Dokument 1.7: Zweite Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Verkürzte Niederschrift des Gesprächs beim Empfang der Teilnehmer durch den Staatspräsidenten Anastas Mikojan, 7. Juli 1965 | Russlanddeutsche | bpb.de
Dokument 1.7: Zweite Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Verkürzte Niederschrift des Gesprächs beim Empfang der Teilnehmer durch den Staatspräsidenten Anastas Mikojan, 7. Juli 1965
/ 12 Minuten zu lesen
Link kopieren
Mikojan: Guten Tag, Genossen! Wer möchte sich äußern?
Schössler: Anastas Iwanowitsch! Ich werde nichts Neues erzählen. Aus unseren Briefen wissen Sie bereits, dass wir uns wegen der Neubildung unserer Republik schon öfter an das Präsidium des Obersten Sowjets und an das ZK der KPdSU wandten, doch konkrete Antworten hat es nicht gegeben. Es gab nur solche Antworten, dass die Zeit noch nicht reif ist, dass es jetzt unzweckmäßig sei usw. Ich halte diese Antworten für fadenscheinig. Ungeachtet der Tatsache, dass der Ukas [vom 29. August 1964] die Beschuldigungen gegen uns aufgehoben hat, ist die Strafe dennoch geblieben: alle vorherigen [diskriminierenden] Erlasse sind nach wie vor wirksam und das nur deshalb, weil unsere Autonomie nicht wiederhergestellt ist. […] Man sagt uns, dass wir über kein Territorium [i.S. eines seit längerem kompakt besiedelten Stammgebiets] verfügen. Ich kann dem nicht zustimmen. Unser Territorium wurde seit 1764 urbar gemacht, wurde mit unserem Blut bezahlt. Unsere Vorfahren erkauften es für vier Millionen Rubel. Man muss in Erinnerung rufen, dass wir 1918 gemeinsam mit dem russischen Volk für die Sowjetmacht kämpften und nicht nur einige Regimenter, sondern eine ganze Division aufstellten. Zu Sowjetzeit wurde uns das Land per einen Staatsakt übertragen und das bedeutet, dass wir schon über ein Territorium verfügten. Zu der Behauptung, dass das [einstige] Territorium jetzt dichtbewohnt sei, möchte ich sagen, dass die ländlichen Rayons lediglich zu 25-30% [im Verhältnis zu der Bevölkerungsdichte vor 1941] besiedelt sind. Die Mehrzahl der Dörfer ist zerstört. Uns wird gesagt, dass die Bevölkerung dort [auf dem Territorium der einstigen Wolgadeutschen Republik] zugenommen hat, aber dieser Anstieg ist auf das Wachstum der Städte zurückzuführen. […]
Unsere Verfassung ist für uns, das Programm der KPdSU ist für uns. Die Republik der Wolgadeutschen muss wiederhergestellt werden. Erst ein solcher Schritt befreit uns von Schmach und Misstrauen. [Die Bevölkerung und Behörden] vor Ort sagen immer noch: Hätten sie keine Sünden gehabt, würde die Regierung sie anders behandeln.
Bornemann: Ich komme aus dem Gebiet Wolgograd, aus Kotowo.
Mikojan: Wieviel Deutsche leben jetzt dort?
Bornemann: Siebzig... Wir sind gekommen, um die Wiederherstellung unserer gesetzwidrig liquidierten Republik, um die Aufhebung der [diskriminierenden] Erlasse zu erreichen. […] Rehabilitierung heißt nicht nur Wiederherstellung der Ehre, sondern auch Wiederherstellung der früheren Lage, d. h. der Republik an der Wolga und der nationalen Gleichberechtigung. […]
Im Erlass vom 29. August 1964 ist davon die Rede, dass die Deutschen an ihren neuen Wohnorten "verwurzelt" seien. Daraus folgt, dass die Kalmücken und die anderen kaukasischen Völker, die sich nicht "verwurzeln" konnten, ihre Autonomie zurückerhalten, den Deutschen dagegen, die gut gearbeitet haben und "verwurzelt" sind, verbietet man die Rückkehr in ihre Heimatorte. Unser Volk ist sehr unzufrieden damit, dass der Erlass nicht in den russischen Zeitungen veröffentlicht wurde. Als wir im Winter hier waren, lasen wir den Text des Erlasses in einer deutschen Zeitung aus der DDR, und unsere deutsche Zeitung [Neues Leben] durfte dieses Dekret nicht drucken. Wir wollen, dass die Menschen die Wahrheit über die sowjetischen Deutschen erfahren.
Was das Territorium betriff, so hat [der damaliger Regierungschef Wladimir] Lenin bei der Unterzeichnung des [Gründungs]Dekrets im Jahr 1918 berücksichtigt, dass dort bereits Generationen von Deutschen lebten, diese Ländereien urbar machten und an den Kriegen zur Verteidigung Russlands teilnahmen. Das Land wurde im Rahmen eines Staatsaktes [seit 1935] an die Deutschen überreicht. Und jetzt sagt man uns, dass wir kein Siedlungsgebiet haben. Ich möchte an die Worte Lenins erinnern, der sagte: "Wer die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und nicht verteidigt, wer nicht jede nationale Unterdrückung oder Rechtsungleichheit bekämpft, der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat." Diese goldenen Worte richten sich direkt gegen diejenigen, die behaupten, die Sowjetdeutschen hätten kein [eigenes] Territorium.
Wormsbecher: Vor dem Krieg gehörte die Republik der Wolgadeutschen zu den in wirtschaftlicher wie in kultureller Hinsicht führenden Republiken. Was haben wir aber heute? Wir haben nur zwei Zeitungen und es gibt keine einzige deutsche Schule [d.h. Schule mit Deutsch als Unterrichtsprache]. Eine solche Situation gab es für uns nicht einmal im zaristischen Russland. Alle Völker der UdSSR haben ihre Eigenstaatlichkeit, nur die Sowjetdeutschen nicht. Es erhebt sich die berechtigte Frage: Sind wir ein sowjetisches Volk? Wir sind Sowjetmenschen und möchten nicht, dass man uns mit Westdeutschen in Verbindung bringt. […]
Dotz: Ich bin einer der Mitbegründer der Republik der Wolgadeutschen [faktisch des autonomen Gebiets, das erst 1924 in eine autonome Republik umgewandelt wurde]. Wir haben sie [die Autonomie] unter schwierigen Bedingungen gebildet. Sie wissen doch wie die Lage damals war. Es war sehr schwierig mit den Lebensmitteln, die Versorgungsfrage rückte in den Vordergrund. Und wir haben viel mit Brot geholfen [d.h. Getreide und andere Lebensmittel nach Moskau geliefert]. Wir haben alle Befehle betreffend Lebensmittel ausgeführt, vorzeitig ausgeführt. […]
Welz: Ich liebe Russland! Hört mich, deutsche Brüder! Und ob ich tausendmal ein Deutscher bin, geb ich mein Herz, mein Werk und meine Lieder den letzten Atemzug für Russland hin!
Das ist die Lobpreisung des Sowjetlandes, die ich geschrieben habe, das sind Gefühle unseres ganzen Volkes und nicht nur meine Gefühle.
Wir haben 200 Jahre auf unserem Territorium gelebt. Wir wiesen alle Merkmale einer Nation auf. Aber wir mussten dieses Territorium verlassen. Unsere Republik wurde liquidiert. Von den 48 Jahren der Sowjetmacht leben die Deutschen 24 Jahre lang in einem ungleichberechtigten Zustand. Wir hatten 11 Deputierte im Nationalitätensowjet und drei Deputierte im Unionssowjet. Wir hatten fünf Hochschulen, 400 Mittel- und Grundschulen, ein Nationaltheater, einen Verlag, fünf Republik- und etwa 20 Rayon(Kanton)zeitungen und -zeitschriften, aber heute haben wir nicht einmal eine einzige Schule.
Mikojan: Es gibt keine [deutschen] Schulen?
Welz: Keine einzige. In all den Jahren konnten wir die Herausgabe nur eines einzigen Büchleins in deutscher Sprache erwirken. Wir haben eine Zeitung in Moskau ["Neues Leben"], aber dort arbeiten keine Deutsche, man traut ihnen nicht. […]
Chromowa: Verehrter Anastas Iwanowitsch! Ich bin eine Mutter, ich habe Kinder und behandle sie gleich. Die Partei und unsere Regierung sind unsere Mutter und Vater. Sie haben nicht das Recht, ihre Kinder unterschiedlich zu behandeln. Aber sie behandeln uns wie Stiefkinder. Wir gehören zu ihnen, und wir sind gekommen um sie daran zu erinnern [i.S. Mikojan und andere anwesende Offizielle als Vertreter der Partei und Regierung], dass wir nicht weiterhin als ungleichberechtigte Bürger leben können. […]
Unsere interne Frage müsste längst gelöst werden. In keinem Fall sollte sie mit einem externen internationalen Problem verwechselt werden. […] Wir fordern die Wiederherstellung der Republik der Sowjetdeutschen an der Wolga, die vom großen Lenin geschaffen wurde. Auf unserer Seite stehen die Verfassung, das Programm der Partei und die Leninschen Prinzipien der nationalen Gleichberechtigung. Niemand hat das Recht, sie zu missachten. Wodurch sind wir schlechter als alle anderen hier sitzenden? Wodurch? Warum beleidigt man uns fortlaufend, warum sind noch immer alle Punkte der Erlasse [der Jahre 1941, 1948 und 1955] in Kraft, die uns bestrafen, obwohl wir uns nichts zu Schulden haben kommen lassen?
Mikojan: Sie werden beleidigt? Nennen Sie einige typische Beispiele. […]
Warkentin: Bitte schön. Alma-Ata, Oktober 1964. Ein junger Mann legt Aufnahmeprüfungen für eine Aspirantur ab. Das Prüfungsgremium besteht aus vier Professoren. Es hagelt Fragen: "Sind Sie ein Deutscher? War Ihr Vater ein Faschist? Bekommt er Pakete aus Deutschland?" Einer der Kommissionsmitglieder versucht auf die Kollegen einzureden, solche Fragen nicht zu stellen, aber ohne viel Erfolg.
Ein anderes Beispiel aus der Stadt Osch, Kirgisien. Als Reaktion auf die Bitte einiger deutscher Genossen, das 200. Jubiläum des Lebens unserer Deutschen in Russland in dieser oder jener Form im Juli 1964 zu gedenken, wurden sie seitens des Parteikomitees der Stadt des Chauvinismus beschuldigt und mit der Entlassung von der Arbeitsstelle gedroht.
Dezember 1964, Frunse. Ähnliche Drohungen gegen [Therese] Chromowa und einige andere Genossen, die sich [als Teilnehmer] unserer ersten Delegation auf die Reise nach Moskau vorbereitet haben. Aus dem gleichen Anlass werden ernsthafte Ermahnungen in Alma-Ata [gegen die dortigen Delegierten] ausgesprochen. […] April 1965, Rayon Kant, Kirgisien. Der Lehrerin Hahn wurde die Mappe mit Lenins Dekret über die Gründung der ASSRdWD und mit anderen offiziellen Dokumenten beschlagnahmt und ihr mit der Entlassung gedroht. Juni 1965, Frunse. Lehrer Hertel wurde wegen der Teilnahme an der ersten Delegation und der Vorbereitung der zweiten entlassen. Juni 1965, Karaganda. Dem Bergmann Hannstein drohte die Arbeitsentlassung nach der Rückkehr aus Moskau, wo er an der zweiten Delegation teilnahm. […]
Mikojan: Ich glaube, das Gesagte genügt. Die Sowjetdeutschen zeigten im Krieg, nach dem Krieg und heute auch eine gute Führung. Sie arbeiten gut. Heute ist es unmöglich, in der Neuland-Region ohne die Deutschen zu wirtschaften. Sie haben einen Deputierten im Obersten Sowjet – Becker. Deren Zahl wird sich jetzt erhöhen. […] Es besteht eine volle Rehabilitierung der Deutschen. Sie stellen die Frage einer Wiedererrichtung der Republik. Wir sehen ein, dass dies die beste Lösung des Problems wäre. Doch das ist unmöglich. Man müsste eine halbe Million Menschen nehmen und sie umsiedeln. Man kann nicht so kalkulieren, als könnten die Deutschen ohne eine Republik nicht leben, wo doch vor dem Krieg zwei Drittel der Deutschen außerhalb der Grenzen der Republik lebten. Wir können heute die Republik nicht wieder neu errichten. Das ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Nicht alles kann korrigiert werden, was in der Geschichte begangen wurde. […]. Niemand wirft sie mit den Westdeutschen in einen Topf, sie sind Sowjetbürger und haben ein Recht auf Schulen und Zeitungen. […] In der gegebenen Situation können wir nicht zu einer Neubildung der Republik schreiten, weil dies ungeheure wirtschaftliche Ausgaben verursachen würde, doch Ihren kulturellen Forderungen kommen wir entgegen. Was die einzelnen Ungesetzlichkeiten betrifft, so gibt es im Apparat Leute, die falsch handeln. Wenn Sie Tatsachen über ein schlechtes Verhalten Ihnen gegenüber haben, dann können Sie dem Betreffenden ausrichten, dass hier ein Genosse sitzt. Wir werden uns einschalten. Wir glauben, Sie werden uns bei diesen kulturellen Maßnahmen helfen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Auf Wiedersehen.
Anm. [im Original]: Der Empfang begann um 14:35 Uhr und dauerte 1 Stunde und 40 Minuten.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.