Samisdat (auch Samizdat geschrieben, vom Russischen sam isdatelj – Selbstverleger) ist Ausdruck politischer und kultureller Opposition und gleichzeitig des Willens, unzensierte, freie, eigene Gedanken oder künstlerische Werke einem möglichst breiten Leser- und Zuschauerkreis bekannt zu machen.
Die Deutschen in der UdSSR haben eine beachtliche Zahl an unzensierten Schriften im Zuge der Autonomie-, Ausreise- und Religionsbewegung produziert. Das war umso bemerkenswerter, weil im Vergleich zu den anderen etablierten Nationalitäten die Deutschen sich in einer ungleich schwierigeren Situation befanden: die nach 1941 eingesetzte deutschfeindliche Politik des Sowjetstaates vernichtete historisch gewachsene wirtschaftliche, sprachliche und soziokulturelle Räume an der Wolga, auf der Krim, in der Ukraine, im Nord- und Transkaukasus, liquidierte alle national-kulturellen und Bildungsinstitutionen. Der genossenschaftliche und private Besitz der Deutschen wurde restlos konfisziert, Objekte materieller und geistiger Kultur zerstört oder zweckentfremdet, deutschsprachige Bücher und Zeitungen aus privaten und öffentlichen Bibliotheken fast komplett vernichtet, muttersprachlicher Schulunterricht verboten.
Die Realität, in der sich die deutsche Minderheit nach Deportation und Zwangsarbeit im Lager befand, ließ wenig Hoffnung auf die Entfaltung intellektueller Geistesarbeit und Vernetzung aufkommen: über ein riesengroßes Territorium von Millionen Quadratkilometern in Zentralasien, im Ural und Sibirien absichtlich verstreut, unter Sonderkommandantur gestellt, jahrelang ohne vermisste oder zwangsmobilisierte Angehörige ausharrend, antideutschen Ressentiments der Bevölkerung und der Behörden ausgesetzt, führten die zumeist kinderreichen Familien den täglichen Daseinskampf um das nackte Überleben. Viele Erwachsene konnten sehr schlecht Russisch, was ihr Leben zusätzlich erschwerte. Gleichzeitig wuchs die neue Generation in einer russischen, sprach- und kulturdominanten Umgebung auf, was unweigerlich zum Verlust des Nationalidioms führte.
Unter diesen Umständen gab es kaum einen künstlerischen oder literarischen Samisdat, keine ausschließlich auf allgemeine Menschenrechte konzentrierte Vorkämpfer, im Gegensatz etwa zu den jüdischen, russischen, litauischen oder ukrainischen Aktivisten, die aus dem Umfeld einer zahlenmäßig starken Intellektuellenschicht bzw. aus den Reihen einer etablierten Nation im Rahmen einer Unionsrepublik stammten. Die Teilnahme der wenigen deutschen Intellektuellen an der Autonomie- und Ausreisebewegung konnte daher nicht zum Massenphänomen anwachsen; einige bemerkenswerte Aktivitäten lassen sich erst später, vornehmlich in den 1980er Jahren beobachten (Nowosibirsker Akademiestädtchen, Deutsches Dramatheater).
Zu dem Samisdat könnte im weitesten Sinne sogar die Aufbewahrung, Verbreitung und Vervielfältigung von offiziellen sowjetischen Publikationen gezählt werden, die seit 1941 als unerwünscht galten und schwer zugänglich waren. Dazu zählten etwa der Lexikonartikel über die ASSR der Wolgadeutschen aus der ersten Auflage der Großen Sowjetischen Enzyklopädie
Die präsentierte Auswahl verfolgt vorrangig das Ziel, zum einen das wenig bekannte Kapitel der Entstehung und Entfaltung der nationalen Autonomiebewegung seit Beginn der 1960er Jahre in authentischen Selbstzeugnissen zu beleuchten. Nicht minder wichtig, insbesondere für das nationale Selbstverständnis der Minderheit, ist ein weiteres Anliegen: Die Dokumentation der wachsenden Resignation und Enttäuschung wegen der verweigerten Gleichstellung mit anderen Völkern der UdSSR, den Verlauf des erzwungenen Identitätswandels von Anhängern der Autonomiebestrebungen zu Verfechtern der Übersiedlung in die historische Heimat, nach Deutschland.
Der religiöse Samisdat der Russlanddeutschen ist an sich selbst so vielfältig und umfangreich, dass er beim begrenzten Umfang dieser Sammlung nicht berücksichtigt werden konnte. Dieses Thema verdient eine gesonderte Betrachtung.