Eine der größten Massenübersiedlungen stellte die Übersiedlung von Deutschen aus dem vom Siebenjährigen Krieg zerrütteten Deutschland nach Russland zwischen 1764 und 1772 dar, [ausgelöst] durch das 1763 veröffentlichte Manifest von Katharina II. In die Wolga-Region zogen rund 8.000 deutsche Familien aus Deutschland hin, insgesamt etwa 27.000 Personen, die dort 106 Kolonien gründeten.
Die zweite Welle der deutschen Einwanderer kam nach Russland während der Napoleonischen Kriege an und ließ sich in der Südukraine und im Kaukasus nieder.
Die Geschichte der Deutschen an der Wolga und in einer Reihe von anderen einstigen deutschen Siedlungsgebieten zeugt von schweren wirtschaftlichen Problemen, die sie in den unbewohnten Weiten der uralten Neulandgebiete überwinden mussten. Besonders schwierige Zeiten stellten die ersten zehn Jahre dar, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung ausstarb. Das raue Klima, komplettes Unkenntnis der örtlichen Besonderheiten der Führung der Landwirtschaft, eine Reihe von regen- und erntelosen Jahren, Mangel an materiellen Ressourcen, schlechte Organisation der Regierungsbeihilfen und die Beamtenwillkür auf allen Machtebenen bestimmten die Rahmenbedingungen, unter denen sich die deutschen Kolonisten in ihrer neuen Heimat niederließen. Aber die erhalten gebliebenen literarischen Denkmäler liefern unzweifelhafte Beweise, dass unter den Menschen sogar in diesen früheren Jahren ein starkes Bewusstsein einer unzertrennbaren Verbindung mit dem Schicksal Russlands entstand. Besonders bezeichnend sind in dieser Hinsicht antinapoleonische Lieder.
Bei ihrer Ansiedlung bekamen die Deutschen an der Wolga eine Art Selbstverwaltung: die Wahl der dörflichen Amtspersonen aus der Mitte der Siedler, die deutsche Sprache in Amtsgeschäften, die Organisation der deutschen Schulen, Lehrerseminare, des deutschen Verlagswesens usw.
Erst in den 70er Jahren des letzten [19.] Jahrhunderts wurde die deutschsprachige Verwaltung ausgesetzt, aber alle anderen Privilegien verblieben unter der Kontrolle des sogenannten Fürsorgekontors beim Saratower Gouvernementsamt bis 1918. Ebenso war es der Stand der Dinge in den deutschen Siedlungen in der Ukraine, in der Krim und im Kaukasus.
Der kaiserliche Erlass vom 13. Dezember 1915 sah für den April 1917 eine Liquidation der deutschen Kolonien und Zwangsumsiedlung nach Sibirien vor. Erst der Sturz der Autokratie [im Februar 1917] verhinderte die Durchführung dieses Dekrets, und die siegreiche Vollendung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution beseitigte endgültig diese Frage damals von der Tagesordnung.
2. Einer der ersten sowjetischen Rechtsakte im Bereich der Nationalitätenpolitik nach dem Sieg der Großen Oktoberrevolution betraf die Errichtung der "Arbeitskommune der Wolgadeutschen" [Dekret vom 19. Oktober 1918] in dem Gebiet der kompakten Siedlungsweise der Deutschen an der Wolga. Später [1924] wurde die "Kommune" in die ASSRdWD umgewandelt. Im Jahr 1918 kam es zur Bildung einer ganzen Reihe von nationalen Rayons in der Ukraine, im Kaukasus und wenig später im Altai.
Durch diesen Regierungserlass wurden die deutschen Kolonisten nicht nur als Bürger der Sowjetunion anerkannt und als gleichberechtigte Mitglieder in die einheitliche Familie der sowjetischen Völker aufgenommen, sondern man hat ihnen für weitere Entwicklung als eine sozialistische Nation alle Möglichkeiten gegeben. Die Existenz der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, ihre beachtlichen Erfolge im sozialistischen Aufbau besaß eine enorme politisch-moralische und kulturelle Bedeutung für alle Sowjetdeutschen, unabhängig von ihrem Wohnort. Sie arbeiten ehrlich für das Wohl der Heimat, erfüllen ehrlich ihre bürgerlichen Pflichten, einschließlich der Wehrpflicht, der Verteidigung des Vaterlandes.
"Bereits während des Bürgerkrieges organisierten die deutsche Dorfarmut [arme Bauern und Tagelöhner] Partisanenabteilungen und gaben im Kampf um die Sowjetmacht viele Beispiele von Mut und Heldentum. Deutschen Arbeiter und Dorfarmut kämpften an allen Fronten des Bürgerkrieges für eine sozialistische Republik. Das erste Katharinenstädter deutsche kommunistische Regiment kämpfte gegen die reichsdeutschen Besatzer in der Ukraine. Das zweite Balzerer deutsche Regiment kämpfte gegen Wrangel und Denikin. Das erste deutsche Kavallerieregiment kämpfte in der Ersten Reiterarmee von Budjonny gegen Wrangel, Machno und die Polen." (BSE, 1939).
Wir wollen erinnern, dass die ASSRdWD als älteste autonome Republik im Bestand der UdSSR in ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung eine Musterrepublik war. Die Sowjetdeutschen entwickelten ihre Kultur, national in der Form und sozialistisch im Inhalt, als eine gleichberechtigte Nation und hatten alle Möglichkeiten für eine erfolgreiche, ebenbürtige Entwicklung mit allen Völkern der Sowjetunion und nahmen gemäß ihren Kräften am Aufbau des Sozialismus in unserem Land teil.
"Unter der Sowjetmacht erhielt die Wolgadeutsche Autonome Sozialistische Sowjetrepublik durch die konsequente Umsetzung der Leninschen [im Lexikon von 1939 steht: Leninschen–Stalinschen] Nationalpolitik die Möglichkeit einer allseitigen Entwicklung der Produktivkräfte und wurde am Ende des zweiten Fünfjahresplans zu einem fortschrittlichen und hochentwickelten landwirtschaftlichen Gebiet mit einer sich rasch entwickelnden Industrie."
"In Bezug auf die Intensität der Einführung der neuen Agrartechnik nimmt die Republik einen der ersten Plätze in der Sowjetunion ein."
Die Autonome Republik der Wolgadeutschen war gleichzeitig eine der ersten Republiken der vollständigen Alphabetisierung. In der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik gab es 171 nationale Mittelschulen, 11 Technika [i.S. von Fachhochschulen oder Fach(ober)schulen bzw. Ingenieurschulen], 3 Arbeiterfakultäten, 5 Hochschulen. Hinzu kamen 172 Klubs in den Kolchosen, 20 Kulturhäuser, das Deutsche Nationaltheater und das Kindertheater. 21 Zeitungen erschienen in deutscher Sprache. In drei Jahren (1933 - 1935) gab der Deutsche Verlag 555 Titel deutscher [i.S. deutschsprachiger] Bücher heraus. In den Jahren des Bestehens der Republik wurden eigene technische, kulturelle und wissenschaftliche nationale Kader ausgebildet. Im Ergebnis der konsequenten Durchführung der Leninschen Nationalitätenpolitik verwandelte sich die Republik in eine Region der blühenden sozialistischen Kultur. Dasselbe konnte über deutsche Nationalrayons und Gegenden gesagt werden, in denen eine bedeutende Anzahl von Deutschen lebte. Der Einfluss der Religion auf die Menschen war marginal. Die Bevölkerung wurde im Geiste des sowjetischen Patriotismus und des proletarischen Internationalismus erzogen. Ein unbestreitbarer Beweis dafür sind die Heldentaten der Sowjetdeutschen im feindlichen Hinterland, in der aktiven Armee und an der Arbeitsfront während des Großen Vaterländischen Krieges.
Nicht lange dauerte diese Periode der Entwicklung und des Aufblühens der sowjetdeutschen Wirtschaft und Kultur. Schon vor dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges gegen Hitlersche Besatzer, in den Jahren des Personenkults um Stalin mit seinen für das ganze Land entsetzlichen Deformationen waren überall, außer der ASSRdWD, deutsche [i.S. deutschsprachige] Schulen geschlossen und alle deutschen Rayons liquidiert. Führungskader der Partei-, Sowjet- und Komsomolorganisationen, Leiter von Kolchosen und MTS sowie Zehntausende einfache deutsche Werktätige wurden als Feinde des Volkes verhaftet.
Aber all diese Repressionen gegen die Sowjetdeutschen waren nur der Auftakt zu der Tragödie, die für die sowjet-deutsche Bevölkerung in den ersten Tagen des Krieges begann. Anstatt der kampfbereiten und arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung die Verteidigung ihres Vaterlandes gegen die eingedrungenen faschistischen Horden mit Waffen in der Hand anzuvertrauen, wurde sie in die so genannte Arbeitsarmee geschickt, in der sie nicht wie Arbeitsarmisten, sondern wie Häftlinge behandelt wurden. […]
Der Erlass vom 28. August 1941, der die Wolgadeutschen der Spionage und Sabotage beschuldigte, zerstörte gewaltsam die ASSRdWD als letztes und wichtigstes Territorialeinheit der nationalen Staatlichkeit der Sowjetdeutschen und unterbrach für viele Jahre die Entwicklung der sowjetdeutschen Kultur in unserem Land.
3. Nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges verbesserte sich die Situation der Sowjetdeutschen nicht im Geringsten, obwohl sie den Sieg über den Hitlerschen Faschismus durch ihre aufopfernde Arbeit mitgeschmiedet haben. Sogar jeglicher Anschein der Notwendigkeit einer beschämenden Kommandanturaufsicht ist verschwunden, aber unsere Deutschen mussten sich monatlich zur Kontrolle melden. Ihnen war es strengstens verboten, die Stadtgrenzen zu verlassen, sich außerhalb der Dorfgemarkung zu begeben, ihnen hafteten dauerhaft all die abwertenden Spitznamen an, womit das Volk den Feind zu Kriegszeiten titulierte.
Unter solchen Umständen konnte von einer wirksamen erzieherischen Arbeit weder in der Mutter- noch in der russischen Sprache die Rede sein. Das System der groben, formalbürokratischen Administrierung [i.S. schrankenloser Verfügungsgewalt], das bei vielen Vorgesetzten und Leitungskräften oft eklatante Willkürhandlungen und Straflosigkeit hervorbrachte, ließ bei vielen Menschen sklavisches Gehorsam, das Gefühl der sozialen Minderwertigkeit und der Hoffnungslosigkeit entstehen und trieb sie in den Strudel des religiösen Obskurantismus. Solch ein Prozess der moralischen Verkümmerung wurde durch die Tatsache erleichtert, dass ein größerer Teil der ganzen Generation der Sowjetdeutschen nur die Grundschule besuchte und als Halbanalphabeten aufwuchs.
Ende 1955 wurde die erniedrigende Kommandantur endgültig abgeschafft, aber das Verbot der Rückkehr in die Heimatorte blieb bestehen. Und wenn der 20. Parteitag [der KPdSU] und die darauffolgenden Staatsakten die historische Ungerechtigkeit in Bezug auf die Kalmücken und eine Reihe der kaukasischen Völker mit einer Gesamtzahl von weniger als 800 Tausend Menschen beseitigt haben, so wurde dagegen um das sowjet-deutsche Volk mit einer mehr als einer anderthalb Millionen Menschen ein als kränkend empfundenes Schweigen verhängt. Aus irgendeinem Grund bezogen sich die Worte, die der Genosse Gorkin auf der Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR sagte, nicht auf das sowjetisch-deutsche Volk:
Dem Beschluss des 20. Parteitag folgend, der mit Nachdruck betonte, dass die Gleichheit und Freundschaft zwischen den Völkern die unverrückbare Grundlage der Machtstellung und unbesiegbaren Stärke der sowjetischen Staatsordnung bilden, haben das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und die Regierung der UdSSR Maßnahmen zur Rehabilitierung der ausgesiedelten Völker und zur Beseitigung der ihnen widerfahrenden Ungerechtigkeit ergriffen.
Bei der Erörterung der Lage des balkarischen, tschetschenischen, inguschischen, kalmückischen und karatschaischen Volkes hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ihre berechtigten Wünsche und Anliegen berücksichtigt und beschlossen, die diesen Völkern widerfahrene Ungerechtigkeit vollständig zu beseitigen und ihre nationalen Autonomie wiederherzustellen. Somit werden unerlässliche Bedingungen für umfassende wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dieser Nationalitäten geschafft. Das Präsidium hob geltende Verbote ab, die den Bürgern dieser Nationalitäten nicht erlaubten, in ihre alten Siedlungsorte zurückzukehren ("Prawda" vom 12. Februar 1957).
In diesen Jahren haben wir zwei kleinformatige deutsche Zeitungen bekommen, ein Gesetz wurde erlassen über den Unterricht von Deutsch als Muttersprache, beginnend ab der zweiten Klasse, es sind erste Laienkunstzirkel entstanden und hin und wieder kam es zu Vorträgen auf Deutsch. Aber erstens sind diese kulturellen Maßnahmen unbedeutend, und zweitens fanden sie und finden bis heute unter solchen Bedingungen statt, bei denen die vernünftige Kontrolle über die Qualität des Repertoires, der Thematik usw. durch kleinliche Bevormundung, beleidigende Mäkelei, pingelige Prozentberechnung der russisch- und deutschsprachigen Darbietungen etc. ersetzt wird.
[…]
Bei all dem wirkt sich zweifellos die Atmosphäre des allgemeinen Misstrauens gegenüber unseren Deutschen aus, die im Laufe von 20 Jahren sowohl durch die Belletristik als auch im Rahmen von Schulunterricht befördert wurde. Hingewiesen sei etwa auf folgende Aussage:
Die Wolgadeutschen "… verwandelten sich bald in den wohlhabendsten und reaktionärsten Teil der Landbevölkerung, der sich verächtlich und feindselig gegenüber den russischen Bewohnern verhielte ("Geschichte der UdSSR", Lehrbuch der 9. Klasse der Mittelschule, hrsg. unter der Leitung von Prof. A.M. Pankratowa, 1963, 23. Auflage).
[…]
Die tatsächliche Lage der Sowjetdeutschen ist auch dadurch gekennzeichnet, dass sie im Nationalitätenrat nicht ihre Vertreter haben, dass die Zahl der Deutschen in leitenden Positionen im Sowjet- und Parteiapparat (in der Regel nicht höher als auf der Rayonsebene) unverhältnismäßig klein ist, dass das Leben und Arbeit der Sowjetdeutschen auf den Seiten der russischen Unions- und Republikpresse kaum Beachtung findet, dass es in den letzten 23 Jahren nur ein einziges Bändchen von Gedichten und Erzählungen sowjetisch-deutscher Schriftsteller gab. Der Begriff sowjetdeutsches Volk [Unterstreichung in der Originalfassung] ist aus unserem offiziellen Gebrauch vollständig verschwunden.
Nach der Verabschiedung des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 hat sich daran praktisch nichts geändert, wovon wir über zahlreiche Beispiele und Tatsachen verfügen. Nach wie vor bedrückt die Sowjetdeutschen das Erbe zweier Weltkriege, von dem deutschen Militarismus entfesselt, nach wie vor sind sie noch ohne Schuld schuldig, und das Dekret vom 29. August 1964 ist nicht in der Lage, die Situation grundsätzlich zu ändern.
Darüber hinaus bei der aktuellen Zerstreuung unserer deutschen Bevölkerung und der fortgesetzten Migration seines beträchtlichen Teiles würde sogar die wohlwollendste Haltung und aktive Unterstützung der lokalen Behörden keine Bildung von deutschen Schulen, Folkloreensembles und Theatern, keine Ausbildung der entsprechenden Kader gewährleisten, würden die Erhaltung und Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur der Sowjetdeutschen nicht garantieren. Für die ganze Sache der Volksbildung der Sowjetdeutschen in ihrer Muttersprache, für die Verwendung dieser Sprache als ein mächtiges Werkzeug zur Erziehung der Menschen im Geiste des Kommunismus, existiert auch nach der Verabschiedung des Erlasses über die Rehabilitierung [29. August 1964] keine materielle Basis, und seitens der lokalen Behörden zeigt sich daran kein Interesse.
All dies berührt schmerzhaft die nationalen Gefühle der Sowjetdeutschen, verursacht berechtigte Unzufriedenheit mit der bestehenden Situation. Der Wunsch, eigene Kultur und Sprache zu bewahren und zu entwickeln, ist für jeden Sowjetdeutschen genauso natürlich wie beim Vertreter jeder anderen Nationalität aus der großen Familie sowjetischer Völker. Das ist nicht nur für unsere deutsche Intelligenz [wichtig], wie es manchmal einige Genossen darzustellen pflegen.
[…]
Die vernünftigste, praktisch die einzige Lösung aller dringlichen Probleme soll die Wiederherstellung der nationalen Staatlichkeit des sowjetisch-deutschen Volkes sein. Die durch diese Wiedererrichtung entstandenen wirtschaftlichen Kosten werden keine übermäßige Belastung für den Gesamthaushalt der Union darstellen, denn die Wiederherstellung einer autonomen Republik wird allmählich, in Etappen, stattfinden und nur ein Teil von denen, die dies sich so sehnsüchtig wünschen, wird sich dort niederlassen. Dagegen wird der gewaltige politische Aufschwung neben dem Schaffensdrang, mit dem alle unseren Deutschen auf die Wiederherstellung ihrer Autonomie antworten werden, den materiellen Aufwand doppelt und dreifach begleichen. Die Wiederbelebung der ASSR der Sowjetdeutschen wird eine große innen- und außenpolitische Bedeutung haben, denn sie wird dem Buchstaben und dem Geist des Programms der KPdSU und den Erfordernissen und Bestimmungen der Leninschen Nationalitätenpolitik voll und ganz entsprechen.
Moskau, den 9. Januar 1965