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B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung | Russlanddeutsche | bpb.de

Russlanddeutsche Geschichte Von der Anwerbung unter Katharina II. bis 1917 Nationalitätenpolitik gegenüber der deutschen Minderheit in der Sowjetunion von 1917 bis zur Perestrojka Die "Deutsche Operation" Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger Ankunft in Friedland Vor 100 Jahren: Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen Leben und Kultur der Deutschen im Ural und Sibirien nach der Deportation Leben und Kultur der Deutschen in der Kasachischen SSR nach der Deportation Kultur und Gesellschaft Spätaussiedler, Heimkehrer, Vertriebene Identität und Ethnizität Russlanddeutsche Migrationsgeschichte in kulturhistorischer Perspektive Russlanddeutsche in den bundesdeutschen Medien Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler in russischen Medien Russlanddeutsche Literatur Postsowjetische Migranten in Sozialen Netzwerken Russlanddeutsche Alltagsgeschichte Der "Fall Lisa" Russlanddeutscher Samisdat Abschnitt I: Einführung A. Deutsche Dissidenten, Oppositionelle und Nonkonformisten im sowjetischen Unrechtsstaat (1950er–1980er Jahre) B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung C. Anmerkungen zu den Quellen Abschnitt II: Quellenteil Teil 1: Der Kampf um die Autonomie und für nationale und bürgerliche Gleichberechtigung Teil 2: Intellektueller Samisdat Teil 3: Kampf um die Ausreise aus der UdSSR nach Deutschland (BRD und DDR) Teil 4: Künstlerische und volkskundliche unzensierte Werke Abschnitt III: Lebensläufe einiger nonkonformer Aktivisten und Dissidenten Erich (Erhard) Abel Therese Chromowa Eduard Deibert Wjatscheslaw Maier Andreas (Andrej) Maser Ludmilla Oldenburger Friedrich Ruppel Friedrich Schössler Konstantin Wuckert Abkürzungsverzeichnis Redaktion

B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung

Viktor Krieger

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Samisdat (auch Samizdat geschrieben, vom Russischen sam isdatelj – Selbstverleger) ist Ausdruck politischer und kultureller Opposition und gleichzeitig des Willens, unzensierte, freie, eigene Gedanken oder künstlerische Werke einem möglichst breiten Leser- und Zuschauerkreis bekannt zu machen.

Die Deutschen in der UdSSR haben eine beachtliche Zahl an unzensierten Schriften im Zuge der Autonomie-, Ausreise- und Religionsbewegung produziert. Das war umso bemerkenswerter, weil im Vergleich zu den anderen etablierten Nationalitäten die Deutschen sich in einer ungleich schwierigeren Situation befanden: die nach 1941 eingesetzte deutschfeindliche Politik des Sowjetstaates vernichtete historisch gewachsene wirtschaftliche, sprachliche und soziokulturelle Räume an der Wolga, auf der Krim, in der Ukraine, im Nord- und Transkaukasus, liquidierte alle national-kulturellen und Bildungsinstitutionen. Der genossenschaftliche und private Besitz der Deutschen wurde restlos konfisziert, Objekte materieller und geistiger Kultur zerstört oder zweckentfremdet, deutschsprachige Bücher und Zeitungen aus privaten und öffentlichen Bibliotheken fast komplett vernichtet, muttersprachlicher Schulunterricht verboten.

Die Realität, in der sich die deutsche Minderheit nach Deportation und Zwangsarbeit im Lager befand, ließ wenig Hoffnung auf die Entfaltung intellektueller Geistesarbeit und Vernetzung aufkommen: über ein riesengroßes Territorium von Millionen Quadratkilometern in Zentralasien, im Ural und Sibirien absichtlich verstreut, unter Sonderkommandantur gestellt, jahrelang ohne vermisste oder zwangsmobilisierte Angehörige ausharrend, antideutschen Ressentiments der Bevölkerung und der Behörden ausgesetzt, führten die zumeist kinderreichen Familien den täglichen Daseinskampf um das nackte Überleben. Viele Erwachsene konnten sehr schlecht Russisch, was ihr Leben zusätzlich erschwerte. Gleichzeitig wuchs die neue Generation in einer russischen, sprach- und kulturdominanten Umgebung auf, was unweigerlich zum Verlust des Nationalidioms führte.

Unter diesen Umständen gab es kaum einen künstlerischen oder literarischen Samisdat, keine ausschließlich auf allgemeine Menschenrechte konzentrierte Vorkämpfer, im Gegensatz etwa zu den jüdischen, russischen, litauischen oder ukrainischen Aktivisten, die aus dem Umfeld einer zahlenmäßig starken Intellektuellenschicht bzw. aus den Reihen einer etablierten Nation im Rahmen einer Unionsrepublik stammten. Die Teilnahme der wenigen deutschen Intellektuellen an der Autonomie- und Ausreisebewegung konnte daher nicht zum Massenphänomen anwachsen; einige bemerkenswerte Aktivitäten lassen sich erst später, vornehmlich in den 1980er Jahren beobachten (Nowosibirsker Akademiestädtchen, Deutsches Dramatheater).

Zu dem Samisdat könnte im weitesten Sinne sogar die Aufbewahrung, Verbreitung und Vervielfältigung von offiziellen sowjetischen Publikationen gezählt werden, die seit 1941 als unerwünscht galten und schwer zugänglich waren. Dazu zählten etwa der Lexikonartikel über die ASSR der Wolgadeutschen aus der ersten Auflage der Großen Sowjetischen Enzyklopädie oder der Beitrag von F. Pudalow aus dem Jahr 1938. Viele Aktivisten der Autonomie- und Ausreisebewegung verfügten über maschinen- oder handschriftliche Kopien der beiden Artikel.

Die präsentierte Auswahl verfolgt vorrangig das Ziel, zum einen das wenig bekannte Kapitel der Entstehung und Entfaltung der nationalen Autonomiebewegung seit Beginn der 1960er Jahre in authentischen Selbstzeugnissen zu beleuchten. Nicht minder wichtig, insbesondere für das nationale Selbstverständnis der Minderheit, ist ein weiteres Anliegen: Die Dokumentation der wachsenden Resignation und Enttäuschung wegen der verweigerten Gleichstellung mit anderen Völkern der UdSSR, den Verlauf des erzwungenen Identitätswandels von Anhängern der Autonomiebestrebungen zu Verfechtern der Übersiedlung in die historische Heimat, nach Deutschland.

Der religiöse Samisdat der Russlanddeutschen ist an sich selbst so vielfältig und umfangreich, dass er beim begrenzten Umfang dieser Sammlung nicht berücksichtigt werden konnte. Dieses Thema verdient eine gesonderte Betrachtung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine anschauliche Vorstellung des Samisdat bietet der Katalog einer Ausstellung zu diesem Phänomen in osteuropäischen Ländern: Samizdat: alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre. Hrsg. von Ivo Bock. Berlin 2000 [dieser Katalog erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung; ein Projekt der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen vom 10. September bis 29. Oktober 2000 in der Akademie der Künste in Berlin].

  2. Nemcev Povolž’ja Avtonomnaja Sovetskaja Socialističeskaja Respublika (N.P. ASSR) [Wolgadeutsche ASSR], in: Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedija (BSE), 1. izd., Tom 41. Moskva 1939, Sp. [Spalte] 593–604, siehe Lexikonbeitrag (russisch) als Interner Link: PDF-Datei. Zusätzlich existiert auch eine Online-Fassung: Externer Link: http://wolgadeutsche.net/history/BSE41.htm

  3. F. Pudalov: Nemcy Povolž’ja [Wolgadeutsche], in: Naša strana 3/1938, S. 8–13. Dieser Aufsatz wurde in der Samisdat-Schrift "Re Patria", 1974 nachgedrückt, siehe auch Interner Link: Dok. 1.11: Re Patria Nr. 1. Sbornik materalov, posvjaščennych nemcam Sovetskogo Sojuza [Materialsammlung zu den Deutschen in der Sowjetunion] (Vol’noe slovo. Samizdat. Izbrannoe. Vypusk 16). Frankfurt/M: Posev 1975, S. 20–29, online unter: Externer Link: http://vtoraya-literatura.com/pdf/volnoe_slovo_16_1975__ocr.pdf

  4. Als Beispiel dient eine Zusammenfassung des Lexikonartikels über die ASSRdWD, die sich im konfiszierten Notizblock von Arnold Winschu befand, siehe mehr zu dieser politischen Strafsache im Interner Link: Dok. 3.3: Gosudarstvennyj archiv Karagandinskoj oblasti (GAKO – Staatsarchiv des Gebiets Karaganda), f. [fond, d.h. Bestand] 731, op. [opis‘, d.h. Verzeichnis] 3, d. [delo, d.h. Akte] 5071, t. [tom, d.h. Band], ll. [listy, d.h. Blätter] 11–18. Es folgen zwei ersten Seiten (russisch) als Interner Link: PDF-Datei.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Viktor Krieger für bpb.de

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Dr. Viktor Krieger wurde 1959 im Gebiet Dschambul, Kasachstan, geboren. Er studierte in Nowosibirsk und promovierte über deutsche Siedler in Kasachstan zur Zarenzeit an der Akademie der Wissenschaften in Alma- Ata. 1991 siedelte er nach Deutschland über. 1992-93 war er im Generallandesarchiv Karlsruhe beschäftigt. Zurzeit freiberuflicher Historiker und Lehrbeauftragter des Historischen Seminars an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen im Kontext der multikulturellen und -konfessionellen Vielvölkerstaaten Russland und die Sowjetunion, insbesondere in Zentralasien seit Ende des 19. Jh. bis heute.