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Ich kann nicht umhin, die Frage nach den Beziehungen zwischen den sich "eingewurzelten"
Was für eine bedauerliche Stellung haben die Deutschen in der großen Völkerfamilie der UdSSR! Ist es nicht beschämend für ein Volk, das demütig beleidigende und verletzende Verunglimpfung über sich ergehen lassen musste und sich nicht traut, anderen auf ihre Mängel hinzuweisen? Ich denke, dass der beste Teil des kasachischen Volkes reif genug ist, unangenehme Wahrheiten zu hören und dabei dem niederen Gefühl der Rachsucht nicht nachzugeben. Ich verbeuge mich vor dem großen Franzosen Romain ROLLAN. Vor dem Ersten Weltkrieg hasste er die Deutschen für die Siegerüberheblichkeit. Nach dem Krieg stellte er erschreckend fest, dass die Rollen nun vertauscht wurden: seine verehrten Franzosen verhielten sich in gleicher Weise wie damals die Deutschen, und er verspürte Hass gegen seine Franzosen. Er verließ demonstrativ Frankreich und ließ sich in der Schweiz nieder, wo sich diese beiden großen europäischen Völker gelernt hatten, sich gegenseitig zu respektierten. […]
Unsere Deutschen hegen tiefe Gefühle der Dankbarkeit gegenüber des kasachischen Volkes für ihre barmherzige Hilfe für die bettelarmen und vor Hunger sterbenden ausgesiedelten Deutschen. Kasachen teilten mitunter das letzte Stück Brot mit ihnen. In den letzten Jahren sind, zumeist in der deutschen Presse, literarische Werke erschienen, die erzählen, wie die Kasachen deutsche Kinder vor dem Verhungern retteten, sie adoptierten und kinderreichen deutschen Familien halfen. Zu diesem Thema gibt es auch einen Film. Die Aufgabe solcher Werke ist klar: sie sollen der Bewegung der Deutschen für Selbstbestimmung oder für Ausreise entgegenwirken. Es ist nicht gut, so die Botschaft, gute Leute zu verlassen. Die Autoren dieser Werke beleuchten übrigens unfreiwillig den ganzen Schrecken der Situation der zwangsausgesiedelten Deutschen aus den vergangenen Zeiten. Immerhin, es stimmt, dass die Kasachen Großzügigkeit und Wohlwollen zeigten. Wir Deutschen treffen unter den Kasachen nicht diesen ungezügelten, erbitterten Hass, der uns von den Russen oft entgegengebracht wird, und wenn die Kasachen solche abgedroschenen Diffamierungen wie "Faschist, Fritz" usw. benutzen, dann ist dies eher ein Nachplappern als Hass. Kasachen und Deutsche leben nachbarschaftlich überwiegend friedlich, Skandale sind selten. Aber Skandale und Missverständnisse passieren dennoch. Und da fängt für den Deutschen das Unheil an.
Die Sowjetregierung tut viel, um die Rückständigkeit der Völker der ehemaligen Randgebiete Russland [i.S. des Russischen Reiches] zu überwinden und die konservative Stammes- und Feudalpsychologie, die diese Völker aus der Vergangenheit geerbt haben, zu überwinden. Führungspositionen werden nachdrücklich mit nationalen Kadern besetzt. Aber das Problem ist, dass viele, sehr viele Amtspersonen, die über Schicksale von Menschen entscheiden, sich noch nicht von der Stammes- und Feudalpsychologie befreit haben und diejenige größeren Befugnisse missbrauchen, die ihnen gegeben sind.
Darunter leiden auch andere Nationalitäten, aber besonders schlimm ergeht es für die Deutschen. Selbst die Kasachen leiden bisweilen darunter, d.h. von den Überresten der Vergangenheit, so wird zum Beispiel in der Presse oft Materialien über solche Überbleibsel [der alten Zeit, d.h. vor 1917] wie das Zahlen von Brautgeld, das Stehlen von Mädchen, das Zwingen der Mädchen zum Heiraten usw. veröffentlicht. Aber von einer Seite dieses Phänomens wird nicht gesprochen: über den lokalen Nationalismus, Vetternwirtschaft, weit verbreitete Dienstversäumnisse zugunsten von Verwandten und Bekannten, gegenseitige Unterstützung und Heraushelfen in jeder Situation, und das im vollen Bewusstsein, dass sie rechtswidrige Sachen verfechten. Kasachen ist das Bewusstsein der gegenseitigen Hilfe sehr eigen, dabei gehen sie oft ein großes persönliches Risiko ein, handeln mutig und verwegen. Im Allgemeinen ist dies ja eine positive Eigenschaft, und die Kasachen unterscheiden sich in dieser Hinsicht vorteilhaft von den Deutschen, denen die Nöte ihrer Nachbarn [i.S. Landsleute] gleichgültig sind, die sich sogar darüber freuen. Schlimm ist allerding daran die Tatsache, dass die Kasachen ihren Landsleuten auch dann helfen, wenn diese Verbrechen begehen, und unterdrücken andere Nationalitäten, insbesondere die Deutschen. Jeder weiß davon und in privaten Gesprächen wird all dies anerkannt, auch von Seiten der Kasachen selbst. Aber offen darüber zu reden, Dinge mit ihrem richtigen Namen zu nennen, ist nicht üblich. Niemand will den Teufel am Schwanz packen.
Ab und zu berichten die Zeitungen darüber. Dabei bleibt vieles unausgesprochen und der Leser ist nur auf eigene Vermutungen angewiesen. Die Nationalität der kritisierten Personen bleibt oft unerwähnt, aber der Leser kann anhand des Nachnamens und der Umstände des Falles einiges erraten. [...] Ich möchte dabei auf einige erschienene Zeitungsbeiträge hinweisen.
Da ist ein Artikel aus der "Komsomolskaja Prawda"
In der Zeitung "Kasachstanskaja Prawda"
Der Ermittler, Gen[osse] ALSHANOW, seine offizielle Amtsposition missbrauchend, stahl aus dem Safe von M.I. SHINKIN die Akten bezüglich der Wilderei der Freunde ALSHANOWS mit dem Ziel, sie vor einer Verantwortung vor dem Gesetz zu befreien. Diese Beamten begannen ein Verbrechen nach mindestens vier Artikeln des Strafgesetzbuches der Kasachischen SSR: Artikeln 142, 176, 189 und 191, für die das Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren vorsieht. Und just der stellvertretende Staatsanwalt des Kasachischen SSR, N. MANAJEW, dessen Aufgabe die Kontrolle über die strikte Einhaltung eines der Grundprinzipien des Rechts – die Unabwendbarkeit der Strafe entsprechend der Schwere des Verbrechens – ist, informiert mit einer entwaffnenden Direktheit die Leser von "Kasachstanskaja Prawda" darüber, dass dieser Gruppe von Personen administrative (sic!) Maßregelungen verhängt wurden: strenge Verwarnungen und Verweise.
Die Erfahrung zeigt, dass solche Maßregelungen wenig Einfluss auf die Amtsstellung und Karriere solcher Menschen haben. [...] Über den Richter, der dieses skandalöse Urteil fällte, wurde überhaupt nichts berichtet. Und diese Leute werden auch weiterhin sich so ähnlich verhalten, weil sie gewonnen haben. Die Zeitung "Kasachstanskaja Prawda" ist damit durchaus zufrieden. Man braucht ganz wenig Phantasie zu haben, um sich vorzustellen, was dem "eingewurzelten" Deutschen passieren könnte, wenn er sich unter diesen Umständen in eine Konfliktsituation mit einem Vertreter der Titularbevölkerung geraten würde.
Hierzu möchte ich einige Vorfälle schildern. In der Zeitung "Neues Leben", in den Jahren 1972–1973 (ich habe leider das Jahr und die Ausgabenummer der Zeitung vergessen) hat der Eigenkorrespondent der Zeitung in der Stadt Alma-Ata, Georg RAU, einen Beitrag veröffentlicht, unter dem Titel, soweit ich mich erinnern kann, "Am helllichten Tag sich verirrt"
Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt der Beziehung zwischen den "verwurzelten" Deutschen und der Titularbevölkerung hinweisen. Richter SCHASHIROW hat mir nicht nur mit sieben Tagen Haft und mit einer Strafsache gedroht.
Richter SCHASHIROW wusste ganz genau, dass die Menschen falsche Zeugnisse abgelegten haben, er kennt seine [Lands]leute. Deshalb hat er die Sache nicht weiter vorangetrieben und beschränkte sich auf meine Demütigung. [...] Nun, was wäre passiert, falls die verwandtschaftlichen Gefühle des Richters SCHASHIROW die Oberhand gewännen und er es ernsthaft vorgehabt hätte, mich ins Gefängnis zu bringen? Und nach unseren Verhältnissen ist so eine Situation durchaus möglich. Ganz bestimmt hätte man mich für nichts und wieder nichts eingekerkert. [...]
Es ist nicht ganz klar, warum die "Fehler der Geschichte" gegen Tschetschenen, Karatschajen, Kalmücken korrigiert werden könnten und gegen die Deutschen nicht? Diese Völker hätten es wesentlich leichter, sich hier zu "verwurzeln", da sie der Kultur, Traditionen, Psychologie und Religion nach […] es wesentlich näher den Völkern des Mitteasiens und Kasachstans sind.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Regierung ihre deutschen Bürger ausschließlich als Arbeitskraft betrachtet und keinesfalls an ihre menschlichen Bedürfnisse denkt […], dann sieht die Tätigkeit oder besser gesagt die Untätigkeit der Regierung logisch, konsequent und vernünftig aus. Wo sonst findet man so ein bequemes Völkchen? In Sibirien, Mittelasien und Kasachstan sind Arbeitshände sehr begehrt. Dieses unermüdlich rackernde und schuftende Völkchen, fleißig und gründlich – vielleicht die einzig verbliebenen positiven Züge des deutschen Nationalcharakters – befindet sich genau dort, wo es gebraucht wird. Würde man dort diese unruhigen Tschetschenen belassen, die für sich selbst einstehen können und die sich nicht für trudodni
[...]
Erst in den letzten Jahren ist der Prozess der Wiederbelebung des nationalen Selbstbewusstseins zu beobachten. Das äußerte sich unter anderem in der Bewegung der deutschen Bürgern, zunächst für die Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen, und – sobald es offensichtlich wurde, dass die Regierung dies nicht tun wird – für das Recht auf Emigration. Für mich war es eine angenehme Überraschung – ich hatte eine sehr schlechte Meinung von den Meinen [d.h. von den Landsleuten]. […]
[Konstantin Wuckert, KasSSR, Gebiet Dschambul,
Rayon Tschu, Ortschaft Nowotroizkoje, 1976]