stark religiös geprägten Milieus von russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern ganz anders verlaufen, auch in der zweiten Generation. Hier bietet die gemeinsame Religion eine Identitätsressource, die auch jenseits der zeitlich immer weiter in den Hintergrund rückenden Herkunft aus der ehemaligen UdSSR Gemeinschaft stiftet. Letztlich ist es immer wieder nötig, auf die Heterogenität der Russlanddeutschen in Deutschland hinzuweisen, die jenseits der noch die Kriegsgeneration prägenden kollektiven Opferidentität ganz verschiedene, individuelle Entwicklungen und Positionierungen zulässt.
Abschließend ist zu allen zitierten Studien anzumerken, dass sie ein im Grunde statisches Bild ethnischer Selbstidentifikation zeichnen, in dem sich die untersuchten Personen eindeutig und dauerhaft bestimmten Kategorien zuordnen bzw. zuordnen lassen. Phänomene wie situative Identität bzw. Ethnizität – also die wechselnde (ethnische) Selbst-Identifikation je nach Kontext – lassen sich so nicht erfassen. Dieselbe Person könnte sich beispielsweise mal als "russlanddeutsch", mal als "deutsch" und mal auch als "russisch" identifizieren – ganz abgesehen von nicht-ethnischen Identifikationen beispielsweise über den Beruf, den Wohnort, u.v.a. In einer zunehmend heterogenen "postmigrantischen" Gesellschaft werden solche Differenzierungen immer wichtiger.